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II.
Constantin de Renneville.

René Augustin Constantin de Renneville war um 1659 zu Caën in der Normandie geboren. Nachdem er gleich seinen elf Brüdern, von denen sieben auf den verschiedenen Schlachtfeldern der Kriege Ludwigs XIV. blieben, Offiziersdienste gethan hatte, wurde er zu verschiedenen Malen als geheimer diplomatischer Agent ins Ausland geschickt. I. J. 1699 ließ er sich in Holland nieder, kehrte aber im Januar 1702 nach Frankreich zurück und suchte sich an den Minister des Äußern, Torcy, heranzudrängen. Dieser aber, der ihn als Spion in Holland zu benutzen gedachte, schöpfte Verdacht gegen seine Treue und ließ ihn am 16. Mai 1702 in die Bastille bringen. In einem Rapporte d'Argensons vom Jahre 1709 heißt es von ihm: »Constantin, 50 Jahr alt, aus Angers gebürtig. Rennevilles Familie stammte aus dem Anjou. Er hatte sich mit seiner Familie nach Holland zurückgezogen, wie er angiebt, auf Befehl des Hofes, war dann aber ohne Paß in das Reich zurückgekehrt. Er räumt ein, Spion der General-Staaten gewesen zu sein, versichert aber zugleich, daß dies mit Wissen der Herren Minister geschehen sei, was indessen den Verdacht nicht mindert, den man gegen ihn gefaßt hatte. Von einer schweren Krankheit, in die er verfallen war, hat er sich wieder erholt.« ( Ravaisson X, 472). Um Renneville oder Constantin, wie er in der Bastille genannt wurde, zu charakterisieren, genügt die Bemerkung, daß er sogar in der Bastille seine Spionendienste anbot und seine Mitgefangenen denuncierte. Den Beweis liefern folgende, bei Ravaisson abgedruckte Aktenstücke.

Torcy an Saint-Mars.

»Ich habe Ihr Schreiben bezüglich der Vorschläge des Herrn Constantin empfangen. Es ist wenig auf seine Worte zu bauen, und da ich von der Nutzlosigkeit der Entdeckungen, die er zum Besten des Dienstes des Königs machen will, überzeugt bin, so ist es nicht angebracht, sich mit ihm deswegen einzulassen.

»Versailles, 27. Februar 1703.

( Ravaisson X, 461.)

Randbemerkung d'Argensons zu einem Berichte über den Gefangenen Antoine Sorel.

»Dieser Bericht ist mir seitens des Constantin, seines D. h. Sorels. Wir haben dieses Gefangenen bereits im Abschnitt Y (S. 423) gedacht. Stuben-Kameraden, durch Herrn du Jonca zugegangen.

»7. Februar 1704.« ( Ravaisson X, 417).

Dieser Dienstleistungen zu gedenken, hat Renneville sich weislich gehütet, als er nach seiner am 16. Juni 1713 erfolgten Entlassung die Geschichte seiner Gefangenschaft schrieb.

