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Viertes Kapitel

Sobald ich mit Ben die Hausthüre im Rücken hatte, blickte ich zu ihm auf und fragte: –

»Vater, wohin gehen wir?«

»Ich bringe dich in eine Schule,« lautete seine Antwort.

»Schule? Warum soll ich denn in eine Schule gehen?« versetzte ich.

»Erstlich, glaube ich, weil du deine Großmutter gebissen, und dann, damit du ein Bischen lernest und tüchtig gepeitscht werdest, wenn anders wahr ist, was die Leute sagen; ich selbst bin nie in einer Schule gewesen.«

»Was lernt man denn da, und warum soll man gepeitscht werden?«

»Man lernt lesen, schreiben und rechnen – Dinge, von denen ich leider nichts verstehe; und gepeitscht wird man, weil ohne die Peitsche kleine Knaben nichts lernen können.«

Dieß war eine sehr befriedigende Erklärung. Ich stellte keine weiteren Fragen, sondern ging an Ben's Seite schweigend meines Weges, bis wir an der Thüre des Schulhauses anlangten, in dessen Innerem ein gewaltiges Getümmel war. Ben klopfte, worauf die Thüre aufging und ein Qualm heißen Dunstes herausbrach, da alle frische Luft in Wiederholung der neuen Aufgaben für den Tag verzehrt worden war. Ben ging zwischen den Subsellien vorwärts und stellte mich vor den Schulmeister, einen armen irischen Gelehrten, der Thadeus O'Gallagher hieß und eine Anstalt für Tagschüler eröffnet hatte, in der vierteljährig eine halbe Guinee für den Kopf bezahlt werden mußte. Er galt als ein sehr strenger Herr, und die Kinder wurden in seinem Institute besser in Ordnung erhalten, als in irgend einer andern derartigen Anstalt der Stadt. Ich vermuthete daher, daß meine Großmutter zuvor die geeigneten Erkundigungen eingezogen hatte, denn es befanden sich ein paar ähnliche Schulen weit näher bei der Wohnung meiner Mutter. Ben, der wahrscheinlich nur deßhalb einen so großen Respekt vor der Gelehrsamkeit hatte, weil er selbst nichts gelernt hatte, machte vor Mr. O'Gallagher eine militärische Salutation und sprach, die Hand noch immer am Hut belassend:

»Ich bringe einen neuen Knaben in die Schule.«

»Oh, alle Welt! Sollte ich den nicht kennen?« rief Mr. O'Gallagher. »Ja, es ist das junge Herrlein, das seiner Großmutter ein Loch in den Leib gebissen hat – Master Keene heißt er, glaube ich. Hat jedenfalls kühne Zähne. Lassen Sie ihn nur hier – und da in dem Korb ist vermutlich sein Mittagbrod? Lassen Sie auch dieß da. Er wird bald ein guter Knabe sein, oder es gibt ein Platzen.«

