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Fünftes Kapitel

Früh am nächsten Morgen stand die Steuerbordwache auf dem Achterdeck gereiht und der Kapitän hielt vom Kajütengang aus folgende Ansprache:

»Nun, Leute, da wir sechs Monate Kreuzerfahrt hinter uns haben und der größte Teil der Arbeit im Hafen getan ist, nehme ich an, daß ihr an Land gehen wollt. Gut, eure Wache soll heute Urlaub haben, und sobald ihr wollt, könnt ihr euch fertigmachen und gehen. Aber wohlverstanden, ich gebe euch Urlaub, weil ihr brummen würdet wie alte Kanoniere, wenn ich es nicht täte; wenn ihr aber meinem Rat folgt, so bleibt jeder Mutter Sohn an Bord und geht den blutigen Kannibalen aus dem Wege. Denn zehn zu eins, Leute, wenn ihr an den Strand geht, werdet ihr in irgendeine höllische Streiterei kommen, und dann ist's aus mit euch; denn wenn die tätowierten Halunken euch nur ein kleines Stück in ihr Tal hineinkriegen können, dann fangen sie euch ab, des könnt ihr gewiß sein. Viele weiße Männer sind hier ans Land gegangen, und man hat sie nie wiedergesehen. Erst vor zwei Jahren ist die alte ›Dido‹ hier eingelaufen und eine Wache ging auf Urlaub; eine Woche lang hörte man nichts von ihnen, die Eingeborenen schwuren, sie wüßten von nichts; nur drei von ihnen kamen je wieder an Bord, und dem einen war das Gesicht für immer entstellt, denn die verfluchten Heiden hatten ihm einen breiten Fleck hineintätowiert. Aber ich sehe schon, es ist zwecklos zu reden, denn ihr wollt ans Land; ich will euch also nur noch das eine sagen: meine Schuld ist's nicht, wenn die Kerle euch fressen. Vielleicht kommt ihr noch durch, wenn ihr in der Nähe des französischen Lagers bleibt und vor Sonnenuntergang wieder an Bord seid. Denkt daran, wenn ihr auch alles andere, was ich euch jetzt gesagt, vergeßt. Also los, rührt euch und macht euch klar zum Anlaufen! Nach zwei Glasen wird ein Boot bemannt, um euch an Land zu setzen, und Gott sei euch gnädig!«

Die Steuerbordwache hörte diese Rede schweigend an. Aber auf den Gesichtern drückten sich die verschiedensten Empfindungen aus. Sogleich nachher strömten alle nach dem Vorderkastell und machten sich trotz der Warnungen des Schiffers bereit. Über seine Rede sprachen sie sich recht offen aus; einer nannte ihn ein verfluchtes Lügenmaul und elenden Sohn eines Seekochs, der einem Kerl die wenigen Stunden Urlaub nicht gönnte; mit einem Fluch rief er: »Aber mich bringst du nicht darum, alter Kerl, mit all deinem Garn; und wenn jede Scholle am Ufer eine glühende Kohle wäre, und jeder Stock ein Bratspieß und die Kannibalen bereit stünden, mich gleich beim Landen zu rösten, ich ginge doch!«

Alle waren der gleichen Meinung, und wir beschlossen, uns trotz dem Gekrächze des Schiffers einen herrlichen Tag zu machen.

Toby und ich jedoch, die unser eigenes Spiel spielen wollten, nutzten die Verwirrung, die immer in einer Schiffsmannschaft herrscht, bevor an Land gegangen wird, um zu beraten und unsere Vorbereitungen zu treffen. Da wir so rasch als möglich in die Berge wollten, beschlossen wir, nichts Überflüssiges mitzunehmen. Daher kamen wir, während die übrigen sich schmuck machten, in festen neuen Segeltuchhosen, tüchtigen Schuhen und schweren Havrejacken und einem Paytahut.

