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Sechszehntes Kapitel.

Man lese es.

Ich eilte in den Kerker Toms, und da der Befehl, mich einzulassen, bereits angekommen war, so erhielt ich die Erlaubniß vom Sergeanten der Wache, ohne Weiteres einzutreten. Tom saß auf einer Bank und schnitzelte an einem Stocke, indem er eine langsame Melodie pfiff.

»Das ist freundlich von dir, Jacob, aber ich habe es erwartet – ich war überzeugt, daß ich dich heute Abend oder morgen früh sehen würde. Was macht die arme Marie? Es ist mir nur um sie – ich bin zufrieden – sie liebt mich und – ich schlug dem Sergeanten das Auge aus – machte jedenfalls seiner Buhlerei ein Ende.«

»Aber Tom, kennst du auch die Gefahr, in welcher du dich befindest?«

»Ja, Jacob, vollkommen; ich werde vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen. Ich bin gefaßt – jedenfalls ist es besser, als gefangen zu werden, wie ein Hund, oder zu Tode gepeitscht, wie ein Neger. Ich werde sterben, wie ein Gentleman, wenn ich auch vorher keiner gewesen bin, das ist einiger Trost. Ja, ich gehe mit eben so viel Geräusch aus der Welt, als wäre eine Schlacht vorgefallen oder ein großer Mann gestorben.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, ich meine, wenn sie schießen, gibt's einen ordentlichen Lärmen.«

»Dieß ist keine Zeit zum Scherzen.«

»Für dich, Jacob, als einen aufrichtigen Freund, nicht, das ist wahr,« fuhr Tom fort, »auch für die arme Marie, als ein liebendes Mädchen, nicht; auch für meinen armen Vater und meine arme Mutter nicht. – Nein, nein, ich trauere um sie, aber um meiner selbst willen habe ich weder Furcht noch Kummer. Ich habe nichts Unrechtes gethan – gegen das Gesetz und die Parlamentsakte wurde ich gepreßt und desertirte. Als ich betrunken und wahnsinnig war, wurde ich angeworben und desertirte. – Darin liegt nichts Entehrendes für mich. Das Entehrende fällt auf die Regierung, welche solche Handlungen duldet. Soll ich ein Opfer sein, wohl und gut – wir können nur einmal sterben.«

»Sehr wahr, Tom, aber du bist noch so jung zum Sterben und wir müssen das Beste hoffen.«

»Die Hoffnung habe ich aufgegeben, Jacob. Ich weiß, daß das Gesetz in seiner ganzen Kraft vollzogen werden wird – ich werde sterben und in eine andere und bessere Welt gehen, wie der Pfarrer sagt, wo es auf jeden Fall keine Gewehre zu putzen, kein Exercitium und keine von euren verfluchten Kreiden gibt, welche mich beinahe wahnsinnig gemacht haben. Ich möchte nur in einer blauen Jacke sterben – in einen rothen Rock will ich einmal nicht, und so werde ich vermuthlich im Hemde aus der Welt gehen, und das ist mehr, als ich besessen habe, wie ich herein kam.« »Marie und ihr Vater besuchen dich, Tom.«

»Das ist mir leid, Jacob; doch es wäre grausam, sie nicht zu sehen – aber sie macht sich solche Vorwürfe, daß ich nicht einmal ihre Briefe lesen kann, und dennoch will ich sie sehen, Jacob, ich will versuchen, ob ich sie trösten kann, aber sie darf nicht bleiben, sie muß bis nach gehaltenem Kriegsrecht und gefälltem Spruch wieder kommen, und dann – wenn sie Abschied von mir zu nehmen wünscht, darf ich es wohl nicht verweigern.« Ein paar Thränen träufelten seine Wangen nieder, als er dieß sagte. »Jacob, willst du warten und sie in die Stadt zurücknehmen? – Sie darf nicht hier bleiben – und meine Eltern will ich erst im letzten Augenblicke sehen. Wir wollen's auf einmal abmachen, dann wird Alles vorüber sein.«

