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Siebentes Kapitel

Als ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, weckte ich Toby und sagte ihm, welche Entdeckung ich gemacht hatte. Zusammen eilten wir an den Rand des Abgrunds, und er war nicht weniger entzückt als ich. Einiges Nachdenken sagte uns schließlich, daß wir nicht so überrascht zu sein brauchten, da die weiten Täler von Happar und Taïpi, die diesseits von Nukuhiva lagen und die tief ins Land eindrangen, ungefähr hier endigen mußten. Die Frage war nur, welches der beiden Täler wir vor uns hatten. Toby war überzeugt, daß es das von Happar sein müßte, während ich behauptete, es müsse von ihren Feinden, den wilden Taïpis, bewohnt sein. Nicht, daß ich völlig sicher gewesen wäre, aber Tobys Vorschlag, sogleich ins Tal hinabzusteigen und die Gastfreundschaft der Bewohner in Anspruch zu nehmen, schien mir so gefahrvoll, daß ich schon deshalb widersprach. Die Frage war von äußerster Wichtigkeit, denn die Eingeborenen von Happar lebten in friedlichen und freundlichen Beziehungen zu denen von Nukuhiva und standen im Ruf der Menschlichkeit, so daß wir bei ihnen eine freundliche Aufnahme, zum mindesten aber eine Unterkunft für die Dauer unseres Aufenthalts erwarten konnten. Dagegen flößte mir der Name Taïpi einen wahren Schrecken ein. Uns freiwillig in die Hände dieser grausamen Wilden zu begeben, schien mir Wahnsinn, und der Gedanke, uns in Ungewißheit, von welchem Stamm das Tal bewohnt war, hineinzuwagen, nicht minder.

Toby jedoch konnte der Verlockung nicht widerstehen, die das Tal mit seinem Reichtum an Früchten und sonstigen Genüssen für ihn hatte, und blieb bei seiner unvernünftigen Ansicht, die nicht zu erschüttern war. Vergeblich sagte ich ihm, daß wir nichts wissen konnten, und wenn wir voreilig hinabstiegen, vielleicht dem schrecklichsten Schicksal entgegengingen und unseren Irrtum zu spät einsehen würden. Er fand unsere gegenwärtige Lage und die Leiden und Schrecken der Einsamkeit nicht weniger bitter.

Um ihn abzulenken, wies ich ihm einen unbewaldeten Strich des Landes, der sich von den Höhen ins Tal vor uns senkte. Ich machte ihn auf die Möglichkeit aufmerksam, daß vielleicht jenseits dieses Kammes ein unbewohntes fruchtbares Tal lag, in dem wir vielleicht bequem bleiben konnten; denn daß es solche auf der Insel gab, hatte ich gehört.

Darauf ging er ein, und wir begannen sogleich einen Weg zu suchen; aber es blieb uns keine Wahl: vor uns lagen nur steile Kämme, mit dunklen Schluchten dazwischen, über die der Weg nach jenem Tal führte. Sie alle mußten wir übersteigen und durchqueren.