Ben setzte den Korb nieder, machte rechts um und verließ das Schulzimmer, während ich vor dem Throne meines künftigen Pädagogen stehen blieb – ich sage Thron, weil er nicht, wie in der Regel bei anderen Schulmeistern, ein Pult, sondern eine Art viereckigen, etwa achtzehn Zoll hohen Trippels hatte, auf welchem sich ein anderer länglichter Ueberbau von gleicher Höhe befand, der zum Sitze diente: diese beiden Stücke waren mit geflicktem und zerrissenem alten Drogett bedeckt, und bei einer späteren Untersuchung fand ich, daß das Ganze aus drei alten Weinkisten ohne Deckel bestand, die er wahrscheinlich irgendwo sehr wohlfeil an sich gebracht hatte – zwei so gestellt, daß sie das unterste Viereck bildeten, während die dritte in derselben Weise darüber aufgestellt war. Mr. O'Gallagher saß mit großer Würde auf der oberen Kiste, während er seine Füße auf den unteren ruhen ließ, und war in dieser Weise hinreichend erhaben, um die Gesammtheit seiner Zöglinge in jedem Theile der Schule überschauen zu können. Er war eben nicht groß, aber doch sehr vierschrötig gebaut, und hatte gelbrübenfarbiges Haar mit sehr buschigem rothen Ohrenbart. Auch kam er mir als eine ganz entsetzliche Person vor, namentlich wenn er seinen großen Mund öffnete und seine Zähne blicken ließ, da ich dadurch lebhaft an das Schild des rothen Löwen dicht neben meiner Mutter Haus erinnert wurde. Allerdings war ich in der Zeit meines kurzen Daseins nie von so tiefer Ehrfurcht durchdrungen worden, als bei dem Anblick meines Pädagogen, der ziemlich in der Weise eines römischen Tribuns vor mir saß und zum Zeichen seines Amtes ein kurzes, abgerundetes Lineal in seiner Hand hielt. Ich befand mich noch keine Minute in der Schule, als ich ihn seinen Arm erheben sah und das Lineal schwirrte durch die Luft, bis es den Schädel des Jungen, auf den es gemünzt war, an dem andern Ende des Schulzimmers traf. Der Knabe, welcher mit seinem Nachbar geschwatzt hatte, rieb sich den Kopf und greinte.

»Warum bringst du mir mein Lineal nicht zurück, du Galgenstrick?« rief Mr. O'Gallagher. »Geschwind, Johnny Target, oder es gibt ein Platzen.«

Der Knabe, welcher durch den Wurf nicht wenig aus der Fassung gekommen war, hatte sich jetzt so weit wieder gesammelt, um dem Befehle Folge zu leisten; er kam wimmernd heran und händigte Mr. O'Gallagher das Lineal aus.

»Deine Zunge wird dich vermuthlich in weit mehr Ungelegenheiten bringen, als deine Thätigkeit, Johnny Target. Du willst dich nicht in die Linien der Ordnung fügen und brauchst daher beständig das Lineal über dir.«

Johnny Target rieb sich den Kopf und schwieg.

»Mr. Keene,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »hast du gesehen, welch' einen donnerschlächtigen Klapps dieser Junge eben erst an seinen Kopf bekommen hat, und weißt du, warum es geschehen ist?«

»Nein,« versetzte ich.

»Ist das auch eine Manier, du ungezogener Schlingel? Nein! Merke dir für die Zukunft, daß du ›nein, Sir‹, oder ›nein, Mr. O'Gallagher‹ zu sagen hast. Verstanden? Jetzt sage ›ja‹ – was?«

»Ja, was!«

»Ja, was! Du kleiner Ignoramus. Du hast zu antworten: ›ja, Mr. O'Gallagher‹, und merke dir, daß dieß, wie die Küster zu sagen pflegen, das letzte Aufgebot ist.«

»Ja, Mr. O'Gallagher.«

»Ah! Du siehst jetzt, daß nichts über den Schulbesuch geht – du hast bereits Manier gelernt. Um aber wieder auf das Vorige zu kommen, warum hat Johnny Target den Klapps an den Kopf bekommen, der ihm Thränen in die Augen trieb? Ich will dir's sagen – es geschah des Schwatzens wegen. Du siehst, das erste, was ein Junge lernen muß, ist, das Maul zu halten, und dieß soll deine heutige Aufgabe sein. Du setzest dich jetzt gleich dahin, und wenn du während der ganzen Zeit, in welcher du in der Schule bist, nur ein Wort sprichst, so gibt es ein Platzen – das heißt im gegenwärtigen Falle, daß ich dir lebendig die Haut abziehen will, wie den Aalen, und da dieß etwas scharfe Arbeit ist, so wird sie gerade für deine Konstitution passen.«

