Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Der Domine liest mir eine Predigt aus dem größten Buche vor, daß mir je zu Gesicht gekommen, denn es bedeckt gegen zwei Morgen Landes.– Die Blätter sind nicht sehr leicht zum Umwenden, aber die Buchstaben lassen sich ohne Brille lesen. – Er endet, ohne das Buch zu schließen, was die Pfarrer doch gewöhnlich am Ende ihrer Predigten thun.

Der nächste Tag war ein Sonntag; ich besuchte wie gewöhnlich den Domine und Herrn Turnbull. Als ich bei der Schule ankam, zogen die Knaben gerade Paar und Paar nach der Kirche; der Unterlehrer führte den Vortrab an, der Domine schloß die Nachhut und ich begleitete die Procession. Der Domine schien schwermüthig und düster – er wechselte auf dem Wege kaum ein Wort mit mir. Als der Gottesdienst vorüber war, befahl er dem Unterlehrer, die Knaben nach Hause zu begleiten, und blieb bei mir auf dem Kirchhofe, wo er die Grabsteine betrachtete und dann und wann etwas vor sich hinmurmelte. Endlich hatte sich die Gemeinde zerstreut, und wir waren allein.

»Ich habe nicht von ferne daran gedacht, Jakob,« sagte er endlich, »als ich in deiner Kindheit so viele Mühe auf dich verwandte, daß ich einst dafür belohnt werden würde, wie ich belohnt wurde. Nicht entfernt kam es mir zu Sinne, daß es einst diese verlassene Waise sein sollte, vor der ich mein kummervolles Herz ausschütten würde, um die Theilnahme bei ihr zu finden, welche ich durch den Hintritt derjenigen verloren hatte, die einst meine Freunde waren. Ja, Jacob, diejenigen, mit denen ich in meiner Jugend bekannt war, die wenigen, denen ich vertraute, und auf die ich mich stützte, liegen jetzt hier und modern; meine Zeitgenossen sind an mir vorübergegangen, und nun baue ich auf dich, mein Sohn, den ich auf den rechten Pfad geführt habe, und der unter dem Beistande Gottes darauf geblieben ist. Wahrlich, du bist ein Trost für mich, Jacob, und trotz deiner Jugend fühle ich doch, daß ich in dir einen Freund gefunden habe, dem ich vertrauen kann. Gott segne dich, Jacob, Gott segne dich, mein Junge, und ehe ich zu denjenigen versammelt werde, welche vor mir dahingegangen find, möchte ich dich versorgt und glücklich wissen. Dann würde ich sagen: Nunc dimittis – Herr, nun lässest Du Deinen Diener im Frieden fahrend«

»Ich schätze mich glücklich, Sir,« erwiederte ich, »von Ihnen zu hören, daß Sie Ihren Trost in mir finden, denn ich bin Ihnen für alle Ihre Güte gegen mich von Herzen dankbar; demungeachtet aber wünschte ich, Sie bedürften keines Trostes.«

»Jacob, in welchem Theile seines Lebens bedarf der Mensch nicht Trost und Stärkung – von der Zeit an, wo er als Kind sein weinendes Gesicht im Schooße seiner Mutter birgt, bis zu der Stunde, die ihn zur letzten Rechenschaft abfordert? Nicht, als ob ich diese Welt, wie sie Manche geschildert haben, für ein Jammerthal ansähe. Nein, Jacob, es ist eine schöne Welt, eine herrliche Welt, und würde auch eine glückliche Welt sein, wenn wir nur die Sinne und die Leidenschaften bezähmen könnten, mit welchen wir begabt sind, um die Schönheit, die Mannigfaltigkeit, die unerschöpfliche Segensfülle eines gnadenreichen Himmels zu genießen. Alles ist zum Genuß und zur Beseligung gemacht, aber wir selbst beflecken durch Uebertreibung, was ursprünglich rein ist. Gesund und erfrischend ist der Trank, den der ermattete Wanderer aus der reichen, überfluthenden Quelle schöpft; aber wenn er kopfüber hineinstürzt, so trübt er den Born und verwandelt das Wasser in Bitterkeit. So ward uns der Wein gegeben, Jacob, um das Herz des Menschen zu erheitern; und warst du nicht selbst Zeuge, daß sich dein Lehrer durch Unmäßigkeit entwürdigte? So ward uns die Liebe als eine Quelle des süßesten Glückes eingepflanzt – eine Liebe, wie sie gegen dich in meinem Busen glüht: und doch hast du gesehen, wie dein Lehrer, durch den Wahnsinn eines sechzigjärigen Alters verblendet, in seiner Thorheit an einem Mädchen hing und die süßen Gefühle in eine Quelle des Elendes und der Seelenangst verwandelte.«