Man findet in der Regel bei Erwähnung Rennevilles angegeben, sein Werk über die Bastille sei 1715 in zwei Bänden erschienen und habe 1724 eine stark vermehrte Auflage in fünf Bänden erlebt. Das ist nicht ganz zutreffend. Der erste Band der Französischen Inquisition erschien allerdings 1716 bei Etienne Roger in Amsterdam, Bei der ungemeinen Seltenheit dieser ersten Ausgabe teilen wir nachstehend den genauen Titel derselben mit: L'Inquisition Françoise Ou L'Histoire De La Bastille. Par Mr. Constantin De Renneville. A. Amsterdam, Chez Etienne Roger, Marchand Libraire. M. D. CC. XV. Als Titelvignette figurieren zwei auf einem Sockel aufrechtstehende Löwen, die einen mit einer fünfzackigen Krone gekrönten Schild halten, der als redendes Wappen einen von Wogen umbrausten Felskegel zeigt. Über dem Ganzen schwebt ein Spruchband mit den Worten: Fluctus Constantia Frangit, auf dem Sockel steht die Inschrift Fluctus Violentia Lustrat. Die Vignetten der deutschen Übersetzungen zeigen den wogenumbrausten Fels in mannigfacher Umrahmung, als Devise aber die Worte: Allidor, non Elidor. die folgenden drei aber kamen erst 1719 heraus. »Ich vermeinte,« sagt Renneville selbst zu Anfang des vierten Bandes, »es bei meinem ersten Bande bewenden zu lassen. Sehr gewichtige Gründe haben mich über zwei Jahre lang abgehalten, die Feder anzusetzen. Nachdem aber Ihre Majestät, der König von Groß-Britannien, im vergangenen Winter zu erkennen gegeben, daß sie die Fortsetzung meiner Geschichte zu sehen wünschten, so habe ich mich angeschickt, dem Verlangen Ihrer Majestät Genüge zu thun. Vom ersten Tage dieses Jahres 1718 an habe ich den zweiten und den dritten Band in die Welt zu setzen gewagt. Jetzt befinden wir uns nun in den ersten Tagen des Juni, und auch dieser vierte ist schon ziemlich weit fertig.« Dieser vierte Band schließt mit dem Tode des Gouverneurs Saint-Mars ab (26. September 1708). Mehr scheint Renneville überhaupt nicht geschrieben zu haben, denn der fünfte Band der Ausgabe von 1724, der die ganze »starke Vermehrung« derselben ausmacht, behandelt nicht nur der Schrecken der Bastille die Schrecken der Glaubens-Inquisition, steht also mit den ersten vier in gar keinem Zusammenhange, sondern ist auch so nüchtern und ledern geschrieben, daß er unmöglich Renneville beigelegt werden kann.

Was die Glaubwürdigkeit Rennevilles anlangt, so ist dieselbe vielfach und mit Recht verdächtigt worden. Sein Werk ist im Großen und Ganzen nur eine umfangreiche Sammlung von Anekdoten, die auf Hörensagen beruhen und deren Unwahrscheinlichkeit teils von selbst in die Augen springt, teils aber durch andere authentische Berichte dargethan wird. Wir führen als Beispiele nur das von Linguet angezogene Märchen von Molain dem Eisenbrecher und die Schauergeschichte von der Odiriscol an. Die erstere Anekdote findet sich im vierten Bande, die letztere in der Vorrede zum ersten Bande des Rennevilleschen Werkes.

»Jean Pierre de Molain,« berichtet unser Autor, »genannt Eisenbrecher ( Brisefer), aus der Gegend von Castelnaudary ist eine von den wenigen guten, ehrlichen Häuten, die ich in der Bastille kennen gelernt habe, gutmütig, redlich, dienstfertig und immer bemüht, seinen Kameraden zu Gefallen zu leben; ich rede hier aus Erfahrung, indem ich ihn späterhin genau kennen gelernt habe und mit ihm umgegangen bin. Sobald er in das Verließ kam und die Thür kaum hinter ihm geschlossen war, riß er die Kette, die am Fußboden eingelassen war, aus dem Gemäuer heraus. Diese Kette war über armsdick und dergestalt vierfach ineinander geschlungen, daß sie dadurch zugleich stärker und beweglicher wurde. Er hob sie aus dem ungemein starken Pflaster, in welchem sie befestigt war, heraus und schlug sie in Stücken, und das in weniger Zeit, als ich hier davon schreibe. Dann fing er an, mit dieser Kette, obschon sie bei hundert Pfund wog, gegen die Wand zu schlagen, ganz so leicht, als ob er nur eine Peitsche in der Hand hätte, was mich zu dem Glauben brachte, dieser Mensch müsse ein anderer Herkules sein. Dazu sang er die lustigsten Lieder, die auch einen Heraklit zum Lachen gebracht haben würden ...