Während Tom also sprach, öffnete sich die Thüre des Kerkers wieder und Stapleton führte seine Tochter herein. Marie schwankte auf Tom zu und fiel ihm ohnmächtig in die Arme. Man mußte sie wegtragen. »Laß sie nicht mehr hereinkommen, ich bitte dich, Jacob; führe sie zurück und ich will dich segnen für deine Freundschaft. Lebe jetzt wohl und sorge dafür, daß sie nicht wiederkömmt.« Tom drückte meine Hand krampfhaft und wandte sich weg, um seinen Schmerz zu verbergen. Ich winkte ihm meine Zustimmung zu, denn ich konnte vor Bewegung nicht sprechen, und folgte Stapleton und den Soldaten, welche Marie weggetragen hatten. Sobald sie sich wieder so weit erholt hatte, daß sie keiner ärztlichen Hülfe mehr bedurfte, hob ich sie in die Postchaise und befahl dem Knechte, uns nach Brentford zurückzufahren. Während der ganzen Reise blieb Marie in einem Zustande der Betäubung; und als ich in meinem Hause ankam, übergab ich sie der Frau des Gärtners in die Pflege und schickte ihren Mann nach dem Arzte.

Herrn Wharncliffe's Verwendung hatte einen geringen Erfolg und er kehrte mit dem Ausdrucke der getäuschten Erwartung zurück. Die ganze folgende Woche war die peinlichste, die ich je erlebt habe; in meiner Angst um Tom bemühte ich mich täglich, Marien einen gewissen Grad von Ergebung in den Willen der Vorsehung einzureden. – Ihre unaufhörlichen Selbstanklagen und die Verwünschungen ihres Wahnsinnes – ihre unzusammenhängenden Reden – worin sie sich Toms Mörderin nannte – Alles ließ mich für ihren Verstand fürchten; der Jammer des alten Toms und seines Weibes, welche es in ihrer Einöde nicht aushielten und zu mir kamen, um Nachrichten, Trost und ach, was ich ihnen nicht geben konnte – Hoffnung zu holen; – endlich noch meine Abwesenheit von Sarah, die ich für meine Pflicht hielt, so lange ich für Tom in Anspruch genommen war, – Alles das führte einen Zustand der Schwäche und eine geistige Erschöpfung herbei, welche mich beinahe in ein Gerippe verwandelte.

Endlich war das Kriegsgericht gehalten und Tom zum Tode verurtheilt. Der Spruch war bestätigt worden und man sagte uns, jede weitere Berufung sei vergeblich. Wir erhielten diese Nachricht am Samstag Abend und Tom sollte am Dienstag Morgen den Tod erleiden. Ich vermochte den Bitten Mariens nicht länger zu widerstehen; zudem erhielt ich einen Brief von Tom, worin er uns Alle, den Domine mit eingeschlossen, ersuchte, zu ihm zu kommen, und ihm Lebewohl zu sagen. Ich miethete einen Wagen für den alten Tom, seine Frau, Stapleton und Marie, und bestieg mit dem Domine mein eigenes Gefährt. Am Sonntag Morgen fuhren wir nach Maidstone ab. Um eilf Uhr kamen wir an, und hielten in einem Gasthofe in der Nähe der Kaserne. Es war verabredet, daß der Domine und ich Tom zuerst sehen sollten, dann sein Vater und seine Mutter, und zuletzt Marie Stapleton.

»Wahrlich,« sagte der Domine, »mein Herz ist schwer, sehr schwer; meine Seele hing an dem armen Burschen, der sein Leben lassen soll um eines Weibes willen – eines Weibes, dessen Schlingen ich selbst kaum entronnen bin. Doch sie ist ausnehmend schön und anmuthig, und nun es nichts mehr hilft, scheint sie zu bereuen.« Ich erwiederte nichts. Am Kasernenthore angekommen, bat ich, zum Gefangenen geführt zu werden, und die Thüren wurden entriegelt. Tom war mit großer Sorgfalt und sauber gekleidet – in weißen Hosen, einer Weste und Hemdärmeln, sein Rock lag auf dem Tisch, er wollte ihn nicht anlegen. Mit schwachem Lächeln streckte er mir seine Hand entgegen.

»'s ist Alles vorüber, Jacob; und 's gibt keine Hoffnung mehr, das weiß ich, und ich bin gefaßt zu sterben; – aber ich wollte, der letzte Abschied wäre vorbei, denn er wird mich übermannen. Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir,« fuhr er gegen den Domine fort.

»Nun, mein armer Junge, ich befinde mich so wohl, als es Alter und Kränklichkeit zulassen, und warum sollte ich mich beklagen, wenn ich sehe, daß Jugend, Gesundheit und Kraft geopfert wird; daß so viele elend werden, die glücklich hätten werden können?« Und der Domine schneuzte seine Nase, daß der Trommetenlaut im Kerker wiederhallte, und die Schildwache durch die Gitter hereinsah.

