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Zwölftes Kapitel

Ein weiteres Jahr meines Daseins schwand rasch dahin. Ich war bald dreizehn alt, ein stämmiger, starker Junge und ganz geeignet für das Seemannsgewerbe, das ich jetzt entschieden für meinen Beruf betrachtete. Die Schule war mir nach und nach entleidet, und ich wunderte mich sehr, warum Kapitän Delmar nichts von sich hören ließ, da man doch von andern Seiten her Nachricht erhielt.

Eines Morgens erschien Kapitän Bridgeman weit früher, als gewöhnlich, und mit besonders ernstem Gesicht. Ich war noch nicht in die Schule gegangen und eilte auf ihn zu; er aber wehrte mich ab und sagte, er müsse sogleich meine Mutter sehen, da er ihr eine sehr wichtige Neuigkeit mitzutheilen habe.

Ich ging hinein, um meiner Mutter die Meldung zu machen, worauf diese Kapitän Bridgeman ersuchen ließ, in die Wohnstube zu kommen. Da sie noch nichts von der beabsichtigten Mittheilung wußte, so schickte sie Tante Milly und mich in den Laden, wo wir einige Minuten warteten; dann kam Kapitän Bridgeman wieder heraus.

»Was gibt's?« fragte Milly.

»Lesen Sie diese Zeitung,« antwortete er. »Sie enthält einen Bericht aus Indien, welcher Ihnen über das Ganze Aufschluß geben wird. Sie mögen ihn auch Ihrer Schwester mittheilen, wenn sie gefaßter ist.«

Neugierig, zu erfahren, was vorgefallen sein konnte, verließ ich den Laden und ging in das Wohnzimmer, wo meine Mutter ihr Gesicht in den Sophakissen begraben hatte und augenscheinlich in großer Betrübniß war.

»Was gibt es, Mutter?« fragte ich.

»O mein Kind, mein Kind!« entgegnete meine Mutter, die Hände ringend, »du bist eine Waise, und ich bin eine verlassene Wittwe.«

»Warum das?« fragte ich.

»Warum das?« versetzte meine Großmutter. »Ei, bist du denn so dumm, um hieraus nicht zu entnehmen, daß dein Vater todt ist?«

»Wie, der Vater ist todt?« entgegnete ich. »Da will ich doch hingehen und es Tante Milly sagen.«

Ich verließ dann die Wohnstube und ging zu Milly hinaus, welche eben die Zeitung las.

»Tante,« sagte ich, »denke nur, der Vater ist todt! Ich möchte nur wissen, wie er starb.«

»Er ist in einem Treffen geblieben, mein Lieber,« versetzte meine Tante. »Sieh her! da ist der Bericht davon, wie auch die Liste der Getödteten und Verwundeten. Siehst du den Namen deines Vaters – Benjamin Keene, Seesoldat!«

»Laß mich das Ganze lesen, Tante Milly,« entgegnete ich, das Zeitungsblatt nehmend; und bald war ich in den Bericht über das Treffen vertieft.

Der Leser darf nicht glauben, daß ich kein Gefühl hatte, weil ich keines bei dem Tode meines Vaters zeigte. Wenn man die untergeordnete Stellung bedenkt, worin ich meinen Vater immer gesehen hatte, der es nicht einmal wagen durfte, sich in die Gesellschaft derer einzudrängen, mit welchen meine Mutter und ich auf vertraulichem Fuße standen – wenn man ferner in Erwägung zieht, daß er von meiner Mutter, die mir durch ihr Beispiel weder Furcht noch Liebe zu ihm einflößte, nicht anders, als wie ein Diener behandelt wurde, so kann man sich leicht vorstellen, daß ich bei seinem Tode weit weniger fühlte, als wenn Kapitän Bridgeman oder so mancher Andere meiner Freunde gestorben wäre.

Was mich indeß wirklich verblüffte, war, daß meine Mutter bei dieser Gelegenheit so viel Schmerz zeigte. Ich kannte freilich damals die Welt noch nicht, und daß der Anstand eine gewisse Ostentation von Betrübniß fordere. Tante Milly schien sehr gleichgültig darüber zu sein, obgleich sie sich hin und wieder sehr in Gedanken vertiefte. Ich legte die Zeitung nieder, sobald ich den Bericht gelesen hatte, und sagte zu ihr:

»Nun, ich werde jetzt wohl in die Schule müssen, Tante.«

»O nein, mein Lieber,« versetzte sie, »du kannst vor ein paar Tagen nicht wieder in die Schule gehen; es würde sich nicht schicken. Du mußt zu Hause bleiben und warten, bis du einen Traueranzug hast.«

