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Siebentes Kapitel

Nach Beendigung der Schule begab ich mich geraden Weges nach der Wohnung des Kapitäns Bridgeman, welchem ich erzählte, wie ich behandelt worden war. Sobald er meinen Bericht angehört hatte, rief er:

»Das ist in der That sehr schlimm. Ich will mit dir gehen und mich mit deiner Tante Amelia berathen.«

Es traf sich denn auch, daß wir bei unserer Ankunft Tante Milly allein im Laden fanden. Nachdem ihr umständlich mitgetheilt worden, was sich zugetragen, erzählte sie dem Kapitän Bridgeman, die Großmutter habe mich nur aus Groll, wegen der Streiche, die ich gespielt, in jene Schule gethan und zugleich gedroht, sie würde Chatam verlassen und die jüngere Tochter mitnehmen, wenn man mich daraus entfernen wollte. Meine Mutter brauche Beistand im Laden und scheue sich deßhalb, die Großmutter zu beleidigen, denn diese sei eine sehr gebieterische, entschiedene alte Frau, welche sicherlich ihren Entschluß ausführen würde. Wenn ich übrigens in solcher barbarischen Weise behandelt werde, so wolle sie selbst darauf dringen, daß mich meine Mutter wegnehme, oder lieber den Ort verlassen.

»Das würde durchaus nicht gehen, Miß Amelia,« versetzte Kapitän Bridgeman. »Die Stadt hat des Anziehenden wenig genug, als daß wir Sie entbehren könnten. Das ganze Offiziercorps würde sich in tiefe Trauer kleiden.«

»Man soll mich nicht aus der Schule nehmen,« fiel ich ihm in's Wort; »man soll mich um Alles in der Welt nicht aus der Schule nehmen, bis ich mich gerächt habe. Nun, ich will euch sagen, was ich thun möchte – und was ich thun will, selbst wenn er mich in Stücke hiebe. Er ißt meine Sandwiches und sagt mir, wenn morgen nicht mehr Senf darauf sei, so wolle er mich peitschen. Er soll Senf genug haben, aber auch noch etwas Anderes dazu. Was kann ich in die Sandwiches thun, so daß er halb davon zu Grunde geht?«

»Kein übler Gedanke, mein kleiner Percival,« sagte Kapitän Bridgeman. »Ich will doch den Doktor fragen, wie viel Calomel man nehmen kann, ohne daß dadurch das Leichenschauergericht bemüht wird.«

»Ja, das wird sich prächtig machen,« versetzte meine Tante. »Ich will dafür sorgen, daß er Senf genug erhält, um es nicht zu merken.«

»Gut; ich will geschwinde nach der Kaserne gehen und komme gleich wieder zurück,« sagte Kapitän Bridgeman.

»Und ich will mich gerne peitschen lassen, wenn nur zuvor die Sandwiches seine Gurgel hinunterspaziert sind,« entgegnete ich behend. »Ich kümmere mich dann keine taube Nuß darum.«

Kapitän Bridgeman kehrte bald mit vierzig Granen Calomel zurück, welche er Tante Milly aushändigte.

»Das ist so viel, als man einem starken Mann ohne große Gefahr geben kann. Wir wollen die Wirkung an ihm versuchen, und wenn er sich nicht bessert, so gedenke ich selbst nach der Schule zu gehen und ihm mit Drohungen zuzusetzen.«

»Was das betrifft,« versetzte Tante Milly, »so bin ich überzeugt, daß deine Mutter, wenn sie von den Vorgängen hört und Percival nicht wegnehmen kann, ihren Mann Ben hinschickt und ihn tüchtig abdreschen läßt.«

»Auch nicht übel, Miß Amelia. Wir wollen dieß versuchen, wenn wir es nöthig finden. Jedenfalls werden wir sehen, was am besten anschlägt.«

»Die Ahne hat ihm aufgetragen, daß er mich übel behandeln soll,« sagte ich; »das sieht man klar aus dem, was er gesprochen hat. Doch gleichviel, sie soll mir's noch bereuen.«

»O Percival, du darfst der Großmutter nichts thun,« entgegnete Tante Milly mit einem sehr schalkhaften Lächeln. »Ich will nichts der Art von dir hören.«

Des andern Morgens brach ich zwar in der vollen Ueberzeugung auf, daß ich noch vor Abend gepeitscht werden würde, demungeachtet aber mit so frohem Herzen, als ob es zu einem Jahrmarkt ginge.