Ich antwortete nicht, denn die Worte des Domine machten einen tiefen Eindruck auf mich, und ich erwog sie in meinem Geiste.

»Jacob,« fuhr er nach einer Pause fort, »nächst dem Buche des Lebens gibt es keinen heilsameren Gegenstand der Betrachtung, als das Buch des Todes, von dem jeder Stein, der uns hier umgibt, als ein Blatt angesehen werden kann, und jedes Blatt eine Lehre enthält. Lies dasjenige, welches vor uns liegt. Es könnte hart erscheinen, daß ein einziges Kind seinen liebenden Eltern entrissen wurde, welche auf diesem Stein unvollkommen ihren Schmerz ausdrücken; es könnte hart erscheinen, daß ihre Wonne, ihr Trost, der Gegenstand ihrer täglichen Sorgfalt, ihrer ersten Gedanken, wenn sie erwachten, ihrer letzten verschwimmenden Erinnerungen, wenn sie in den Schlaf sanken, das einzige Bild ihrer Träume von ihnen genommen wurde; aber ich kannte sie, und der Himmel war gerecht und barmherzig. Das Kind hatte sie von ihrem Gott abgezogen – sie lebten nur in ihm, sie hatten keinen Gott mehr in der Welt. Das Kind allein besaß ihre Liebe, und sie wären verloren gewesen, hätte er es nicht in seiner Barmherzigkeit zu sich genommen. Komm hieher, Jacob.«

Ich folgte dem Domine, bis er vor einem andern Grabsteine in einer Ecke des Kirchhofes stand. »Dieser Stein, Jacob, bezeichnet den Ort, wo die irdischen Ueberreste eines Mannes liegen, der einer meiner frühesten und theuersten Freunde war – denn in meiner Jugend hatte ich Freunde, weil ich Aussichten hatte und nicht von ferne daran dachte, daß es Gott gefallen würde, mich auf den Posten zu stellen, zu dem er mich berufen. Er hatte nur einen einzigen Fehler, der in seinem Leben eine Quelle des Elendes und die Ursache seines frühzeitigen Todes für ihn wurde: er hatte ein unversöhnliches Gemüth. Nie vergab er eine Beleidigung; der arme, sündige Sterbliche vergaß, wie sehr wir bedürfen, daß uns vergeben werde. Er bekam Streit mit seinen Verwandten und fiel in einem Zweikampf mit seinem Freunde. Ich erwähne dieses Vorfalls, Jacob, weil er eine Lehre für dich enthält – nicht, als ob ich mich würdig fühlte, dein Lehrer zu sein, denn ich bin gedemüthigt, sondern aus Wohlwollen und Liebe gegen dich, um dich zu bestimmen, diesen Fehler deines Gemüthes zu verbessern.«

»Ich habe mich mit Herrn Drummond bereits wieder ausgesühnt, Sir,« antwortete ich; »aber dennoch soll Ihre Erinnerung nicht weggeworfen sein.«