So schwer der Weg schien, beschlossen wir ihn dennoch zu versuchen, obwohl ich noch vom Fieber geschüttelt und mein Bein fast lahm war. Dazu kam die Schwäche infolge der mageren Kost, ein Ungemach, das Toby mit mir teilte. Aber eben darum sehnte ich mich, einen Ort zu erreichen, der uns Ruhe und Fülle versprach, ehe mein Zustand mich völlig unbeweglich machte. Wir begannen also sogleich die fast senkrechte Wand der nächsten Schlucht hinabzusteigen, die, steil und eng, überall von rohrartigen Halmen starrte. Es gab nur eine Art hinabzukommen. Wir setzten uns und glitten abwärts, uns am Rohr festhaltend. Das ging so schnell, daß wir bald an eine Stelle kamen, an der wir wieder die Beine gebrauchen konnten, und in kurzer Zeit am Ufer des Baches standen, der wild durch die Tiefe der Schlucht schoß. Wir erfrischten uns an einem Trunk aus dem eisigen Wasser und mußten dann an der anderen Seite der Schlucht ebenso hoch wieder hinaufklettern, was uns um so weniger Freude machte, als diese senkrechte Art zu wandern uns um keine hundert Ellen dem Ziel näher brachte. Doch so bitter dies war, wir setzten unseren mühevollen Weg mit großer Geduld fort und hatten nach anderthalb Stunden dieses Schneckengangs etwa die halbe Entfernung durchmessen, als das Fieber, das inzwischen aufgehört hatte, mit größter Heftigkeit wiederkehrte. Zugleich empfand ich so wütenden Durst, daß Toby mich nur mit Mühe und Bitten davon abhielt, die Felsenwand, die wir eben erklommen hatten, wieder hinunterzueilen, um von dem Wasser, das verlockend unten floß, zu trinken. Alles andere war mir gleichgültig geworden. Es gibt eben in der Welt keinen so unwiderstehlichen Trieb wie rasenden Durst. Toby stellte mir vor, wie bald wir am Gipfel sein würden, von dem aus wir nur fünf Minuten zum Wasser im nächsten Tale haben mußten, während keiner von uns die Energie haben würde, noch einmal heraufzuklettern, wenn wir wieder in der Tiefe wären und die steile Wand nochmals vor uns hätten.

Dies mußte ich einsehen. Wir kletterten weiter und erreichten endlich den Gipfel der zweiten Erhöhung, die die höchste unter den parallelen Wänden zwischen uns und dem Tale, nach dem wir strebten, war. Von hier konnten wir die ganze Strecke übersehen, die uns noch von ihm trennte, und was ich sah, brachte mich zur Verzweiflung. Soweit das Auge reichte, nichts als dunkle, schreckliche Abgründe, die durch scharfgratige steile Kämme getrennt waren. Hätten wir von Gipfel zu Gipfel schreiten können, die Sache wäre leicht gewesen; so aber mußten wir in jeden Abgrund hinunter und an jeder der Wände wieder emporklettern. Selbst Toby, der nicht krank war, wie ich, fühlte seinen Mut sinken.

Aber wir hielten uns nicht lange mit dem Schauen auf, ich war zu ungeduldig, an die Wasser des Gießbaches zu gelangen, der in der Tiefe vor uns floß. Mit einer Gleichgültigkeit gegen die Gefahr, die mich noch heute schaudern macht, stürzten wir uns geradezu in den Abgrund; endloses Echo aus den Schluchten brach die Stille, da bei unserem Klettern fortwährend Steine und Felsstückchen in die Tiefe rollten; wir achteten nicht darauf, wie unsicher wir Fuß fassen konnten, noch ob die dünnen Zweige und Wurzeln, an denen wir uns festhielten, unser Gewicht eine Weile trugen oder verräterisch dem Griffe nachgaben. Was mich betrifft, so weiß ich kaum, ob ich die Wand hinunterfiel oder ob die furchtbare Schnelligkeit unseres Abstiegs mein Wille war.

In wenigen Minuten hatten wir den Grund der Schlucht erreicht; auf einen schmalen Rand triefenden Gesteins hinkniend, beugte ich mich über den Bach, und nach Genuß lechzend, tauchte ich die Lippen in das klare Element. Aber wenn die Äpfel Sodoms sich in meinem Munde zu Asche gewandelt hätten, der Widerwille und die Veränderung hätten nicht plötzlicher und stärker sein können. Beim ersten Tropfen schien jeder Blutstropfen in meinen Adern zu erstarren; das Fieber, das in mir gebrannt hatte, wich tödlichem Frost, der mich immer wieder schüttelte, während der Schweiß, der von der vorhergehenden Anstrengung auf meiner Stirne stand, zu eisigen Perlen wurde. Mein Durst war vorbei; ich sprang auf, der Anblick der feuchten Felsen, von denen aus jeder Spalte Wasser troff, und der dunkle Strom, der in dem unheimlichen Grunde dahinschoß, verursachten mir neue Schüttelfröste, und ich fühlte ein ebenso unbezwingliches Verlangen, wieder ans warme Sonnenlicht emporzuklettern, wie vorher in die Schlucht hinabzusteigen.