Als die anderen sich darüber wunderten, sagte Toby in seiner drollig-ernsthaften Art, sie könnten machen, was sie wollten, er aber hebe seinen guten Landanzug für die spanische Küste auf, wo es auf einen besseren Matrosenknoten ankommen könnte; für einen Haufen unbehoster Heiden werde er seinen Koffer nicht umstürzen; eigentlich hätte er Lust, selbst bloß mit seiner Haut bekleidet unter sie zu gehen. Die Leute hielten dies für einen seiner komischen Einfälle und lachten nur. Wir hätten uns ihnen nicht anvertrauen dürfen; es waren einige unter ihnen, die, wenn sie nur die leiseste Ahnung von unserem Vorhaben gehabt hätten, es für die geringste Hoffnung auf Lohn augenblicklich dem Kapitän mitgeteilt hätten.

Sowie zwei Glasen schlugen, erhielten die für den Urlaub bestimmten Leute Befehl, sich ins Boot zu begeben. Ich verweilte einen Augenblick im Vorderkastell, um einen Abschiedsblick darauf zu werfen, und eben, als ich auf Deck gehen wollte, fiel mein Blick auf die Brotback und die Fleischschüssel, die die Reste unserer letzten eiligen Mahlzeit enthielten. Obschon ich nie vorher daran gedacht hatte, uns für unseren Weg mit Nahrungsmitteln zu versehen, weil ich mich vollkommen auf die Baumfrüchte der Insel verließ, konnte ich jetzt doch nicht der Versuchung widerstehen, einen Teil dieser Reste für die nächste Mahlzeit mitzunehmen. Ich faßte also zwei Handvoll des kleinen, zerbröckelten, steinharten Zwiebacks, den man »Seekadettennüsse« nennt, und barg sie im Bausch meiner Jacke, in dem ich bereits vorher mehrere Pfund Tabak und ein paar Ellen Baumwolltuch untergebracht hatte, Dinge, mit denen ich mir das Wohlwollen der Eingeborenen zu erkaufen gedachte, wenn wir nach der Abfahrt des Schiffes uns unter sie begaben. Die etwas auffallende Anschwellung, die durch den letzten Nachschub entstand, verringerte ich, indem ich die Brotbröckel rund um mich herumschüttelte und auch die Tabakklumpen besser verteilte.

Ich war kaum damit fertig, als ein Dutzend Stimmen meinen Namen rief; ich eilte auf Deck, wo ich alle schon im Boot fand, ungeduldig abzustoßen. Ich ließ mich über den Schiffsrand hinab und nahm mit den übrigen unserer Wache auf den Achtersitzen Platz, während die armen Backbordleute ihre Riemen einlegten und uns an den Strand zu pullen begannen.

Es war just die Regenzeit auf den Inseln, und den ganzen Morgen hatte einer jener schweren Schauer gedroht, die in dieser Zeit so häufig sind. Bald nachdem wir das Schiff verlassen hatten, fielen große Tropfen klatschend aufs Wasser, und als wir landeten, goß es in Strömen. Wir suchten unter dem Dach eines ungeheuren Bootshauses Schutz, das hart am Strand stand, und wollten die erste Wut des Wetters vorübergehen lassen.

Es hörte indessen nicht auf; das einförmige Aufschlagen des Regens über uns begann die Leute schläfrig zu machen, sie warfen sich hier und da auf die großen Kriegskanus, schwatzten noch eine Weile und schliefen dann sämtlich ein.

Das bot uns die erwünschte Gelegenheit; wir schlichen uns aus dem Kanuhause und flohen in die Tiefe eines ziemlich ausgedehnten Palmenhains, der hinter ihm lag. Nach zehn Minuten schnellsten Gehens kamen wir an eine offene Stelle, von der aus wir den Rücken, den wir ersteigen wollten, trüb durch den Nebel des tropischen Regens erkennen konnten; die Entfernung dahin schätzten wir auf etwas über eine Meile. Der gerade Weg hätte uns durch einen ziemlich bevölkerten Teil der Bucht geführt; da wir jedoch den Eingeborenen ausweichen und ungesehen und unbehelligt in die Berge gelangen wollten, so beschlossen wir, lieber einen Umweg durch das Dickicht zu machen.