»Wirklich, Jacob? dann ist mein Herz sehr erleichtert. Ich hege das Vertrauen, du wirst dir nicht länger selbst im Wege stehen und die Vorschläge annehmen, die er dir in der Fülle seines Herzens machen wird, um dich für die Vergangenheit zu entschädigen.«

»Nein, Sir, das kann ich nicht versprechen: ich wünsche unabhängig zu sein und mein Brod selbst zu erwerben.«

»Dann höre mich, Jacob, denn der Geist der Weissagung spricht aus mir: es wird eine Zeit kommen, wo du es bitter bereuen wirst. Du hast durch meine schwachen Bestrebungen eine Erziehung empfangen, und bist von der Vorsehung mit Talenten ausgestattet worden, welche weit über der Sphäre stehen, an der du so hartnäckig festhältst; es wird eine Zeit kommen, wo du es bereuen, bitter bereuen wirst. Betrachte dieses marmorne Denkmal mit dem reich verzierten Wappen. Es ist das Grabmal eines stolzen Mannes, dessen Laufbahn mir wohl bekannt ist. Er lebte in beschränkten Verhältnissen, wiewohl er von einem edeln Geschlechte abstammte – es ging ihm, wie dem Haushalter in der heiligen Schrift, ›arbeiten konnte er nicht, und zu betteln schämte er sich‹. Er hätte es in der Welt zu etwas gebracht, aber sein Stolz erlaubte es nicht. Er hatte sich Freunde erwerben können, aber sein Stolz erlaubte es nicht. Er hätte sich mit Reichthum und Schönheit vermählen können, aber sie führte kein Wappen, und sein Stolz erlaubte es nicht. Er heirathete und hinterließ seinen Kindern die Armuth als Erbtheil. Er starb, und das Wenige, was er besaß, wurde den Bedürfnissen seiner Kinder entzogen, um seinem Staube dieses Denkmal zu erbauen. Glaube ja nicht, daß ich den Stolz der Tugend tadle, der uns vor unwürdigen Handlungen bewahrt. Ich möchte nur den verkehrten Stolz unterdrücken, der dich deine Zukunft kosten wird. Was du Unabhängigkeit nennst, Jacob, ist nichts als Stolz.«

Ich mochte es nicht zugestehen, daß ich mit dem Domine übereinstimmte; wiewohl mir etwas in meiner Brust sagte, daß er Recht hatte, und gab daher keine Antwort. Der Domine versank in Gedanken – endlich aber fuhr er fort:

»Ja, es ist eine schöne Welt, denn der Geist Gottes beseelt sie. Bei der Scheidung der Elemente schwebte er über den Wassern und ist seither bei uns geblieben; er ist überall zugegen, wiewohl wir ihn nicht sehen. Wir erkennen seine Hand in der Schönheit und Mannigfaltigkeit der Schöpfung – seinen Geist sehen wir nicht, aber wir vernehmen ihn in der Stimme unseres Gewissens, welche uns auf den rechten Weg leitet. – Jetzt, Jacob, müssen wir umkehren, denn ich muß noch Kinderlehre und Kollekte halten.«

Ich nahm Abschied vom Domine und ging zu Herrn Turnbull, dem ich Alles mittheilte, was sich seit meinem letzten Besuche ereignet hatte. Er freute sich sehr über meine Aussöhnung mit Herrn Drummond und drückte seine große Theilnahme an der jungen Dame aus, welcher die zinnerne Büchse gehörte, die in seinem Besitze war.

»Ich vermuthe, Jacob, daß sich dieß Geheimniß bald aufklären wird.«

»Ich habe dem Herrn nichts davon gesagt, daß wir im Besitze der zinnernen Büchse seien,« versetzte ich.

»Nein, aber du hast es doch der jungen Dame gesagt, alberner Junge; glaubst du denn, sie werde ihm ein Geheimniß daraus machen?«

»Sie haben Recht, ich hatte das vergessen.«

»Jacob, es wäre mir lieb, wenn du zu Herrn Drummond gingest, und seine Familie wieder besuchtest. Du mußt das thun.«

Ich entschuldigte mich.