»Als er hörte, daß Ru Einer der Schließer, s. S. 404. den andern Gefangenen im Turm auftrug, ohne seiner zu gedenken, machte er sich an die Thüren, und ehe eine halbe Stunde verging, sprengte er sie auf. Es war erstaunlich, denn er hatte keine andern Werkzeuge als seine Hände, und diese Thüren, die fast ohne Zwischenraum aufeinander folgten, waren von Eichenholz, jede fast einen halben Fuß dick, mit Eisenblech beschlagen und mit doppelten, mehr als armsdicken Riegeln und einem der allerstärksten Schlösser versehen. Dessenungeachtet mußten sie weichen, weshalb ich ihn für einen zweiten Simson ansah. In gleicher Weise verfuhr er mit der Thür an der Treppe zu seinem Verließe, die stärker war als zwei gewöhnliche, und wurde auch mit ihr in kurzer Zeit fertig, wonach es ihm leicht gewesen wäre, es mit allen andern Thüren ebenso zu machen und sie einzustoßen. Er ließ es indessen dabei bewenden, daß er an die Thür nach dem Hofe pochte und den Schließer herbeirief. »Ru,« schrie er, »bring mir eine Suppe und mach die Thüren wieder zu, die der Eisenbrecher aufgerissen hat. Beeile dich, sage ich dir, oder ich schlage diese hier auch noch ein.« Endlich kam Ru, aber statt mit dem Mittagessen mit Ketten, unter deren Gewicht ein gewöhnlicher Mensch hätte erliegen müssen. Sie wurden von drei oder vier Soldaten unter entsetzlichem Gerassel herbeigeschleppt. Mehr als zehn weitere Passions-Büttel begleiteten den Schlosser der Bastille, der sie dem Eisenbrecher anlegen sollte. Der Major und der Thorhauptmann aber führten eine dritte Rotte herbei, die mit Ochsensehnen und Stöcken versehen war. Als Eisenbrecher, den seine Henker den Lustigen ( grivois) nannten, diese fürchterliche Eskorte anrücken sah, brach er, anstatt in Schrecken zu geraten, in eine helle Lache aus ... »Warum verhaltet Ihr Euch nicht ruhig?« fragte ihn der Major. »Warum zwingt Ihr uns, Euch zu züchtigen?« – »Ihr laßt mir ja keine Ruhe,« versetzte der Lustige. »Laßt mich allein in einer Kammer oder in Gesellschaft vernünftiger Leute, so will ich kein Wort sagen. So lange ihr mich aber in ein finsteres Loch steckt und mich drinnen wollt Hungers sterben lassen, werde ich mir Hilfe zu schaffen suchen – das ist ganz natürlich.«

»Während er so sprach, hielten ihn zehn Mann von diesen Menschenquälern auf allen Seiten fest, indessen der Schlosser ihm an Hals, Händen und Füßen so schwere Eisen anlegte, daß der stärkste Maulesel darunter hätte zusammenbrechen müssen. Zwei oder drei andere Schlosser und ebensoviele Zimmerleute setzten die Thüren wieder in Stand und konnten nicht begreifen, wie ein einzelner Mensch ohne andere Hilfe als die seiner Hände solche Thüren hatte einstoßen können, die ihrer Meinung nach einem Sturmbock hätten widerstehen müssen ...

»Es war ungefähr 5 Uhr nachmittags, als die Ceremonie des Kettenanlegens, der Thür-Reparatur und der Wiedereinsperrung beendet war. Bei der Rückkehr aus dem Verließe Eisenbrechers hörte ich den Major sagen: ›Er soll die Nacht unten zubringen, bis unterdessen ein Gewahrsam instand gesetzt ist, in dem er sich weder rühren, noch seine Streiche ausführen kann.‹ Aber wunderbar, und doch sicher und gewiß: schon vor 6 Uhr war er bereits abermals aller seiner Ketten ledig. Diesmal aber sprengte er nicht die Thüren auf, wie am Mittag, sondern begann sich von innen zu verrammeln. Er bediente sich jetzt seiner Eisen, um das Mauerwerk des Turmes loszubrechen, und zog Steine heraus, die drei Männer kaum von der Stelle wälzen konnten. Die Menge, die er binnen weniger denn vier Stunden losbrach, ist geradezu unglaublich. Er erschütterte den ganzen Turm, was die Gefangenen veranlaßte, an die Thüren zu pochen, um die Schließer von der Gefahr zu benachrichtigen, in der sie schwebten. Als der nächste, der daher die Gefahr am besten spürte, schrie ich der Schildwache zu, der Turm würde einfallen: die Soldaten aber konnten sich das nicht vorstellen und versäumten daher, dem Unheil vorzubeugen. Da wir sahen, daß unser Schreien nichts über unsere Tiger vermochte, wandten wir uns an Eisenbrecher und beschworen ihn sämtlich, so viel Gefangene wir waren, er solle mit seiner Arbeit aufhören und uns außer Ängsten setzen. Endlich gab er nach, ersuchte uns aber, folgenden Tags aus dem Turme zu weichen, denn er wolle ihn von Grund aus umstürzen; er lasse uns noch den ganzen Tag, um den Gouverneur zu erbitten.

