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Zweites Kapitel.

Ich erfülle die letzten Befehle meines Vaters und werde auf einem neuen Elemente eingeschifft. – Mein erster Handel in der Welt ist sehr einträglich, meine erste Trennung von alten Freunden sehr schmerzlich. – Mein erster Eintritt in das gesittete Leben fällt für alle Theile sehr unbefriedigend aus.

Es war heller Tag, als ich aus meinem Zustande körperlicher und geistiger Ermattung erwachte. Eine Zeit lang konnte ich mich des Vorgefallenen gar nicht entsinnen; aber die Last, die auf meinem Herzen lag, sagte mir, daß es etwas Furchtbares war. Endlich fiel mein Auge auf die Kajütenthüre, die noch immer offen stand. Alle Schrecken des vergangenen Abends traten vor meine Seele, und ich erinnerte mich, daß ich allein auf dem Lichter war. In stummer Verzweiflung erhob ich mich und sah mich rings um. – Der Morgennebel hing über dem Flusse, und kaum konnte ich die Gegenstände am Ufer unterscheiden. Der kalte Thau, dem ich die ganze Nacht ausgesetzt gewesen, und vielleicht noch mehr durch die vorhergegangene außerordentliche Aufregung lag mir wie Blei in meinen Gliedern. Ich wagte es nicht, in meine Kajüte hinabzugehen. Eine unbeschreibliche Furcht, eine Art von Abscheu vor dem, was ich gesehen hatte, schreckte mich mit lähmender Gewalt zurück, und doch war ich nicht befriedigt. Ich hätte Welten gegeben (wenn ich sie gehabt hätte), den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Meine Augen fielen auf den Strom. Ich gedachte meines Vaters, und mehr als eine halbe Stunde lang starrte ich in die hinaufrauschende Fluth. – Mein Geist war in einem Zustande völliger Gedankenlosigkeit. Die Sonne erhob sich, der Nebel rollte allmälig dahin; Bäume, Häuser und Matten tauchten empor, Barken schwammen mit der Fluth herauf, Boote fuhren hin und wieder, Hunde ließen ihr Gebell erschallen, Rauchsäulen stiegen aus den verschiedenen Schornsteinen in die Lüfte – und Alles das erinnerte mich, daß ich mich in einer geschäftigen Welt befand und selbst ein Geschäft zu verrichten hatte. Die letzten Worte meines Vaters – und seine Worte waren mir stets Befehle gewesen – hatten gelautet: »Jacob, Morgen früh müssen wir an der Werfte sein, bleibe munter.« Ich schickte mich an, zu gehorchen. Den Anker zu lichten vermochte ich nicht, deßhalb löste ich das Kabel, band ein zerbrochenes Ruderstück als Ankerboje daran, und der Lichter trieb wieder auf dem Strome, unter der Leitung eines Kindes von eilf Jahren. Nach zwei Stunden war ich ungefähr noch hundert Ellen von der Werfte entfernt und ganz in der Nähe des Ufers. Ich rief um Beistand, worauf zwei Männer, die zu den an dem Kai liegenden Lichtern gehörten, auf mich zuruderten, und nach meinem Begehren fragten. Ich sagte ihnen, daß ich mich allein auf meinem Schifflein befinde, ohne Anker und Kabel. Sie stiegen an Bord, und in einigen Minuten lag mein Lichter ruhig neben den andern. Sobald er festgebunden war, fragten sie mich nach dem Vorgefallenen, aber wenn auch die Erfüllung der letzten Befehle meines Vaters meinem Geiste einige Schwungkraft gegeben hatte, so forderte jetzt, da dieß geschehen war, die Natur ihre Rechte zurück. Ich vermochte kein Wort hervorzubringen. Im Uebermaße des Schmerzes warf ich mich auf's Verdeck und weinte wieder, als ob mir das Herz brechen müßte.

