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Zwanzigstes Kapitel

Fast jedes Land hat seine berühmten Heilquellen. Die von Taïpi liegt in tiefster Einsamkeit und wird nur selten besucht. Sie liegt fern von allen Wohnstätten, ein Stück den Berg hinauf, nahe dem Talende; man gelangt zu ihr auf einem Fußwege, der von dem herrlichsten Laubwerk beschattet und mit tausend duftenden Blumen geschmückt ist.

Die Mineralquellen von Arva Wai Man könnte dies, denke ich, mit »Starke Wasser« übersetzen. »Arva« ist der Name einer Wurzel, die sowohl berauschend als heilkräftig wirkt. »Wai« ist das Wort für Wasser in der Marquesas-Sprache. sickern aus den Spalten eines Felsens hervor, rinnen an seiner moosigen Wand herab und fallen zuletzt in großen Tropfen in ein natürliches Steinbecken, das am Rande mit Gras und tauig aussehenden kleinen violetten Blüten bewachsen ist, so frisch und schön, wie sie bei der beständigen Feuchtigkeit nur immer werden können.

Das Wasser der Quelle steht bei den Einwohnern der Insel in hohem Ansehen, einige halten es für ebenso wohlschmeckend wie heilkräftig; sie holen es in ihren Kalebassen vom Berg und bewahren es unter Haufen von Blättern in irgendeinem schattigen Winkel in der Nähe des Hauses. Der alte Marheyo liebte das Wasser sehr. Von Zeit zu Zeit schleppte er eine große runde umflochtene Kalebasse zum Berg hinauf und brachte sie, vor Anstrengung keuchend, gefüllt wieder zurück.

Das Wasser schmeckte wie eine Lösung aller möglichen unangenehmen Stoffe, so widerlich, daß, wenn die Quelle in einer zivilisierten Gegend gelegen hätte, der Besitzer ein Vermögen hätte machen können.

Ich bin kein Chemiker und nicht imstande, es wissenschaftlich zu analysieren. Ich weiß nur, daß Marheyo eines Tages in meiner Gegenwart den letzten Tropfen aus seiner großen Kalebasse schüttete, und daß ich auf dem Boden des Gefäßes eine geringe Menge eines kiesigen Niederschlags bemerkte, der ungefähr wie gewöhnlicher Sand bei uns aussah. Ob dieser Niederschlag stets vorhanden ist und dem Wasser seinen besonderen Geschmack und seine Kräfte gibt, oder ob er ein zufälliger war, wüßte ich nicht zu sagen.

Eines Tages, da ich auf einem Umweg von der Quelle zurückkehrte, sah ich etwas, das mich an Stonehenge und die Bauwerke der Druiden erinnerte.

Am Fuße eines Berges erhob sich, auf allen Seiten von dichtem Wald umgeben, eine Reihe gewaltiger Steinterrassen, die sich stufenweise an der Hügelwand hinaufzogen. Sie waren mindestens zweihundert Schritt lang und vierzig breit. Aber mehr noch als ihre Ausdehnung fiel die ungeheure Größe der Blöcke auf, aus denen sie errichtet: waren. Einige der rechteckigen Steine waren zehn bis fünfzehn Fuß lang und fünf oder sechs Fuß dick. Ihre Seiten waren vollkommen glatt, viereckig, ziemlich regelmäßig, dennoch verriet nichts, daß sie mit dem Meißel bearbeitet worden wären. Sie waren ohne Mörtel aufeinandergeschichtet; hier und da sah ich Lücken. Die oberste Terrasse und die nächste unter ihr wiesen eine Besonderheit auf. Beide hatten in ihrer Mitte eine viereckige Vertiefung, so daß der Terrassenboden um mehrere Fuß höher lag. Zwischen den Steinen hatten ungeheure Bäume Wurzel gefaßt und ihre breiten Äste waren so durcheinander gewachsen, daß die Sonne kaum durch das Laubdach dringen konnte. Über sie hin, von einem Stein zum anderen kletternd, zog sich ein Dickicht von Schlingpflanzen, so daß die Steine von ihren zähen Armen halb verborgen wurden, während an manchen Stellen dichtes Buschwerk sie gänzlich bedeckte. Ein wilder Pfad führte schräg über zwei dieser Terrassen, aber der Schatten war so tief und der Pflanzenwuchs so dicht, daß ein Fremder über ihn gehen könnte, ohne ihn zu bemerken.