Der schwere Regen fiel unaufhörlich weiter und begünstigte unser Unternehmen; denn die Inselbewohner hielten sich alle in ihren Häusern, und wir begegneten niemandem. Unsere dicken Jacken waren bald vom Wasser durchtränkt, und ihr Gewicht und das der Sachen, die wir darunter versteckt hatten, hinderte uns nicht wenig. Aber wir eilten weiter, denn wir fürchteten jeden Augenblick von einer Schar von Wilden überrascht zu werden und unser Unternehmen gleich im Beginn aufgeben zu müssen.

Nach dem Verlassen des Bootshauses hatten wir kaum eine Silbe miteinander gesprochen, aber als wir jetzt eine zweite schmale Lichtung im Wald erreichten und den Hügelrücken wieder vor uns sahen, faßte ich Toby am Arm, wies nach seinem ansteigenden Kamm bis zu den mächtigen Höhen am oberen Ende und sagte leise: »Jetzt, Toby, kein Wort, keinen Blick zurück, bis wir da droben auf dem Gipfel stehen; jetzt so schnell als möglich vorwärts, und in ein paar Stunden können wir lachen. Du bist der Leichtere und der Gewandtere, also geh du voran, und ich folge.«

»Recht, Bruder,« sagte Toby, »schnell sein heißt die Parole, aber wir wollen uns dicht aneinanderhalten.« Und nachdem er das gesagt hatte, setzte er mit einem Sprung wie ein junges Reh über einen Bach, der quer über unseren Weg lief, und eilte vorwärts.

Als wir nicht mehr weit vorn Kamm entfernt waren, stießen wir auf ein Hindernis: hohes gelbes Rohr wuchs vor uns, so zäh und fest wie stählerne Ruten und so dicht, als es überhaupt beisammenstehen konnte; und zu unserem Leidwesen sahen wir, daß es den Abhang bis etwa in halber Höhe bedeckte.

Vergeblich sahen wir uns nach einem Weg um; wir mußten erkennen, daß uns nichts übrigblieb, als durch dieses Rohrdickicht zu dringen. Nun übernahm ich als der Schwerere die Führung, um uns einen Weg zu bahnen, und Toby folgte. Zuerst versuchte ich mich zwischen den Halmen durchzuzwängen, sie beiseitezubiegen, es gleichsam in Güte zu versuchen; aber ebensogut hätte ein Ochsenfrosch seinen Weg durch die Zähne eines Haarkamms nehmen können, und ich gab es verzweifelt wieder auf. Wütend über ein so unerwartetes Hindernis, warf ich mich dagegen und drückte das Rohr nieder, trat über die liegenden Halme und wiederholte dann das gleiche Manöver. So drangen wir ein wenig in das Dickicht ein; nach zwanzig Minuten war ich ganz erschöpft, und Toby, der mir bisher einfach gefolgt war, übernahm die Führung. Aber sein schlanker Körper machte nicht viel Eindruck, und so mußte ich wieder an die Front. Der Schweiß brach uns in Strömen aus, unsere Kleider wie unsere Haut waren von den scharfen absplitternden Bruchstücken des Rohrs zerrissen und zerfetzt. Wir waren bis etwa in die Mitte des Dickichts gekommen, als der Regen plötzlich aufhörte und die Atmosphäre unerträglich schwül und erstickend wurde. Elastisch wie das Rohr war, richtete es sich alsbald wieder auf und umschloß uns von allen Seiten, so daß die Luftlosigkeit uns zu ersticken drohte. Es wuchs auch so hoch, daß wir gar keinen Ausblick hatten und nicht einmal wußten, ob wir nicht die ganze Zeit uns nach der falschen Richtung bewegten.

Ich war völlig übermüdet und stand keuchend da, unfähig, irgend etwas zu tun. Ich rollte den Ärmel meiner Jacke auf und drückte das Regenwasser daraus in meinen ausgetrockneten Mund. Aber die wenigen Tropfen halfen mir nicht viel, und einen Augenblick warf ich mich gleichgültig und mutlos hin; da hatte Toby einen Einfall, der uns Luft machte. Er zog sein großes Messer aus der Scheide und mähte damit die Halme rechts und links ab wie ein Schnitter, so daß bald eine Lichtung um uns entstand. Von diesem Anblick belebt, zog ich auch mein Messer und schlug erbarmungslos um mich. Aber ach, je weiter wir eindrangen, desto dichter und höher wuchs das Rohr, und das Dickicht schien endlos. Ich begann schon zu glauben, daß wir hoffnungslos in die Falle gegangen und ohne Flügel nie wieder herauskommen würden, als ich plötzlich durch das Rohrdickicht rechts von mir Licht sah. Nun mähten wir beide mit frischen Kräften weiter, öffneten uns einen Weg und waren im Freien und ganz nahe am Kamm.