Die Männer waren erstaunt, mich allein auf dem Lichter zu finden, und wußten sich eben so wenig mein Benehmen zu erklären. Sie stiegen an's Land und benachrichtigten den Werftenschreiber von dem Vorfalle. Dieser kam mit ihnen an Bord des Lichters und legte mir einige Fragen vor; da sich jedoch der Ausbruch meines Schmerzes noch nicht vertobt hatte, so waren meine vom Schluchzen unterbrochene Antworten durchaus unverständlich. Ohne weiter in mich zu dringen, stieg der Schreiber mit den beiden Männern in die Kajüte, trat aber eilends wieder heraus und verließ den Lichter. Ungefähr nach einer Viertelstunde ward ich abgeholt und vor den Eigentümer meines Lichters geführt – es war das erstemal in meinem Leben, daß mein Fuß die terra firma betrat. Man wies mich in das Wohnzimmer, wo ich den Herrn des Hauses mit seiner Frau und seiner Tochter, einem neunjährigen Mädchen, beim Frühstücke fand. Ich hatte mich wieder erholt und erzählte auf ihre Fragen meine Geschichte kurz, aber verständlich, während schwere Thränen über mein beschmutztes Gesicht hinabrollten.

»Wie seltsam und grauenvoll,« sagte die Dame des Hauses zu ihrem Gemahl; »ich kann es gar nicht begreifen.«

»Auch mir geht es so, und doch muß es nach dem, was der Werftenschreiber Johnson mit eigenen Augen angesehen hat, wahr sein.«

Mittlerweile hielten meine Augen Musterung im Zimmer. Meine Unbekanntschaft mit der Welt glaubte ein Golkonda von Pracht und Reichthum zu sehen. Ich erblickte eine Menge Gegenstände, die ich früher nie gesehen hatte, aber eine Art von Naturgefühl sagte mir, daß Vieles davon von großem Werth wäre. Den silbernen Theetopf, die zischende Urne, die Löffel, die Gemälde in ihren prächtigen Rahmen, jedes Stück des Zimmergeräthes erregte meine Aufmerksamkeit und Bewunderung, und auf einige Zeit vergaß ich Vater und Mutter, bis mich die Frage des Hausherrn, wie weit ich den Lichter ohne Beistand gebracht habe, aus meiner spekulativen Welt in die natürliche zurücklief.

»Hast du Verwandte, armer Junge,« fragte die Dame.

»Nein.«

»Was, keine Verwandten am Lande?«

»Ich war früher in meinem Leben nie am Lande.«

»Weißt du, daß du eine verlassene Waise bist?«

»Was ist das?«

»Daß du weder Vater noch Mutter hast,« bemerkte das kleine Mädchen.

»Nun,« versetzte ich mit meines Vaters Worten, weil ich nichts Besseres zu erwiedern wußte, »mit Weinen gewinnt man nichts, und geschehene Dinge lassen sich nicht ändern.«

»Aber, was willst du jetzt beginnen?« fragte der Herr des Hauses, und faßte mich auf die eben gegebene Antwort scharf in's Auge.

»Das weiß ich wahrhaftig nicht,« versetzte ich weinend; »nimm's kaltblütig.«

»Welch ein seltsames Kind!« bemerkte die Dame. »Kennt es wohl auch den ganzen Umfang seines Unglücks.«

»Das nächste Mal mehr Glück, Ma'am,« versetzte ich, meine Augen mit dem Rücken der Hand abwischend.

»Welch wunderliche Antworten von einem Kinde, das so viel Gefühl verrathen hat,« sagte der Lichter-Eigenthümerzu seiner Frau. »Wie nennst du dich?«

»Jacob Ehrlich.«

»Kannst du schreiben oder lesen?«

»Nein,« erwiederte ich, und bediente mich abermals der Worte meines Vaters: »nein, ich kann's nicht, aber ich wollt', ich könnt's.«

»Schon gut, mein armer Junge, wir wollen sehen, was zu thun ist,« bemerkte der Herr des Hauses.

»Ich weiß, was zu thun ist,« versetzte ich, »Sie müssen ein Paar Leute ausschicken, um den Anker und das Kabel zu holen, bevor die Boje abgeschnitten wird.«

»Du hast Recht, Junge, das muß augenblicklich geschehen,« erwiederte der Herr des Hauses; »aber nun würde ich dir rathen, mit Sarah in die Küche zu gehen, wo die Köchin Sorge für dich tragen wird. Liebe Sarah, führe ihn hinunter.«

Das kleine Mädchen winkte mir, und ich folgte. Die Länge und Mannigfaltigkeit der Schiffsleitern – denn für solche hielt ich die Treppen, – setzte mich in Erstaunen. Endlich langten wir unten an. Die kleine Sarah gab der Köchin den Auftrag, Sorge für mich zu tragen, und trippelte wieder zu ihrer Mutter hinauf.