Die Anlagen waren zweifellos uralt; Kory-Kory, der in allen wissenschaftlichen Fragen mein Gewährsmann war, versicherte mir, daß sie aus der Zeit der Schöpfung der Welt stammten, daß die großen Götter selbst sie erbaut hätten, und daß sie dauern würden bis ans Ende der Zeit. Kory-Korys Aufklärung, sowie daß er die Bauten auf göttlichen Ursprung zurückführte, bewies mir, daß weder er noch seine Landsleute irgend etwas darüber wußten. Als ich vor diesen Denkmälern einer ausgestorbenen und vergessenen Rasse stand, die in dem grünen Winkel einer Insel am Ende der Welt verborgen liegen, deren Existenz gestern noch unbekannt war, überkam mich ein tieferes Gefühl von ehrfürchtiger Scheu, als wenn ich am Fuß der Cheops-Pyramide gestanden hätte. Sie tragen keine Inschrift, kein Bildwerk, nichts, was einen Schlüssel zu ihrer Geschichte geben könnte: nichts ist da als stummer Stein. Wie viele Generationen der majestätischen Bäume, die sie überschatten, sind gewachsen und wieder verwittert und verfault seit ihrer ersten Anlage!

Diese Steinreste brachten mich auf mancherlei Gedanken. Sie beweisen das hohe Alter der Insel, obschon dies nicht zu allen Theorien stimmt, die man über die Entstehung der Inselgruppen der Südsee aufgestellt hat. Meiner Ansicht nach ist es ebenso wahrscheinlich, daß vor mehreren tausend Jahren Menschen die Täler der Marquesas bewohnten, wie daß sie im Lande Ägypten lebten. Nukuhiva kann keine Koralleninsel sein: wie unermüdlich dieses wundersame Tier auch schaffen mag, so kräftig kann es nicht sein, daß es Felsen bis zu dreitausend Fuß Höhe über dem Meeresspiegel aufschichtet. Daß das Land durch einen vulkanischen Ausbruch am Meeresgrund entstanden wäre, ist natürlich möglich. Niemand kann das Gegenteil beschwören, und wenn die Geologen dies vom ganzen amerikanischen Festland behaupten wollten, ich bin jedenfalls der letzte, der Widerspruch erheben dürfte.

Ich habe schon erwähnt, daß die Wohnungen der Eingeborenen stets auf massiven Steinfundamenten errichtet waren, die sie Pai-Pais nennen. Ihr Umfang sowie der der verwendeten Steine ist verhältnismäßig gering: es gibt aber andere ähnliche Anlagen, darunter die »Morais« oder Begräbnisplätze, sowie die Festplätze in fast allen Tälern der Insel, die so ausgedehnt sind und deren Errichtung solche Mühe und Kunstfertigkeit erforderte, daß ich kaum glauben kann, sie seien von den Vorfahren der gegenwärtigen Bewohner errichtet worden. Wenn es dennoch der Fall sein sollte, dann hätte die Kunstfertigkeit der Rasse einen traurigen Niedergang erlebt. Von ihrer Trägheit nicht zu sprechen, mit welchen Maschinen hätte dies einfache Volk so ungeheure Massen fortbewegen und an ihre Stelle bringen können? Wie hätten sie sie mit ihren armseligen Instrumenten zurechtmeißeln und -hämmern sollen?

All diese größeren Pai-Pais – auch das auf dem Hulah-Hulah-Grund im Taïpi-Tal – trugen unverkennbar das Zeichen hohen Alters; und wahrscheinlich wurden sie von der gleichen Rasse errichtet, von der die eben geschilderten noch älteren Baureste stammen.

Nach Kory-Korys Bericht wurde das Pai-Pai des Hulah-Hulah-Grundes vor vielen vielen Monden unter der Leitung eines großen Häuptlings und Kriegers, namens Momu, erbaut, der, wie es schien, der große Baumeister der Taïpis war. Und zwar wurde es in der unglaublich kurzen Zeit einer einzigen Sonne und zu dem gleichen Zweck errichtet, dem es heute dient; dann wurde es unter großen Festlichkeiten, die zehn Tage und Nächte währten, den unsterblichen Holzgötzen geweiht.

Aber auch unter den kleineren Pai-Pais, auf denen die Wohnhäuser der Eingeborenen stehen, sah ich keines, das erst kürzlich angelegt schien. Überall im Tal findet man eine Menge dieser massiven Steinfundamente, auf denen keine Häuser stehen. Das ist natürlich für die Leute sehr bequem, denn so oft ein veränderungslustiger Eingeborener eine neue Wohnung sucht, braucht er nur auszugehen und eines der vielen unbenutzten Pai-Pais sich auszusuchen um ohne weiteres sein Bambuszelt darauf zu errichten.


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