»Am folgenden Morgen erschienen die Offiziere gleich bei Tagesanbruch, um uns zu besuchen. Unsere Angst erschien ihnen lächerlich. Die zerbrochenen Ketten und der erschütterte Turm galten ihnen für reine Träume. Als sie aber zum Verließ hinabgingen, dessen Thür sie nicht einmal öffnen konnten – das mußten sie wohl bleiben lassen, es lagen mehr als zehn Fuder Steine davor – und durch die Lücken, zu denen sie auf Leitern hinaufstiegen, die fürchterliche Verwüstung gewahr wurden, legten sie sich aufs Bitten und flehten den sonderbaren Maurermeister Eisenbrecher aufs Demütigste an. Aber Ru mochte ihm unter den entsetzlichsten Flüchen, denn das waren die Beteuerungen nach seiner Manier, die Versicherung geben, man würde ihn in das beste Gelaß der Bastille und zu einer Gesellschaft setzen, wie er sie nur immer verlange, Eisenbrecher wollte ihm keinen Glauben schenken, weil er ihn schon gar zu oft betrogen habe, als daß noch von Vertrauen zwischen ihnen die Rede sein könne. Schließlich mußte Herr du Junca selbst kommen und ihn auf Manneswort, ja bei seiner Ehre versichern, daß man ihn nicht bloß auf jede Art zufrieden stellen, sondern daß auch Herr d'Argenson ihm die Freiheit verschaffen werde, wenn er Kriegsdienste nehmen wolle. Auf diese Zusicherung hin ergab er sich. Nun war die Frage, wie die Thüren wieder frei zu machen seien: Eisenbrecher arbeitete ungefähr von acht Uhr morgens, wo sein Vertrag mit dem Kommandanten geschlossen worden war, bis fünf Uhr nachmittags, wo die Thür dem Ru wieder überliefert wurde. Wäre dieser Bedauernswerte, der seit zwei Tagen nur einen kleinen Laib Brot zu sich genommen hatte, während er so fürchterlich arbeitete, von einer Ohnmacht überfallen worden, so hätte man ihn sicherlich Hungers sterben lassen. Er hat mir auch nachgehends gesagt, während er die Steine, die vor der Thür lagen, weggeräumt habe, seien ihm etliche Male die Kräfte ausgegangen. Endlich wurde der Platz geräumt, der jetzt, wie seiner Zeit Rhodus, als die Malteser es den Türken übergaben, nur noch ein Schutthaufe war, und wider Erwarten hielt man Eisenbrecher Wort: er wurde zu Herrn de Bellevaux Dieses Gefangenen ist bereits auf S. 90 gedacht worden. in ein sehr schönes Gelaß gesetzt. Ru ließ mich noch am selben Tage in das Verließ hinuntergehen, um die schöne Wirtschaft anzusehen, die Eisenbrecher darin angerichtet hatte. Er hatte den Turm an verschiedenen Stellen untergraben, und das Verließ lag fast bis an die Deckenwölbung voller Steine, unter denen sich einige von ungeheurer Größe befanden. Sechs Maurer hatten eine ganze Woche zu thun, um das wieder aufzumauern, was ein einziger Mensch binnen vier Stunden losgebrochen hatte.«

Man vergleiche nun mit dieser Schilderung den Bericht de Latudes über das Durchbrechen des Rundenwegs: S. S. 327-328. Latude und sein Genosse waren mit schweren Brechstangen ausgerüstet, sie griffen jeden Stein gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen an, und dennoch erforderte das Durchbrechen der 4½ Fuß starken Mauer acht Stunden und wäre durchaus unmöglich gewesen, wenn nicht im Laufe der Zeit das Wasser den Mörtel der Mauer ausgelaugt und mürbe gemacht hätte. Renneville übertreibt also schon hier, wo er sich doch als Augenzeugen darstellt, auf das Ungeheuerlichste. Noch weit weniger Glauben aber verdient er da, wo er nur nach Hörensagen berichtet. Man wird dies aus der nachstehenden Anekdote ersehen.