Der Morgen verlief wie gewöhnlich. Ich sagte meine Aufgabe her, aber nicht sehr gut, denn ich schwelgte zu sehr im Vorgenusse meiner Rache, als daß ich meinem Lehrer, der wieder einer von den Knaben war, die geeignete Aufmerksamkeit hätte schenken können.

»Master Keene,« sagte Mr. O'Gallagher, wir wollen das Schuldbuch offen stehen lassen bis auf den Abend, und dann magst du für die volle Summe quittiren. Ich möchte, daß noch ein oder zwei Pöstchen dazu kämen, ehe die Sonne untergeht. Dießmal wirst du mir in keinem Falle entwischen.«

Die Knaben gingen zur Essensstunde hinaus, und ich blieb, wie früher, da, um auf meinen Korb zu warten, den der Tyrann heruntergelangt hatte. Ich stand stumm daneben, während er den Inhalt durchstöberte.

»Nun, Mr. Keene, ich will sehen, ob du meine ausdrückliche Einschärfung hinsichtlich des Senfes nicht vergessen hast.«

»Ich sagte meiner Tante, sie solle mehr Senf dazu geben, Sir,« versetzte ich demüthig; » sie schneidet die Sandwiches.«

»Wohlan denn, wenn deine Tante deiner Bitte nicht entsprochen hat, so gib Acht, ob ich dir die Haut nicht lebendig abziehe, du gottloser kleiner Kobold.«

Die Sandwiches wurden aus dem Papier genommen und gekostet.

»Nieder auf deine Kniee, Mr. Keene, und danke allen gebenedeiten Heiligen, daß dir deine Tante wenigstens die Hälfte von dem erspart hat, was ich heute Nachmittag an dir zu administriren gedenke, denn sie hat den Senf verdoppelt, du Gaudieb,« sagte Herr O'Gallagher mit möglichst angefülltem Munde.

Die Sandwiches gingen eines nach dem andern hinunter, bis sie sämmtlich verschwunden waren. Man denke sich meine Freude! Ich hätte meine Mütze in die Höhe werfen und Luftsprünge machen mögen. Nachdem ich Brod und Käse erhalten hatte, denn heute überließ er mir den letzteren, so ging ich hinaus und verzehrte mein Mahl, hochentzückt über den Umstand, daß Mr. O'Gallagher so hübsch in die ihm gelegte Falle gegangen war.

Die Glocke läutete uns zurück, und Alles ging die ersten zwei Stunden wie gewöhnlich. Jetzt aber kam es mir vor, als ob sich Herrn O'Gallagher's Gesicht zu verändern und zu erblassen begänne. Er fuhr jedoch fort, die Aufgaben abzuhören, bis ich zuletzt bemerkte, daß er mit der Hand auf, ab und quer über seinen Magen fuhr, als fühlte er daselbst ein Kneipen. Einige Minuten später preßte er seine dicken Lippen zusammen und hielt sich dann den Bauch mit den Händen.

Ah; er fängt an, Etwas zu spüren, dachte ich. Und so war es auch. Der Schmerz nahm schnell dermaßen zu, daß er alle Geduld verlor und seinen Gefühlen durch kräftige Handhabung seines Lineals an den Köpfen Luft machte; die ganze Knabenklasse mußte vor ihm aufstehen, bis einer oder zwei betäubt niedersanken.

Endlich ließ er das Lineal fallen, drückte den Magen mit beiden Händen, rollte sich vorwärts und rückwärts, und dann wand und verdrehte er seine Beine, bis er den Schmerz nicht mehr länger aushalten konnte. Dabei ließ er auch ein furchtbares irisches Geheul erschallen – krinste und knirschte dann eine Weile mit seinen Zähnen, worauf er wieder unter Schmerzenskrümmungen zu heulen anfing, während der Schweiß über seine Stirne herunterlief.