Wir ruhten einige Augenblicke aus, dann erreichten wir nach einigem tüchtigen Klettern die Höhe. Wir gingen aber nicht den Kamm entlang, auf dem die Wilden im Tal uns hätten von unten sehen und, wenn sie gewollt, uns leicht an irgendeiner Stelle den Weg abschneiden können, sondern wir krochen vorsichtig am Abhang entlang, wo das hohe Gras uns verbarg, durch das wir wie zwei Schlangen glitten. Als wir uns etwa eine Stunde in dieser unbequemen Weise fortbewegt hatten, erhoben wir uns und schritten kühn über den Grat weiter. Es war einer der Ausläufer der Höhen, die die Bucht umschlossen; er erhob sich in scharfem Winkel aus den Tälern an seinem Fuß und bildete, von einigen steilen Stellen abgesehen, eine weite schiefe Ebene, die von den entfernten Höhen zum Meer niederstieg. Wir hatten ihn beinahe an seinem Ende, wo er am niedrigsten war, bestiegen, und unser Weg nach den Bergen ging deutlich den Kamm entlang, der mit einem Teppich von sanftem Grün bedeckt und an vielen Stellen nur wenige Fuß breit war.

Stolz auf den bisherigen Erfolg und gestärkt von der frischen Luft, die wir atmeten, eilten Toby und ich rasch und wohlgemut aufwärts, als wir plötzlich aus den Tälern, die zu beiden Seiten unter uns lagen, das ferne Geschrei der Eingeborenen hörten, die uns eben entdeckt hatten; unsere Gestalten, die sich scharf vom Himmel abhoben, mußten ihnen ganz deutlich sichtbar sein. Wir sahen sie unten aufgeregt hin und her eilen; sie erschienen uns wie winzige Zwerge, und ihre weißen blätterbedeckten Wohnungen sahen wie Puppenhäuser aus. Wir fühlten uns sicher; selbst wenn sie an eine Verfolgung gedacht hätten, mußte sie bei dem Vorsprung, den wir hatten, ergebnislos bleiben, es wäre denn, sie verfolgten uns bis in die Berge, und das, wußten wir wohl, wagten sie nicht. Immerhin wollten wir die Zeit nutzen und liefen, wo der Boden es gestattete, rasch die Höhe entlang, bis ein steiler Fels uns Halt zu gebieten schien. Aber mit harter Kletterarbeit, bei der wir mehrmals Gefahr liefen, den Hals zu brechen, überstiegen wir ihn und setzten unsere Flucht fort.

Wir hatten den Strand am frühen Morgen verlassen, und nach ununterbrochenem, manchmal schwierigem und gefährlichem Steigen standen wir, etwa drei Stunden vor Sonnenuntergang, auf einem Gipfel, der der höchste der Insel zu sein schien. Es war ein ungeheurer überhängender Basaltfelsen, der mit Schmarotzerpflanzen bewachsen war. Wir mußten uns mehr als dreitausend Fuß über Seehöhe befinden, und die Landschaft, die wir erblickten, war von unerhörter Herrlichkeit.

Die einsame Bucht von Nukuhiva, auf der wie schwarze kleine Flecken die Schiffe des französischen Geschwaders zu sehen waren, lag am Fuß der sie kreisförmig umgebenden Höhen; ihre grünenden Abhänge, von tiefen Schluchten durchbrochen, die mit lachenden Tälern abwechselten, boten den lieblichsten Anblick; wenn ich hundert Jahre alt würde, das Gefühl entzückter Bewunderung, das ich damals empfand, würde ich niemals vergessen.


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