»Nein, ich will dir eine hübsche Gelegenheit dazu geben, ohne deinen Stolz zu verwunden,« versetzte Turnbull. »Ich bin ihm einiges Geldes für Wein schuldig, den er für mich gekauft hat, und will die Summe durch dich hinschicken.«

Dieß ließ ich mir gefallen, weil ich gerade nichts gegen eine Gelegenheit einzuwenden hatte, Sarah wieder zu sehen. Ich speiste mit Herr Turnbull, welcher eben allein war, da sich seine Frau zum Besuch bei einer Verwandten auf dem Lande befand. Er wiederholte seinen Vorschlag, das Gewerbe eines Kahnführers aufzugeben; aber wenn ich ihn auch nicht mit derselben Ungeduld anhörte, wie früher, und nicht mehr so viele Einwendungen gegen ihn vorbrachte, so lehnte ich doch sein Anerbieten ab, und wir ließen die Sache fallen. Herr Turnbull war zufrieden, daß mein Widerstand geschwächt war, und hoffte mit der Zeit den gewünschten Erfolg zu erleben. Als ich nach Hause kam, sagte mir Marie, Tom Beazeley sei hier gewesen; sein Kahn werde gebaut, sein Vater habe den Lichter aufgegeben und sei jetzt emsig mit der Tafel beschäftigt, wodurch er Kunden anzulocken hoffe, um in seinem neuen Geschäfte Arbeit zu bekommen.

Ich hatte am andern Morgen meinen Kahn noch nicht vom Strande geschoben, als der junge Gentleman kam, dem ich den Brief geschickt hatte. »Ehrlich,« sagte er, »kommen Sie mit mir in's Wirthshaus; ich muß mit Ihnen sprechen.«

Ich folgte ihm, und sobald wir im Zimmer waren, begann er:

»Zuerst will ich meine Schuld bezahlen, denn ich bin Ihnen tief verpflichtet.« Damit legte er fünf Guineen auf den Tisch. »Ich höre von Cäcilien,« fuhr er fort, »daß Sie im Besitze der zinnernen Büchse sind, welche nachher von beiden Theilen so eifrig gesucht wurde. Warum haben Sie mir das nicht mitgetheilt, und warum sagten Sie mir nicht, daß Sie derselbe sind, den ich an dem Abend miethete, an welchem ich so unglücklich war?«

»Ich betrachtete das Geheimniß als ein Eigenthum der jungen Dame, und da ich ihr es mitgetheilt hatte, so überließ ich es ihrem Gutdünken, Sie damit bekannt zu machen, oder nicht.«

»Dieß war jedenfalls überlegt und klug von Ihnen, wiewohl es hier unnöthig war. Nichts desto weniger freut es mich, daß Sie so gehandelt haben, denn es liefert mir den Beweis, daß Sie zuverlässig sind. Nun sagen Sie mir, wer ist der Herr, der bei Ihnen im Boote war und die zinnerne Büchse in Verwahrung hat? Bemerken Sie, Ehrlich, ich habe nicht die Absicht, sie zurückzufordern. In Ihrer Gegenwart werde ich ihm alle Verhältnisse auseinandersetzen und es ihm selbst überlassen, ob er die Papiere dem andern Theile oder mir einhändigen will. Können Sie mich zu ihm führen?«

»Ja, Sir,« erwiederte ich, »das kann ich, wenn es Ihnen gefällig ist; in einer halben Stunde will ich Sie hinrudern. Das Haus liegt am Strome.«

Der junge Mann sprang in meinen Nachen, und es dauerte keine halbe Stunde, bis wir uns in Herrn Turnbulls Wohnzimmer befanden. Ich wiederhole die Unterredung nicht im Einzelnen, sondern gebe nur die Umrisse von der Geschichte des jungen Mannes.


 << zurück weiter >>