»O! Mordio! ich bin vergiftet! Gott sei meiner armen Seele gnädig! Oh – oh – oh! Eh – eh – eh! Erbarme dich, erbarme dich, erbarme dich! O heiliger Patriz, ich bin todt!«

Und der Schmerz machte ihn zuletzt so weichmüthig, daß er in einen Strom von Thränen ausbrach und wie ein Kind heulte.

Es kam ein neuer Paroxismus. – »Mordio, Mordio, Mordio!« schrie der Elende aus Leibeskräften, daß man ihn auf weithin hören konnte und die Nachbarn kamen, um zu fragen was es gäbe.

Mr. O'Gallagher war jetzt der Ohnmacht nahe. Er stützte sich auf den Tisch und vermochte nur mit leiser Stimme zu sagen:

»Einen Doktor – rasch – einen Doktor.«

Als die Nachbarn bemerkten, wie unwohl er sich befand, so führten sie ihn aus der Schulstube nach seinem eigenen Zimmer, während der eine nach dem Doktor lief, und die übrigen den Knaben mitteilten, daß sie nach Hause gehen könnten – eine Eröffnung, die wir uns freudig zu Nutzen machten.

Ich brauche kaum zu sagen, daß ich mich möglichst beeilte, Milly und dem Kapitän Bridgeman das erfolgreiche Resultat meines Streiches zu berichten. Der Arzt, welcher zu Mr. O'Gallagher gerufen wurde, reichte ihm kräftige Arzneien, welche dazu halfen, ihm das Calomel aus dem Leibe zu schaffen, obschon begreiflicherweise der Doctor nicht wußte, daß Etwas der Art genommen worden war. Die Wirkung meiner Dosis war jedoch so heftig und versetzte Herrn O'Gallagher in einen solchen Zustand, daß derselbe drei Tage sein Zimmer hüten mußte, und erst nach Verlauf einer Woche seinen Sitz in der Schule wieder einnehmen konnte, während welcher Zeit ich zu Hause über weiterem Unheil brütete.

Endlich war Mr. O'Gallagher wieder diensttüchtig, und ich wurde abermals nach der Schule geschickt. Ich bemerkte, als ich in die Schulstube trat, daß er sehr blaß und ganz leichenfahl aussah. Sobald er jedoch meiner ansichtig wurde, trennten sich seine Lippen und ließen seine großen weißen Zähne blicken, die mich an das Grinsen einer Hyäne erinnerten; er sagte übrigens nichts zu mir. Meine Studien wurden wieder aufgenommen, und ich sagte meine Aufgabe ohne Anstoß her, war aber demungeachtet ganz auf Züchtigung vorbereitet. Ich hatte mich jedoch auf eine angenehme Weise getäuscht, denn er züchtigte weder mich noch einen von den andern Knaben.

Nachher fand ich den Grund aus. Er hatte sich nämlich genöthigt gesehen, seine Schule sobald als möglich wieder zu öffnen, war aber viel zu schwach, um sich der Erschöpfung auszusetzen, welche eine nothwendige Folge seines Lieblingszeitvertreibs gewesen sein würde.

Als die Essenszeit herankam, und die Knaben entlassen wurden, wartete ich geduldig, um zu sehen, was er mit meinem Körbchen anfangen würde, das neben ihm stand.

»Nimm deinen Korb und verzehre dein Mittagsmahl, Mr. Keene,« sagte er, das Schulzimmer verlassend, um sich nach seinem eigenen zu begeben.

Ich konnte mich nicht enthalten, zu fragen, ob ihm nicht die Sandwiches beliebten, worauf er sich umwandte, und mir einen so durchdringenden, diabolischen Blick zuschickte, daß ich mich überzeugt fühlte, er wisse, wem er seine kürzliche schwere Krankheit zu danken habe.

Von diesem Tage an befaßte sich Mr. O Gallagher nie wieder mit dem Inhalte meines Körbchens, und mein Mittagessen blieb mir ungemindert. Mein Streich hatte seiner Constitution einen solchen Stoß gegeben, daß er die nächsten drei oder vier Monate nach dem Schulzimmer nur zu kriechen vermochte, und ich fing in der That an, zu fürchten, daß die Sache einen ernstlicheren Ausgang nehmen dürfte, als beabsichtigt worden war. Allmählig kam er jedoch wieder zu Kräften, und in demselben Grade nahm auch seine Strenge zu.