Ich fand, daß der Ausdruck »Sorge tragen« am Lande eine ganz andere Bedeutung hatte, als auf dem Wasser; denn wenn man mir zurief: »Trag' Sorge,« so hieß dieß so viel als: »nimm dich in Acht, gehe aus dem Wege und halte dich ferne.« Die Landbedeutung gefiel mir weit besser. Die Köchin trug Sorge für mich: sie war eine gutherzige, beleibte Weibsperson, welche bei einer Schmerzgeschichte vor Rührung zerschmolz, obgleich das Feuer keinen Eindruck auf sie machte. Ich sah nicht nur, ich verschlang auch Dinge, die mir noch nie in den Sinn, geschweige denn in den Mund gekommen waren. Der Kummer hatte meinen Appetit nicht beeinträchtigt. Von Zeit zu Zeit hielt ich jedoch einen Augenblick inne, um zu weinen, trocknete dann meine Thränen und setzte mich wieder. Zwei volle Stunden waren auf diese Art verflossen, als ich endlich Messer und Gabel aus der Hand legte, wiewohl ich nicht eher »genug« rief, als bis sich an der Nähe meines Kehlkopfes ernstliche Symptome der Erstickung zeigten. Ein gewisser Jemand hat ein Epigramm über die ungeheuren Begriffe gemacht, die eines Geizhalses Pferd vom Hafer haben müsse. Wenn solche Vorstellungen wirklich existiren, so zweifle ich, ob sie meinem Erstaunen über eine Hammelskeule gleichkommen könnten. Ein solches Stück Fleisch hatte ich noch nie gesehen, und ich war begierig, ob es grün oder geräuchert wäre. Nach einer solchen Mahlzeit übermannte mich die Neigung zum Schlafe, und in wenigen Minuten lag ich schon schnarchend auf zwei Stühlen, welche die Köchin mit ihrer Schürze verhängte, um mich gegen die Fliegen zu schützen. So war ich denn auf einem neuen Elemente – der Mutter Erde – eingeschifft, und es dürfte jetzt gerade der rechte Zeitpunkt sein, einen Blick auf das Kapital zu werfen, das ich zu meinem neuen Anfange besaß. Was meine Persönlichkeit betrifft, so sah ich gerade nicht so übel aus; ich war hübsch gewachsen, stark und flink. Von meiner Kleidung möchte ich sagen, je weniger Worte, desto besser. Ich hatte ein Paar Hosen ohne Hintertheil; aber dieser Mangel wurde, wenn ich stand, durch meine Jacke verdeckt, die von einer alten Weste meines Vaters abstammte, und so weit hinabreichte, als der Morgenrock unserer Zeit. Ein Hemde von grobem Zwilch, und eine Pelzmütze, die dermaßen mitgenommen war, als wäre sie der von Hunden zerrissene Balg einer Katze gewesen, vollendete meinen Anzug. Schuhe und Strümpfe besaß ich nicht, denn solche überzählige Kleidungsstücke hatten die Thätigkeit meiner Füße nie beschränkt. Die Schätze meines Geistes waren nicht minder werthvoll; – sie bestanden in einer ordentlichen Bekanntschaft mit der Tiefe des Wassers, den Namen der Landspitzen und Wasserstrecken in der Themse, – Kenntnisse, die ihre Bedeutung auf dem trockenen Lande freilich verloren – und in den wenigen Hieroglyphen meines Vaters, welche nach dem Ausdrucke des Ausrufers, »für Niemand brauchbar waren, als für den Eigentümer«. Rechnet man zu diesen Reichthümern noch die drei Lieblingsgrundsätze meines schweigsamen Vaters, welche unauslöschlich in mein Gedächtniß eingegraben waren, so hat man das ganze Inventarium meines Handelskapitals. Die drei Maximen meines verehrlichen Erzeugers hatten sich durch beständige Wiederholung gleichsam völlig in meinen Gedanken verkörpert, und ehe ich mich an diesem Abende schlafen legte, sagte ich sie mir noch einmal vor. Das Sprüchlein: »Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern«, tröstete mich über das Mißgeschick meines Lebens; »das nächste Mal mehr Glück« erheiterte meine Aussicht in die Zukunft, und »nimm's kaltblütig« war ein Gegenstand tiefen Nachdenkens, bis ich in gesunden Schlaf sank; denn ich besaß Scharfsinn genug, um die Beobachtung zu machen, daß mein Vater sein Leben verlor, weil er seinen eigenen Grundsätzen untreu war, und diese Wahrnehmung steigerte meinen Glauben an die Unfehlbarkeit dieser Maximen zur unerschütterlichen Ueberzeugung.