Ich hatte Verstand genug, zu merken, daß Mr. O'Gallagher nicht mit sich spaßen ließ, weßhalb ich meinen Sitz einnahm und mich damit unterhielt, daß ich den verschiedenen Aufgaben zuhörte, welche die Knaben hersagen mußten, und auf die diversen Strafen achtete, denen nur Wenige entgingen. Endlich kam die Stunde der Erholung, in welcher man sein Mittagbrod einnehmen durfte, und die Knaben griffen nach ihren Körben, worin sich ihr Mundvorrath befand, oder eilten nach Hause, um bei ihren Eltern zu speisen. Ich saß in dem Schulzimmer Mr. O'Gallagher gegenüber, und da ich ziemlichen Appetit hatte, so warf ich einen sehnsüchtigen Blick nach meinem Korb, ohne jedoch ein Wort zu sprechen. Mr. O'Gallagher, der sich in Gedanken vertieft zu haben schien, begann endlich:

»Master Keene, du kannst jetzt hinausgehen und dich ausschreien, bis du heiser bist, um das Verlorene wieder einzubringen.«

»Darf ich mein Mittagbrod mitnehmen, Sir?« fragte ich.

»Ah, du nimmst dein Mittagbrod? – Natürlich! Aber zuerst laß mich deinen Korb und seinen Inhalt untersuchen, denn siehst du, Master Keene, es gibt einige Viktualien, die sich mit dem Lernen nicht vertragen, und wenn du sie issest, so wirst du nicht fähig sein für's Geschäft, wenn deine Spielstunden vorüber sind. Gegen leicht verdauliche Dinge habe ich nichts einzuwenden, aber was nicht für den Magen kleiner Knaben paßt, kann dich in die Patsche bringen und dann gibt's ein Platzen – das heißt, es wird dir ein Pröbchen von der Klatsche oder der Ruthe eintragen; das sind meine zwei Gehülfen, die ich noch nicht dir vorzustellen das Vergnügen gehabt habe – wird aber seiner Zeit schon kommen. Wenn das, was ich von dir gehört habe, wahr ist, so wirst du bald eine nähere Bekanntschaft damit machen.«

Mr. O'Gallagher visitirte dann den Inhalt meines Körbchens. Tante Milly hatte Sorge getragen, daß es wohl versehen war, denn es barg ein großes Papierpacket mit Beefsandwiches Kaltes, dünngeschnittenes Ochsenfleisch zwischen gebutterten Brodschnitten., ein Stück Brod mit Käse und drei oder vier Stücke Kümmelkuchen. Mr. O'Gallagher öffnete die Päckchen sammt und sonders und sprach nach einer Pause:

»Nun, Master Keene, glaubst du, du würdest's je errathen, wie ich zu all meiner Gelehrsamkeit gekommen bin und was ich zu essen kriegte, als sie in mich hineingepumpt wurde? Ich will dir's sagen – es war nichts als trocken Brod – hin und wieder mit einem Bischen Käse, wenn ich dazu kommen konnte, was indeß nicht häufig der Fall war. Brod und Käse ist die Kost, die einen Gelehrten aus dir machen kann, und da vielleicht ein einziges Stück von dem Kuchen auch nicht viel schaden wird, so magst du dieß hinnehmen und, so schnell du kannst, nach dem Spielplatz laufen. Aber höre, Master Keene, vergiß mir nicht, vor dem Essen das Gebet zu sprechen: ›Für Alles was wir von Gottes Güte empfangen haben, möge er uns mit aufrichtigem Danke erfüllen‹. Jetzt fort mit dir! Der übrige Inhalt des Körbchens bleibt zu meinem ausschließlichen Nutzen und deinem besonderen Frommen konfiszirt.«

Sobald Mr. O'Gallagher seine Rede geendet hatte, grinste er und schnitt ein Gesicht, wie ein wildes Thier, so daß ich froh war, sobald wie möglich von hinnen zu kommen. Unter der Thüre wandte ich mich noch einmal um, bei welcher Gelegenheit ich bemerkte, daß die Sandwiches mit wunderbarer Geschwindigkeit verschwanden. Ich war zugleich auch dem Blicke seines Auges begegnet – er war ganz der eines Tigers bei seinem Mahle, weßhalb ich mit doppelter Eile davon rann.

*

 


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