Ich verbrachte die drei oder vier Monate der Ruhe, welche während Mr. O'Gallagher's Wiederherstellung herrschte, sehr gewinnreich. Seitdem habe ich oft gedacht, und lebe auch in der That der festen Ueberzeugung, daß wir eher verlieren, als gewinnen, wenn der Unterricht zu früh begonnen wird. Man fange mit einem dreijährigen und einem siebenjährigen Kinde an, und in zehn Jahren wird dasjenige, dessen Gehirn man bis zum siebenten Jahre unbebaut ließ, gerade so weit, wo nicht weiter gekommen sein, als das Kind, dessen Geist allzufrühe schon überladen wurde. Dieß ist eine Thatsache, die ich seitdem in vielen Beispielen bestätigt sah, und die ich auch zuverlässig durch das meinige bekräftigen kann.

In sechs Monaten konnte ich recht ordentlich lesen, schreiben und ein wenig rechnen. Allerdings wurde ich auch dazu gespornt, durch den Zuspruch des Kapitän Bridgeman, durch die Liebe zu meiner Tante Milly und durch den Haß gegen meinen Schulmeister, dem ich durchaus keinen gerechten Anlaß zur Züchtigung geben mochte.

Ich hatte Mr. O'Gallagher im Mai die Calomeldosis beigebracht, und da er sich im September wieder ganz wohl befand, so waren um diese Zeit Lineal, Klatsche und Ruthe wieder triumphirend im Gange. Es würde zu nichts führen, wenn ich sagen wollte, wie oft ich gezüchtigt wurde, denn es geschah jeden Tag – einmal zuverlässig, bisweilen auch zweimal – und ich wurde dadurch so hartschlägig, daß ich darüber lachte, obschon mein Geist unablässig beschäftigt war, über Racheplänen zu brüten.

Ich klebte kleine Stücke Schusterpech an Mr. O'Gallagher's Thron, und er hatte das Vergnügen, sich an den Hosen festgehalten zu finden, wenn er aufstehen wollte, um zu strafen. Ich beschmierte die Handhabe der Klatsche und der Ruthe mit Vogelleim und praktizirte todte Katzen unter die Weinkisten, aus denen sein Katheder zusammengesetzt war, so daß der Gestank ihn fast verrückt machte, ehe er dahinter kam. Ich pumpte mit einer Spritze alle Dinte aus den Dintenfässern, welche so in die Pulte eingelassen waren, daß sie nicht aus den Löchern genommen werden konnten, und füllte sie wieder mit Wasser auf, wodurch er in keine kleine Kosten versetzt wurde.

Einmal machte ich ihn fast toll, indem ich sein Schnupftuch, das immer an seiner Seite lag und womit er sich alle fünf Minuten den reichlichen Schweiß aus dem Gesichte abzuwischen pflegte, mit der sogenannten Stinkbohne rieb. Da er keine Ahnung von der Ursache hatte, so wischte er sich das Gesicht mehr und mehr, bis er so roth wurde, wie eine Gichtrose und seine Haut ganz unerträglich geätzt war.

Bei solchen Gelegenheiten stellte er keine Untersuchung nach dem Schuldigen an, sondern rief eben mich und Phil Mooney auf. Dagegen erlaubte auch ich mir nicht die mindeste Gegenrede. Ich nahm die Züchtigung hin, ganz zufrieden über den Tausch, obschon man sich denken kann, daß sie so scharf war, als er sie nur zu geben vermochte.

Wie Walter Puddock mir gesagt hatte, und wie ohne Zweifel die Etton-Knaben bestätigen können, wird die Haut nach einer gewissen Anzahl von Geißelungen so hart, daß man eine derartige Züchtigung fast nicht mehr spürt, und so fand auch ich es. In dieser Weise verbrachte ich die Zeit bis zum Monat November, um welche Zeit ich in die Lage kam, meinem würdigen Pädagogen für Alles, was ich ihm schuldig geworden, vollständig zu bezahlen.

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