Ich habe angegeben, worin der Nachlaß meines Vaters bestand, und der Leser wird vermuthen, daß mein mütterliches Erbe ziemlich genau gleich Null war. Unmittelbar läßt sich dieß allerdings nicht in Abrede ziehen, aber mittelbar bewährte sie sich doch als eine sehr gute Mutter, und zwar durch die außerordentliche Weise, in welcher sie sich von dieser Welt trennte. Wäre sie eines gewöhnlichen Todes gestorben, so hätte sie nichts für mich thun können. Selbst für Burke hätte sie keinen Werth gehabt; aber da sie auf eine so eigenthümliche Weise aus dem Leben schied, so wurde ihre Asche eine Quelle des Reichthums für mich. Das Bett, worin ihre irdischen Ueberreste lagen, sogar die Vorhänge desselben wurden an's Land gebracht, und in einem Nebenhause verschlossen. Der Leichenschauer fuhr auf Kosten der Grafschaft in einer vierspännigen Postkutsche heran; die Geschworenen wurden erwählt, meine Aussage zu Protokoll genommen, Wundärzte und Apotheker kamen aus der Nähe und Ferne, um ihre Meinung abzugeben, und nach mancher Untersuchung, Muthmaßung und Widerlegung wurde der Ausspruch zu Tage gefördert, »daß sie an der Heimsuchung Gottes gestorben sei«. Da das in einer andern Ausdrucksweise so viel hieß, als: »Gott allein weiß, wie sie gestorben ist«, so ward er nem. con. angenommen und befriedigte alle Theile. Die Erzählung des außerordentlichen Vorfalls verbreitete sich mit den gehörigen Erweiterungen nach allen Seiten, und Tausende von Neugierigen strömten nach den Hause des Werftmeisters, um die Wirkungen einer Selbstverbrennung mit eigenen Augen zu sehen. Alsbald kam der Lichter-Eigenthümer auf den Gedanken, daß er die öffentliche Neugierde zu meinem Vortheile benutzen könne. Ein Teller mit einigen Silber- und Goldstücken wurde unten an der wollenen Matratze meiner armen Mutter hingestellt, und mit großen Buchstaben darüber geschrieben: »zum Besten der Waise«. Manche Shillinge und halbe Kronen, ja noch größere Summen wurden von den Zuschauern hineingeworfen, welche sich schaudernd von dem furchtbaren Beweise der Wirkungen einer beständigen Betrunkenheit abwandten.

Die Zeit der Ausstellung, welche viele Tage lang dauerte, brachte ich bei der Köchin zu, der ich die Pfannen scheuerte und in andern Geschäften – wozu eben meine geringen Dienste verwendbar waren – an die Hand ging; daß meine arme Mutter zu meinem Vortheil Levée halte, fiel mir nicht ein. Am eilften Tage endlich wurde die Ausstellung geschlossen. Der Lichter-Eigenthümer ließ mich nun rufen, und als ich auf seinem Zimmer erschien, traf ich einen kleinen, schwarz gekleideten Herrn bei ihm. Es war ein Wundarzt, der sich zum Ankauf der irdischen Ueberreste meiner Mutter sammt Bette und Vorhängen erboten hatte. Mein Beschützer fühlte sich geneigt, sie auf eine so vorteilhafte Weise loszuschlagen, glaubte sich aber nicht befugt, diesen Schritt zu thun, ohne vorher die Zustimmung des gesetzlichen Erben einzuholen.