»Ei, da lasse ich mir's schon gefallen,« erwiederte ich. »Ich wundere mich nur, wo Kapitän Delmar bleibt, und warum er nicht nach mir schickt. Der Schulbesuch ist mir nachgerade gewaltig entleidet.«

»Ich zweifle nicht, daß du ehestens von ihm hören wirst, mein Lieber,« entgegnete meine Tante. »Bleibe da, und gib auf den Laden Acht, während ich zu Deiner Mutter gehe.«

Offen gestanden, ich fürchte, daß Ben's Tod allen damals in der Wohnstube Versammelten Anlaß gab, sich Glück zu wünschen – und was mich betraf, so war ich froh, einige Tage Vakanz zu haben, ohne mich auch nur im Geringsten zu bekümmern, ob er lebte oder todt war.

Als ich hineinging, wurde eben die Trauerkleidung berathen. Meine Mutter wünschte nicht, wegen eines Gatten, dessen sie sich geschämt hatte, besondere Parade zu machen, und dann war ihr auch die Wittwentracht nebst der nicht gut lassenden Haube zuwider. Die Entscheidung lief darauf hinaus, daß man bloß der Halbtrauer bedürfe, weil Ben schon seit sechs Monaten todt war, und wenn man es zuvor gewußt, so hätte man diese ganze Zeit über Trauer getragen. Für meine Person wurde gar keine Trauerkleidung für nöthig erachtet.

Drei Tage, nachdem diese Nachricht eingelaufen, erschien meine Mutter wieder im Laden. Der Grund, warum sie nicht früher erschienen, lag darin, daß ihr Anzug noch nicht fertig war. Sie nahm sich in der That allerliebst in der Halbtrauer aus, und ein Gleiches war bei Tante Milly der Fall, welcher jetzt das Marinecorps, namentlich aber Kapitän Bridgeman und Lieutenant Flat, angelegentlichere Aufmerksamkeit zollten, als je.

Da Ben's Tod die große Schwierigkeit, welche einer Verheiratung meiner Tante mit einem Offizier im Wege stand, weggeräumt hatte, so schien meine Großmutter entschlossen zu sein, sich über Kapitän Bridgeman's Absichten Gewißheit einzuholen, und, im Falle diese nicht reell erfunden würden, Milly zu überreden, daß sie sich's gefallen ließ, Mrs. Flat zu werden. Ob sie dabei meine Mutter oder Tante zu Rathe zog, kann ich nicht mit Entschiedenheit behaupten, obschon ich vermuthe, daß es nicht der Fall war.

Meine Mutter und Tante waren eines Abends auf einem Spaziergange, als Kapitän Bridgeman hereinkam. Meine Großmutter, die den Laden zu hüten pflegte, wenn meine Mutter und Milly mit einander ausgingen (was jedoch sehr selten geschah), bat ihn, in das Hinterstübchen zu treten, und beauftragte mich, in dem Laden zu bleiben, und sie zu rufen, wenn man etwas verlange.

Nun stand aber, während sie drinnen waren, die Thüre halb offen, und da ich im Hintergrunde des Ladens blieb, so fehlte es nicht, daß ich alle ihre Worte hören konnte; denn meine Großmutter war sehr schwerhörig, und sprach, wie die meisten schwerhörigen Leute, eben so laut, als der Kapitän sprechen mußte, um sich ihr verständlich zu machen.

»Ich wünsche, Kapitän Bridgeman, Ihren freundlichen Rath hinsichtlich meiner Tochter Amelia zu hören,« sagte die alte Frau. »Nehmen Sie doch gefälligst Platz.«

»Wenn ich dabei eine Meinung abgeben kann, Madame, so werde ich es mit Freuden thun,« versetzte der Kapitän, indem er sich der Aufforderung gemäß niederließ.