»Sie sind Alle da, Tom,« sagte ich, »willst du sie jetzt sehen.«

»Ja! je schneller es vorüber ist, desto besser.«

»Willst du zuerst deine Eltern sehen?«

»Ja,« erwiederte Tom mit bebender Stimme. Ich ging hinaus, und kehrte mit der alten Frau zurück, die sich auf meinen Arm lehnte. Uns folgte der alte Tom, der auf seinen Stock gestützt hereinhumpelte. Das arme Weib fiel ihrem Sohne um den Hals und schluchzte krampfhaft.

»Mein Junge – mein Junge – mein lieber, lieber Junge!« sagte sie endlich und blickte ihm starr in's Gesicht. »Ach Gott, morgen ist er todt!«

Ihr Kopf sank nieder auf seine Schulter und ihr Schluchzen durchschüttelte ihren Körper. Tom küßte die Stirne seiner Mutter, während die Thränen über seine Wangen hinabströmten. Er winkte mir, sie wegzuführen. Ich setzte sie auf den Boden nieder, wo sie schweigend blieb, indem sie langsam ihren Kopf auf und nieder bewegte, und ihr Gesicht in ihr Halstuch begrub. Nur von Zeit zu Zeit hörten wir ein krampfhaftes Athemholen. Der alte Tom war ein stummer, aber bewegter Zuschauer. Jede Muskel in seinem gebräunten Gesicht zuckte krampfhaft, und endlich brachen sich die Thränen durch die tiefen Furchen seiner Wangen Bahn. Sobald seine Mutter entfernt war, nahm Tom seinen Vater bei der Hand, und beide setzten sich nieder.

»Ihr zürnt mir nicht, Vater, weil ich desertirt bin?«

»Nein, mein Junge, nein; ich war erzürnt über dich, weil du dich anwerben ließest, aber nicht, weil du desertirt bist. Was hattest du mit der Kreide zu schaffen? Doch ich glaube, daß ich Grund habe, andern Leuten zu zürnen, wenn ich daran denke, daß mein Vaterland meinen Jungen im Frühling seines Lebens von meiner Seite nimmt, nachdem ich in seiner Verteidigung meine zwei guten Beine verloren habe. Das ist ein schlechter Lohn für langen und harten Dienst – eine schlechte Aufmunterung zur Erfüllung seiner Pflicht; aber was kümmert sie's? Sie haben meine Dienste gehabt, und jetzt bin ich ein Krüppel. Nun, sie mögen den Rest meines Körpers auch vollends mitnehmen, wenn's ihnen beliebt, nur hin – doch mit Weinen gewinnt man nichts, geschehene Dinge lassen sich nicht ändern,« fuhr der alte Tom fort, während die Thränen stromweise über seine Wangen liefen. »Sie mögen dich todtschießen; aber das weiß ich, du wirst sterben wie ein Mann, und wirst sie beschämen, indem du ihnen zeigst, daß sie sich selbst der Dienste eines wackeren Mannes berauben, wie wackere Männer sonach thun. Es würde mich nicht so sehr grämen,« fuhr der alte Tom nach einer Pause fort – (sieh' nach dem alten Weib, Jacob, sie fällt nach der Backbordseite um) – wärest du an Bord eines Königsschiffes gefallen, in einem ordentlichen Fregattengefechte; wenn's hart hergeht, so wird mancher getödtet; aber so von deinen eigenen Landsleuten gedrillt zu werden, von ihren Händen zu sterben, und was das Schlimmste ist, in einem Rothrock zu sterben, statt im Braun-Blau.«

»Vater, ich will in keinem Rothrock sterben, ich will ihn nicht anziehen.«

»Das ist einiger Trost, Tom, einiger Trost, und Trost bedürfen wir.«

»Und ich will sterben wie ein Mann, Vater.«

»Das wirst du, Tom, und das ist einiger Trost.«

»Wir werden uns wieder sehen, Vater.«

»Das hoffe ich, im Himmel, – das ist einiger Trost.«

»Und nun, Vater, Euren Segen, und tragt Sorge für meine arme Mutter.«

»Gott segne dich, Tom, Gott segne dich!« rief der alte Mann mit halberstickter Stimme und streckte seine beiden Hände gegen Tom aus, während sie sich erhoben; aber er verlor das Gleichgewicht, und fiel mir und Tomen rückwärts in die Arme. Wir setzten ihn sanft neben seinem Weibe nieder; die alten Leute wandten sich gegen einander, umarmten sich, und hielten sich schluchzend umschlungen.