Nach zwei Stunden gefährlichen Klimmens standen wir auf dem Gipfel des nächsten Rückens, und ich konnte es kaum glauben, daß wir aus dem schwarzen und gähnenden Spalt kamen, der zu unseren Füßen klaffte. Aber der Ausblick von der Höhe war völlig niederdrückend. Es war ganz unmöglich, den Weg in gleicher Weise fortzusetzen, und ich gab den Gedanken auf, das Tal, von dem wir durch so viele Hindernisse getrennt waren, zu erreichen. Und doch wußte ich keinen anderen Weg für uns.

Nach Nukuhiva zurückzukehren, solange wir nicht wußten, daß das Schiff fort war, dachten wir keinen Augenblick; es wäre auch fraglich gewesen, ob wir es erreicht hätten, nachdem wir einmal so weit entfernt waren, und ob wir den Rückweg gefunden hätten. Aber der bloße Gedanke, daß all die furchtbare Anstrengung umsonst gewesen sein sollte, war uns unerträglich.

So stiegen wir denn wieder an der entgegengesetzten Seite der eben erklommenen Höhe nieder, obgleich wir nicht wußten, was wir damit erreichen wollten. Denn den Plan, der uns bis hierher gelockt, hatten wir stillschweigend aufgegeben. Es brauchte keines Wortes, wir lasen es einer in dem verzagten Ausdruck des anderen. Am Ende dieses beschwerlichen Tages standen wir in der Tiefe der dritten Schlucht, völlig unfähig, uns weiterzubewegen, ehe wir uns einigermaßen durch Essen und Ruhe gestärkt hatten. Wir setzten uns an die erträglichste Stelle, die wir fanden, und Toby zog das sorgfältig geschonte Päckchen aus dem Bausch seiner Jacke. Schweigend nahmen wir den schmalen Bissen zu uns, der von unserer Frühmahlzeit übrig war; dann standen wir auf und gingen daran, uns wieder eine Schutzhütte zu errichten, unter der wir den so notwendigen Schlaf zu finden hofften.

Zum Glück war die Stelle etwas günstiger als die, an der wir die letzte elende Nacht verbracht hatten. Wir reinigten ein kleines, aber fast ebenes Stück des Bodens von den hohen Rohrhalmen, die darauf wuchsen, und flochten sie zu einer korbähnlichen Hüttenwand und einem Dach zusammen, die wir mit einer Fülle langer und dicker Blätter von einem nahen Baum bedeckten. Wir ließen nur eine kleine Öffnung frei, die uns gerade gestattete, hineinzukriechen.

Diese tiefen Schluchten sind zwar vor den Winden geschützt, die oben auf den Kämmen tosen, aber so kalt und feucht, wie man es in diesem Klima nicht für möglich halten würde; da wir nur unsere Wolljacken und dünnen Segeltuchhosen hatten, pflückten wir alle Blätter ab, die wir erreichen konnten, und häuften sie in der Hütte auf dem Boden und über dem Geflecht an, um uns so warm wie möglich zu halten. In dieser Nacht hinderte mich nur der Schmerz in meinen Beinen am Schlaf. Immerhin schlummerte ich zwei- oder dreimal ein, während Toby neben mir sich eines so gesunden Schlafes erfreute, als ob er in den feinsten Leinwandbetten gelegen hätte. Zum Glück regnete es nicht, und dieses Elend wenigstens blieb uns erspart.

Am Morgen weckte mich die volltönende Stimme meines Reisegefährten, der mir in die Ohren schrie und mich aufstehen hieß. Ich kroch aus meinem Blätterhaufen hervor und staunte, wie eine Nachtruhe ihn verändert hatte. Er war munter und fröhlich wie ein junger Vogel und beschwichtigte seinen Morgenhunger, indem er die weiche Rinde eines zarten Zweiges kaute, den er in der Hand hielt, und empfahl mir das gleiche zu tun, da es ein herrliches Mittel gegen den nagenden Hunger sei.