»Jacob,« sagte er, »hier ist ein Herr, der für die Asche deiner armen Mutter zwanzig Pfund bietet – eine große Summe Geldes. Hast du etwas dagegen, wenn sie ihm überlassen wird.«

»Was haben Sie damit vor?« fragte ich.

»Ich möchte sie aufbewahren, und werde Sorge dafür tragen,« erwiederte der Wundarzt.

»Wenn Sie Sorge für die alte Frau tragen wollen,« antwortete ich nach einer kleinen Pause, »gut, so können Sie dieselbe haben.«

Damit war der Kauf geschlossen. Das erste Handelsgeschäft, das ich in der Welt machte, war also, seltsam genug, der Verkauf meiner eigenen Mutter.

Ausstellung und Verkauf trug mir im Ganzen siebenundvierzig Pfund und etwas darüber ein, die der würdige Eigenthümer des Lichters, nach Abzug der Auslagen für eine neue Gewandung, zu meinem Besten auf Zinsen anlegte. – So endet die Geschichte meiner Mutter, welche durch ihre irdischen Ueberreste weit mehr für mich that, als sie in ihrem Leben jemals für mich gethan hatte. Sie bildete in Betreff ihres Schicksals gewissermaßen das Gegenstück zu Semele: die Letztere wurde mit einem Goldregen begrüßt, um sodann im Feuer der Umarmungen eines Gottes zu sterben, während meine arme Mutter zuerst das Opfer dieses Elementes werden mußte, ehe der Goldregen auf ihren einzigen Sohn herabfließen konnte – ein Unterschied im Lose der Sterblichkeit, der sich leicht erklären läßt. Semele war sehr schön und trank keinen Wachholder – meine Mutter aber stand ihr in Allem contradictorisch gegenüber.

Als ich vor meinen Beschützer beschieden wurde, um meine Einwilligung zum Verkaufe meiner Mutter zu geben, hatte ich die große Weste, die ich gleichsam als Ueberwurf benützte, im Interesse meines einstweiligen Berufes abgelegt, um beim Holzspalten weniger gehindert zu sein, und der dienstbare Geist, der mich abrief, ließ mir keine Zeit mehr, sie wieder anzulegen. Nachdem der Handel abgeschlossen war, drehte ich mich nach der Thüre, um wieder abzugehen; da ich aber, wie schon bemerkt, kein Hintertheil in meinen Beinkleidern führte, so wurde dieser Mangel an ordentlicher Verbindung von einem Wachtelhündchen bemerkt, das von einem Ruhepolster herabsprang, und sich in einiger Entfernung aufstellte, um die Blöße anzubellen. Das Hündchen war in einem gesitteten Kreise erzogen worden, und hatte noch nie eine derartige Ausstellung gesehen.

Herr Drummond, dieß war der Name des Lichter-Eigenthümers, bemerkte die Mangelhaftigkeit, welche sich die Rüge des vierbeinigen Kunstrichters zuzog, und ließ mir alsbald einen neuen Anzug bestellen, der in der That dem Bedürfnisse nicht zuvor kam. Vierundzwanzig Stunden darauf wurde ich unter Mitwirkung meiner Gönnerin, der Köchin, von einem sichelbeinigen Schneider in eine neue Kleidung gesteckt, und nun konnte ich mich drehen, wie ich wollte, ohne den Anstand zu verletzen. Eine neue Gewandung ist gewöhnlich ein Gegenstand des Ehrgeizes für Jung und Alt, und schmeichelt der Eitelkeit – bei mir war es anders. Ich fühlte mich in meinem neuen Kleide höchst unbehaglich. Die Schuhe drückten mich, die gestrickten Strümpfe verursachten mir Jucken, und weil ich gewöhnt war, meines Vaters abgestreifte Häutungen, die für meine Extremitäten eine Elle zu weit waren, zu ererben, so schien es mir jetzt bei dem geringen Umfange meiner Begriffe, als sei ich zum Umfange der ungewohnten Kleidungsstücke zusammengeschmolzen, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß diese vielmehr auf meine Dimensionen reducirt worden waren. Ich hielt mich für einen Mann, aber nun war ich sehr verlegen mit meiner Mannheit, da es mich bei jedem Schritte, den ich that, dünkte, als würde ich durch Hemmstricke festgehalten. Ich konnte mit dem Arme nicht mehr frei ausholen, und wankte in meinen Schuhen, wie ein Kind, das mit der englischen Krankheit behaftet ist. Die Köchin hatte meine alten Lumpen in's Kehrichtloch geworfen; aber so oft ich an demselben vorüber ging, warf ich einen sehnsüchtigen Blick auf meine abgelegte Kleidung, wobei ich den Wunsch nicht zu unterdrücken vermochte, sie wieder hervorzuziehen und gegen die neue einzutauschen. Ich wußte, welchen Werth sie für mich hatten; ich hätte daher, wie der Zauberer in Aladins Mährchen, gerne neue Lumpen für alte geboten, und mich mit tausend Freuden verlachen lassen, wenn ich nur wieder in den Besitz meines früheren Schatzes gekommen wäre.