»Jacob,« sagte Tom, indem er mich bebend bei der Hand faßte, »ich bitte dich um deiner Liebe willen, laß diesen Auftritt vorübergehen – laß mich Marien sehen, und dieses gefolterte Herz endlich zu einiger Ruhe gelangen.« Ich schickte den Domine fort, um sie zu holen. Tom lehnte sich mit gekreuzten Armen an die Wand, und bot seine ganze Kraft auf, um sich zu dem schmerzlichen Abschied zu sammeln. Marie ward von ihrem Vater hereingeführt. Ich glaubte, sie würde in Ohnmacht fallen, wie vorhin; aber im Gegentheil; obgleich so blaß wie der Tod, und im Drang ihrer Gefühle nach Athem ringend, ging sie auf Tom zu und setzte sich neben ihm auf die Bank. Mit der Neugierde der Angst überblickte sie die Gruppe und sagte: »Ich weiß, daß Alles, was ich jetzt rede, vergeblich ist, Tom; aber dennoch muß ich es sagen. – Ich bin es, die ich durch meinen Wahnsinn all' diesen Jammer, all' dieses Elend herbeigeführt habe – ich bin es, die ich es verschuldet habe, daß du einen so furchtbaren Tod leidest – ja, Tom, ich bin deine Mörderin.«

»Nicht so, Marie, es war mein eigener Wahnsinn,« versetzte Tom, ihre Hand fassend.

»Du kannst mir nichts verhehlen oder lindern, geliebtester Tom,« erwiederte Marie. »Die Augen sind mir aufgegangen, freilich zu spät, aber sie sind mir aufgegangen; und ob es gleich so freundlich von dir ist, daß du also sprichst, so fühle ich doch die entsetzliche Ueberzeugung von meiner Schuld. Siehe, welches Elend ich über sie gebracht habe. Dort ist ein Vater, der seine Jugend und seine Glieder im Dienste seines Vaterlandes geopfert hat, seufzend in den Armen einer Mutter, deren Leben mit dem Leben ihres einzigen Sohnes verflochten ist. Vor ihnen,« fuhr Marie auf ihre Kniee fallend fort, »vor ihnen muß ich mich niederwerfen und um Vergebung flehen, und ich flehe darum, wie sie selber hoffen, daß ihnen vergeben werde. Antwortet – ach antwortet! Könnt ihr einer Verworfenen vergeben, wie ich bin?«

Es erfolgte eine Pause. Ich trat zum alten Tom hin, kniete neben ihm nieder und bat ihn, zu antworten.

»Ihr vergeben, der Armen – ja; wer könnte ihr das verweigern, wie sie hier auf den Knieen liegt? Komm,« fuhr er gegen sein Weib fort, »du mußt ihr vergeben. Blick' auf, Alte, blick' auf und denke, daß dein armer Junge morgen Mittag dasselbe vom Himmel erfleht.«

Die alte Frau sah empor, und ihre umwölkten Augen fielen auf Mariens stehende und schöne Stellung. Sie konnte nicht widerstehen.

»Wie ich auf Gnade für meinen armen Jungen hoffe, den du getödtet hast, so vergebe ich dir, unglückliches, junges Weib.«

»Möge Euch Gott dafür lohnen, wenn Ihr von ihm gerufen werdet,« versetzte Marie. Es war der schwerste Kampf unter allen. »Dich, Jacob, muß ich um Vergebung bitten, weil ich dich deines ersten und treuesten Freundes beraube – ja, und noch wegen vieler andern Dinge. Auch Sie, Sir,« wandte sie sich an den Domine, »wegen meines Benehmens gegen Sie. Es war grausam und unverantwortlich. – Wollen Sie mir vergeben?«

»Ja, Marie, von ganzem Herzen, ich vergebe dir,« erwiederte ich.

»Gott segne dich, Mädchen, Gott segne dich,« schluchzte der Domine.