Ich fühlte mich zwar wohler als am Abend vorher, aber der Anblick des Gliedes, das mir in den letzten vierundzwanzig Stunden solche Schmerzen verursacht hatte, machte mich besorgt. Um die gute Laune Tobys nicht zu stören, bezwang ich mich und rief ihm vergnügt zu, das Frühstück zu bereiten, während ich mich am Bache wusch. Dann schluckten wir die Bissen, die uns für diesen Morgen zukamen, oder vielmehr wir sogen an ihnen solange wie irgend möglich, und berieten, was wir tun sollten.

»Wir müssen einfach in das Tal hinabsteigen, das wir gestern sahen«, sagte Toby so laut und kräftig, als ob er heimlich einen Rinderbraten im nächsten Gebüsch verzehrt hätte. »Was sollen wir denn sonst tun? Wenn wir hier bleiben, müssen wir verhungern; und deine Furcht vor den Taïpis ist sicher unsinnig. Die Bewohner einer so wunderschönen Gegend können nicht anders als gute Menschen sein; und wenn du in einer dieser triefenden Höhlen zu verhungern vorziehst, ich wage mich lieber auf alle Gefahr ins Tal hinab.«

»Und wer soll uns den Weg dahin zeigen,« fragte ich, »selbst wenn wir uns dazu entschließen? Sollen wir etwa die Abgründe und Kämme, über die wir gestern gekommen sind, noch einmal hinauf- und hinuntersteigen, bis wir an die Stelle kommen, von der wir ausgegangen sind, und dann von dort etwa ins Tal hinunterspringen oder fliegen?«

»Wirklich, daran habe ich nicht gedacht,« sagte Toby, »ja freilich, zu beiden Seiten des Tales waren ja wohl steile Wände?«

»Jawohl,« gab ich zur Antwort, »so steil wie die Seiten eines Kriegsschiffes und hundertmal so hoch.«

Toby ließ den Kopf auf die Brust sinken und saß eine Weile tief in Gedanken. Plötzlich sprang er auf, während seine Augen leuchteten, als wäre ihm ein glänzender Einfall gekommen.

»Ja, ja, ich hab's,« rief er aus, »die Wasser fließen alle in der gleichen Richtung und müssen notwendigerweise ins Tal kommen, bevor Sie ans Meer gelangen; wir brauchen also nur dem Bach hier zu folgen, und früher oder später muß er ins Tal führen.«

»Da hast du recht, Toby,« rief ich, »da hast du recht; und es muß uns schnell hinabführen, weil das Bett so steil ist.«

»Ja, so ist es,« brach er los, überglücklich, daß ich ihm recht gab, »es ist klar wie der Tag. Also los; gehen wir gleich, laß deine dummen Gedanken von den Taïpis fahren, und ein Hoch dem schönen Tal von Happar!«

»Ich sehe schon, mein Lieber, du willst es einmal so haben; Gott gebe, daß du dich nicht täuschest«, bemerkte ich kopfschüttelnd.

»Amen, Amen!« schrie Toby, »aber es ist Happar und muß Happar sein. Ein so herrliches Tal, solche Wälder von Brotfruchtbäumen, solche Haine von Kokosnußpalmen, solch eine Wildnis von Guajavabüschen! Ah, Maat, bleib nicht zurück, ich vergehe vor Gier nach all diesen herrlichen Früchten. Komm, komm, sei munter, vorwärts! Kümmere dich nicht um die Felsen, stoß sie beiseite wie ich; und morgen, alter Junge, mein Wort darauf, sitzen wir im Klee. Komm! vorwärts!« Und damit stürzte er wie wahnsinnig die Schlucht entlang und vergaß völlig, daß ich unmöglich Schritt halten konnte. Nach wenigen Minuten war er jedoch bereits ruhiger geworden und hielt eine Weile an, so daß ich ihn einholte.


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