Mit der Küche und ihrem Inhalt war ich jetzt völlig vertraut, aber jeder andere Theil des Hauses und des Hausgeräthes war ein Gegenstand des Erstaunens für mich. Alles kam mir fremd, seltsam und unnatürlich vor, und weder Prinz Libuh, noch irgend ein anderer Wilder verwunderte sich mehr, als ich, da mir von den meisten Dingen der Gebrauch, von manchen sogar der Name unbekannt war. Ich konnte im buchstäblichen Sinne ein Wilder genannt werden, obgleich ich ein gutartiger und gelehriger Wilder war. Am Tage nach meiner neuen Einkleidung ward ich in's Wohnzimmer gerufen. Herr Drummond und seine Frau musterten mich in meinem veränderten Anzug, und erlustigten sich an meiner Unbehülflichkeit, während sie auf der andern Seite meinen wohlgefügten, kräftigen und geraden Gliederbau bewunderten, der in einem Rahmenwerk aufgespannt war, welches mir viel zu enge vorkam. Die kleine Sarah, die mir eine große Aufmerksamkeit schenkte, ging zu ihrer Mutter, und flüsterte ihr etwas in's Ohr. »Du mußt den Papa fragen,« lautete die Antwort. Ein zweites Geflüster und ein Kuß, und Herr Drummond sagte mir, ich möchte mit ihnen essen. Nach einigen Minuten folgte ich der Familie in's Speisezimmer, und zum ersten Male setzte ich mich zu einer Mahlzeit, welche sich einiger von den überzähligen Behaglichkeiten des gesitteten Lebens rühmen konnte. Hier saß ich aufgepflanzt auf einem Stuhle, und meine Füße machten ihre Pendelschwingungen dicht über dem Bodenteppiche, während mein Kopf vom Drucke meiner Kleider, wie auch von der Neuheit meiner Lage und Umgebung glühte. Herr Drummond legte mir eine siedend heiße Suppe vor, und ein silberner Löffel wurde mir in die Hand gesteckt. Ich besah ihn um und um, und betrachtete das Miniaturbild meines Gesichtes, das mir aus seiner Glanzfläche entgegenstrahlte.

»Nun, Jacob,« sagte die kleine Sarah lachend, »mit dem Löffel mußt du die Suppe essen; spute dich, wir sind schnell fertig.«

»Nimm's kaltblütig,« versetzte ich, meinen Löffel tief in die siedende Masse tauchend und in den Mund steckend. Aber alsbald brach ein Schauerregen aus meinem mißhandelten Schlunde hervor, und ein Schmerzgeheul begleitete die Erruption.

»Der arme Junge hat sich den Mund verbrannt,« rief die Dame, einen Becher mit Wasser füllend.

»Mit Weinen gewinnt man nichts,« versetzte ich unter einem Strom von Thränen, »geschehene Dinge lassen sich nicht ändern.«

»Besser, es wäre nicht geschehen,« bemerkte Herr Drummond und wischte seinen Antheil an der freigebigen Spende von Rock und Weste.

»Der arme Junge ist entsetzlich vernachlässigt,« sagte die gutherzige Frau Drummond.