»Vater, von Euch muß ich das Gleiche erflehen – ich bin ein eigensinniges Kind gewesen, vergebt mir!«

»Ja, Marie, du konntest nichts dafür,« antwortete der alte Stapleton weinend, »'s war Alles Menschennatur.«

»Und nun,« sagte Marie, sich mit einem Blicke der Angst und Liebe auf ihren Knieen zu Tom umwendend, »jetzt zu dir, Tom, dich muß ich zuletzt anreden. Ich weiß, du vergibst mir – ich weiß, du hast mir vergeben – und dieses Bewußtsein deiner brennenden Liebe macht mir den Gedanken noch bitterer, daß ich deinen Tod verschuldet habe. Aber höre mich, Tom, und ihr Alle höret mich; ich habe nie geliebt als dich; ich habe Andere sehr gern gehabt, ich habe den Jacob gern gehabt, aber nur durch dich habe ich gefühlt, daß ich ein Herz hatte; und ach, dich allein habe ich geopfert. Als ich mich durch meine Thorheit verleiten ließ, dich zu kränken, litt ich mehr als du – denn du besaßest meine einzige, du besaßest meine ewige und unaufhörliche Liebe, deinem Andenken bin ich von nun an vermählt, Vereinigung mit dir ist mein einziger Wunsch – und wenn mir der Himmel eine Gnade verleihen könnte, so wäre es die Gnade, mit dir zu sterben, Tom – ja, in diesen geliebten Armen.«

Marie streckte ihre Arme nach Tomen aus, der auf seine Kniee niederfiel und sie umschlang. So blieben sie lange Zeit, ihre Gesichter gegenseitig auf die Schulter des Andern gelehnt. Der ganze Auftritt hatte jetzt seine Höhe erreicht; er war zu peinlich, und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, als ich durch die Stimme des Domine in die Wirklichkeit zurückgerufen wurde. Er erhob seine Arme, streckte sie feierlich aus, und flehte zum Himmel: »O Herr, sieh' auf diese Deine Knechte in ihrem Kummer; gib ihnen, die ihre Pilgerfahrt noch fortsetzen müssen, gib ihnen Stärke, um Deine Züchtigung zu tragen – gib ihm, der jetzt zu Dir gerufen wird, die Seligkeit, welche die Welt nicht geben kann; und o allmächtiger, allvermögender Gott, lege uns keine Lasten auf, welche schwerer sind, als daß wir sie tragen könnten. Kinder, lasset uns beten.«

Der Domine kniete nieder und sprach das Gebet des Herrn. Alle folgten seinem Beispiele; dann trat eine Stille ein.

»Stapleton,« sagte ich, auf Marie deutend, während ich zugleich dem Domine winkte, wir hoben den alten Tom und sein Weib auf und führten sie hinaus; die Aermste war in einem Zustande der Betäubung, und sie bemerkte nicht, daß sie ihren Sohn verlassen hatte, bis sie an die frische Luft kam. Stapleton hatte versucht, Marie und Tom zu trennen, aber es war vergebens; sie hielten sich umklammert, als müßten sie mit einander sterben. Endlich brachte ich Tom zu sich. Er ließ Marie los. Sie wurde in einem glücklichen Zustande der Gefühllosigkeit weggetragen, und von ihrem Vater und dem Domine in den Gasthof geführt.

»Sind sie alle fort,« flüsterte mir Tom zu, während sein Kopf auf meiner Schulter ruhte.

»Alle, Tom.«

»Dann ist die Bitterkeit des Todes vorüber; Gott gebe ihnen Gnade und erlöse sie von ihrer Angst; sie bedürfen Seiner Hülfe mehr als ich.«

Eine Thränenfluth, die mehrere Minuten lang strömte, erleichterte den Armen. Er richtete sich auf, trocknete seine Augen, und wurde wieder ruhiger.

»Jacob, es ist kaum nöthig, daß ich meine letzte Bitte ausspreche; sorge für meine arme Eltern, tröste die arme Marie – Gott segne dich! Du bist mir ein treuer Freund gewesen, und er möge dir dafür lohnen. Und nun, Jacob, verlaß mich. Ich muß mit meinem Gott reden, und ihn um Vergebung bitten. Der Zeitraum zwischen mir und der Ewigkeit ist ein kurzer.«

Tom warf sich in meine Arme und hielt mich einige Minuten lang umschlungen, dann machte er sich sanft von mir los, und deutete auf die Thür. Ich faßte noch einmal seine Hand, und wir schieden.


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