»Sie sehen, meine Tochter Amelia ist gut erzogen, hat eine sorgfältige Bildung genossen, und ein Gleiches hat auch meine Tochter Arabella der Freundlichkeit meiner alten Gönnerin, der Miß Delmar, zu danken. Miß Delmar ist die Tante des ehrenwerthen Kapitän Delmar, den Sie oft hier getroffen haben, und der dereinst den Titel der Versely erben wird – das heißt, sein ältester Bruder ist kinderlos. Ich bin beinahe fünfzig Jahre die Vertraute der Familie gewesen, Kapitän Bridgeman. Der alte Lord war meinem Gatten, der sein Hausmeister war, sehr gewogen, – aber er starb, der arme Mann, schon gar lange. Ich bin überzeugt, es würde ihm das Herz gebrochen haben, wenn meine Tochter bei seinen Lebzeiten das eheliche Bündniß mit einem gemeinen Seesoldaten eingegangen hätte. Indeß zu geschehenen Dingen muß man das Beste reden, wie es im Sprüchworte heißt – das ist jetzt Alles vorbei.«

»Es ist allerdings recht schade, daß Mrs. Keene so thöricht sein konnte,« versetzte Kapitän Bridgeman; »aber wie Sie sagen, das ist jetzt vorbei.«

»Ja; Gottes Wille geschehe, Kapitän Bridgeman. Sie sehen jetzt, Sir, daß diese Heirath Bella's den Aussichten ihrer Schwester Amelia nicht gut gethan hat, trotzdem, daß sie ein braves und hübsches Mädchen ist, obgleich ich ihr als Mutter dieses Lob spende. Außerdem wird sie ihrem Gatten, wer er auch sein mag, einen hübschen Penny zubringen, denn sehen Sie, Kapitän Bridgeman, mein Mann war während seiner Dienstzeit in der Familie Delmar nicht müssig, und da ihre Schwester ein so gutes Auskommen hat, warum sollte die kleine Amelia nicht sogar noch einen größeren Theil abkriegen, als sonst der Fall wäre – das heißt, wenn sie sich gut und nach den Wünschen ihrer Mutter verheirathet.«

Bei diesem interessanten Theile des Gespräches beugte sich Kapitän Bridgeman noch angelegentlicher gegen meine Großmutter hinüber.

»Einen hübschen Penny, Madame, sagten Sie? Ich habe diesen Ausdruck nie gehört. Was verstehen Sie unter einem hübschen Penny?«

»Ich verstehe darunter erstlich und letztlich viertausend Pfund, Kapitän Bridgeman – die eine Hälfte als Mitgift, die andere, wenn ich sterbe.«

»In der That,« versetzte Kapitän Bridgeman, »ich habe wahrhaftig nie daran gedacht, daß Miß Amelia je zu Vermögen kommen würde. Sie ist auch viel zu hübsch und gebildet, um welches zu brauchen.«

»Nun, Sir, fuhr meine Großmutter fort, »der Hauptpunkt, über den ich Ihren Rath hören möchte, besteht darin: – Sie wissen, daß Lieutenant Flat sehr oft hier ist, und seit geraumer Zeit meiner Tochter viele Aufmerksamkeiten erweist. Auch hat er ihr, glaube ich, bereits so eine Art von Antrag gemacht – Sie wissen, wie es eben in seiner Weise ist – aber meine Tochter scheint sich nicht um ihn zu kümmern. Mr. Flat ist nun freilich kein sehr aufgeweckter Kopf, Kapitän Bridgeman, aber ich halte ihn demungeachtet für einen sehr würdigen jungen Mann. Indeß kann man nicht vorsichtig genug sein, und ehe ich mich in die Sache menge und meiner Tochter zuspreche, ihn zu heirathen, möchte ich Ihre Ansicht hören, ob Sie glauben, Mr. Flat's Charakter sei von der Art, daß eine Frau glücklich mit ihm fahren möge; denn sehen Sie, Kapitän Bridgeman, Liebe vor der Hochzeit verraucht gerne wieder, aber Liebe nach der Hochzeit dauert für das ganze Leben aus.«

»Nun, Madame,« entgegnete der Kapitän, »ich will aufrichtig gegen Sie sein. Ich glaube nicht, daß ein so aufgewecktes Mädchen, wie Miß Amelia ist, als Gattin meines guten Freundes, Mr. Flat, glücklich sein kann. Indeß ist durchaus nichts gegen seinen Charakter einzuwenden, Madame. Ich halte ihn für harmlos – für sehr harmlos.«

»Er ist ein gar hübscher junger Mann, Kapitän Bridgeman.«

»Ja; an seiner Außenseite ist nichts auszusetzen.«

»Gar gutmüthig.«

»Ja; auch von keinem sehr schnellen Temperament oder sonst von schnellem Wesen. Er ist, was wir eine langsame Kutsche nennen.«

»Ich höre, er sei als Offizier sehr tüchtig, Kapitän Bridgeman?«

»Ja. Ich kann mich nicht erinnern, daß er je im Arrest gesessen hätte.«

»Nun, wir können in dieser Welt nichts Vollkommenes verlangen. Er ist schön, gutmüthig und ein guter Offizier. Ich kann gar nicht begreifen, warum ihn Amelia nicht mag, zumal, da ihre Neigung nicht anderweitig gefesselt ist. Ich bin durch die Antwort, die Sie mir gegeben haben, ganz zufrieden gestellt, Kapitän Bridgeman, und will Amelia jetzt bemerklich machen, daß ich von ihr erwarte, sie werde einmal zu einem Entschluß kommen, und Mr. Flat das Jawort geben.«

Hier stockte Kapitän Bridgeman.