»Komm Jacob, setze dich und versuche es noch einmal; jetzt wird es dich nicht mehr brennen.«

»Das nächste Mal mehr Glück,« bemerkte ich, eine Portion aufladend und mit zitternder Hand langsam zum Munde führend, so daß die Hälfte unterwegs über Bord fiel. Es war jetzt kalt, aber dennoch ging das Geschäft nicht sehr schnell von Statten; ich hielt meinen Löffel schief und beschmutzte meine Kleider.

Frau Drummond trat in's Mittel und zeigte mir freundlich, wie ich mich anzustellen hätte, allein Herr Drummond meinte: »Laß den Jungen essen, wie er will, meine Liebe – nur etwas flink, Jacob; wir warten.«

»Dann sehe ich nicht ein, warum ich so viel verschütten soll,« bemerkte ich, »indem ich es auf die Schaufel lade, während ich in einer Minute Alles auf einmal einschiffen kann.«

Ich legte meinen Löffel weg, senke meinen Kopf, setzte meinen Mund an den Rand des Tellers und schlürfte den Rest in meinen Schlund, ohne einen Tropfen zu vergeuden. Mit vergnügter Miene sah ich mich nach Beifall um, und vernahm von Frau Drummond mit Erstaunen die ruhige Bemerkung: »Das ist nicht die rechte Art, Suppe zu essen.«

Ich machte während des Essens so viele linkische Streiche, daß die kleine Sarah einmal über das andere laut auflachte, und dieß machte mich so unglücklich, daß ich mich von ganzem Herzen in meine Hundehütte an Bord des Lichters zurückwünschte, wo ich sonst mit dem ganzen Seligkeitsgefühl der Zufriedenheit und der ganzen Würde patriarchalischer Einfalt an meinem Zwieback nagte. Zum ersten Male fühlte ich die Pein der Demüthigung. Die Unwissenheit ist nicht immer mit Mangel an Selbstgefühl gepaart. An Bord des Lichters genügte ich mir, meiner Gesellschaft und meinen Pflichten. Wenn mein Arm hinreichte, um die ungeheure Masse durch das Gewässer zu leiten, fühlte ich eine Elasticität und Kraftfülle in mir, die mir Achtung gegen mich selbst einflößte. Dort war ich, ohne meine Empfindungen zergliedern zu können, der Lenker einer kleinen Welt, und an diesem Tische unter vernünftigen und gesitteten Wesen fühlte ich mich gedemüthigt und herabgewürdigt. Mein Herz überströmte vor Scham, und auf ein ungewöhnlich lautes Gelächter der kleinen Sarah überströmte auch das überfüllte Maß meiner Pein in eine Fluth von Thränen. Vom Gefühle meines verwundeten Stolzes überwältigt, legte ich, ohne alle Rücksicht auf die fürchterlichen Gesetze des Anstandes, meinen Kopf auf das Tafeltuch und schluchzte aus tiefstem Grunde meines Herzens. Da fühlte ich plötzlich einen warmen Hauch an meiner Wange. Ich sah furchtsam empor und erblickte das glühende, schöne Gesicht der kleinen Sarah, die sanften Augen mit Thränen gefüllt, und mit einem so schmeichelnden Ausdrucke auf mich gerichtet, daß mir auf einmal der Gedanke kam, ich müsse einigen Werth haben, und wolle mir Mühe geben, diesen Werth zu erhöhen.

»Ich will nicht mehr über dich lachen, Jacob,« sagte sie, »höre auf zu weinen.«

»Ich will nicht mehr weinen,« versetzte ich und heiterte mich auf. Sie blieb bei mir stehen, und im Gefühle der Dankbarkeit flüsterte ich: »Sobald ich ein Stück Holz bekomme, will ich dir einen Kahn ausschneiden.«

»Papa, Jacob sagt, er wolle mir einen Kahn ausschneiden.«

»Der Junge hat ein Herz,« sagte Herr Drummond zu seiner Frau.

»Aber wird er auch schwimmen, Jacob?« fragte das Mädchen.

»Ja, und wenn er sich auf die Lofseite legt, so nennt mich einen Pfuscher.«

»Was ist das, Lofseite und Pfuscher?« fragte Sarah.

»Nun weißt du das nicht?« rief ich und fühlte wieder Selbstvertrauen, weil ich sah, daß ich in diesem unbedeutenden Falle mehr wußte, als sie.


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