»Allerdings, Madame, wenn ihre Neigung nicht anderweitig gefesselt ist – ich sage – nicht gefesselt ist, Madame, so glaube ich, daß sie nichts Besseres thun kann. Würden Sie nichts dagegen haben, wenn ich Miß Amelia über diesen Punkt aushole?«

»In der That, Kapitän Bridgeman, es ist sehr freundlich von Ihnen. Sie sind vielleicht im Stande, sie zu bereden, daß sie Ihren Freund, Mr. Flat, erhört.«

»Ich will jedenfalls über ihre wahren Gesinnungen Gewißheit einholen, Madame!« sagte der Kapitän aufstehend, »und wenn Sie erlauben, so verabschiede ich mich vor der Hand.«

Wie meine Großmutter geahnet hatte, so gab der Tod meines Vaters Ben, und das unerwartete Vermögen von viertausend Pfund Kapitän Bridgeman's schwankender Wagschale den Ausschlag. Er brachte den andern Tag seine Werbungen an, erhielt das Jawort, und sechs Wochen nachher war Tante Milly seine Gattin.

Bei der Hochzeit ging es sehr fröhlich zu. Einige Leute stichelten zwar über die Verbindung, aber wo gäbe es eine Verehelichung ohne Spottreden? Man findet stets und allenthalben Leute, welche Andere um ihr Glück beneiden. Einige schwatzten von dem gemeinen Seesoldaten: diesem Angriff wurde jedoch mit den viertausend Pfunden (oder vielmehr mit achttausend Pfund per annum, denn das Gerücht hatte, wie gewöhnlich, die Summe verdoppelt,) begegnet. Andere meinten, der Laden sei infra dignitatem: diesem Einwurfe wurde die Erziehung und Schönheit der Braut entgegen gehalten. Ein paar Subalternoffiziersfrauen erklärten, daß sie Mrs. Bridgeman nicht besuchen würden; als aber der Obrist und seine Gattin dem neuvermählten Paare eine Gratulationsvisite machten, und zu Ehren desselben eine große Gesellschaft in ihrem eigenen Hause zusammenbaten, so gaben die Subalternoffiziersfrauen so bald als möglich ihre Karten ab.

In ein paar Wochen war Alles wieder in Ordnung. Meine Mutter mochte ihren Laden nicht aufgeben, da er zu einträglich war. Sie stand auf einem sehr vertraulichen Fuße mit ihren Kunden, und als die Leute fanden, daß meine Mutter, trotzdem, daß sie einen Kapitän zum Schwager hatte, zu verständig war, um sich ihrer Stellung zu schämen, so schätzte man sie nur um so mehr. Da sie noch immer sehr hübsch und jetzt Wittwe war, so machten ihr ein paar Marineoffiziere den Hof: meine Mutter hatte jedoch keine Neigung, sich abermals in den heiligen Ehestand zu begeben, sondern zog es vor, in statu quo zu verbleiben. Sie hatte jetzt nur noch für mich zu sorgen, und für mich führte sie ihren Laden und ihre Bibliothek fort, obgleich ich glaube, daß sie sich ein recht anständiges, unabhängiges Leben hätte verschaffen können, wenn sie gewollt hätte.

Was meine Mutter auch als Mädchen gewesen sein mochte – jetzt war sie eine verständige, thatkräftige Frau. Der Entschluß, mich zur See gehen zu lassen, hatte sie wohl einen schweren Kampf gekostet, denn ich war ihr einziges Kind, ihre einzige Sorge, und ich glaube, daß sie mich aufrichtig liebte, obschon sie nicht so freigebig mit ihren Liebkosungen war, wie Tante Milly. Sie bemerkte indeß, daß Kapitän Delmar's Schutz und Gönnerschaft nur zu meinem eigenen Vortheil ausschlagen könne, weßhalb sie die Wünsche ihres Herzens meinem Wohle zum Opfer brachte.

*

 


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