»Odricot und seine Frau,« erzählt Renneville, »die Tochter einer verwitweten Lailly, alle drei aus Irland, wurden im Jahre 1701 in die Bastille gesetzt. Die Frau Odricots war sehr hübsch, der Abbé Giraut und Corbé wandten daher alle ihre Geschicklichkeit auf, um sie zu verführen. Die Folgen wurden bald genug sichtbar, und Ru diente ihr bei ihrer ersten Niederkunft in der Bastille als Wehmutter. Da sie aber nicht mit gutem Gewissen behaupten konnte, wer eigentlich der Vater des Kindes sei, ob Corbé oder der Abbé, so beschloß der erstere, ihr zu einem zweiten Kinde zu verhelfen, bezüglich dessen er seiner Vaterschaft gewiß wäre. Um sicher zu gehen, ergriff er die erforderlichen Maßregeln, so daß der Abbé die Odricot nicht mehr besuchen konnte, worüber er sich indessen bei andern weiblichen Gefangenen und bei den Nonnen tröstete, deren Adonis er war. Die Frau Odricots wurde zum zweitenmale schwanger. Corbé bewirkte nun ihre Entlassung aus der Bastille und war zugleich Vater und Pathe des Kindes, das er mit einer Tochter des Saint-Mars über die Taufe hielt, einer Dame, die ihr Vater nicht mehr sehen wollte, weil sie selbst von dem Gardehauptmann Molé ein Kind gehabt hatte, wie der Schließer Bertrand uns versicherte. Odricot, der Gatte der unglücklichen Verführten, die er seit seiner Einsperrung niemals hatte sehen dürfen, erfuhr davon, geriet in eine fürchterliche Wut und schwur, sich an Corbé und Giraut dafür zu rächen. Um nun zu verhindern, daß er nicht bei Hofe klagbar und nicht der Wohlthat des zwischen England und Frankreich abgeschlossenen Friedens teilhaftig würde, ließen seine Henker, um ihren Verbrechen die Krone aufzusetzen, ihn nach Bicêtre bringen, wo er für den Rest seiner Tage bleiben wird, wenn nicht ein Wunder des Himmels oder ein guter Fürst zu seinen Gunsten eintritt.«

In Wahrheit verhält sich diese herzbrechende Geschichte folgendermaßen. Der ehrenwerte Cornelius Odiriscol – so lautet der Name in den Akten – war aktives Mitglied einer Piratenbande, die bei Saint-Malo die Bemannung eines englischen Kauffahrteischiffes über Bord geworfen und dann das Fahrzeug in Brest verkauft hatte. Wie es scheint, ging der Brave seinen Genossen mit dem größern Teile des Ertrages der Beute durch die Lappen, wurde aber in Paris von einem dieser Gefährten entdeckt, denunziert und infolge dessen in die Bastille gebracht. Dort erkrankte er, so daß er an Krücken gehen mußte, weshalb am 22. September 1711 seine Überführung nach Charenton stattfand. Aus dem dortigen Hospital wurde er im Jahre 1715 entlassen.

Odiriscol war am 25. August 1701 in die Bastille eingezogen, seine Frau und deren Mutter, die Witwe Lally, die in die am 17. August genannten Jahres gegen ihn erlassene Lettre-de-cachet mit einbegriffen waren, folgten ihm am 27. September dahin nach, und schon am 30. November schrieb Pontchartrain an Saint-Mars: » Der König erachtet für gut, daß Sie die Sachen, deren die Irländerin für ihre Niederkunft bedarf, zu dem möglichst billigsten Preise für sie anschaffen. Sie können nicht besser thun, als wenn Sie Clément benachrichtigen lassen, der in Ihrer Nachbarschaft wohnt, wenn die Zeit ihrer Entbindung da ist.« Clément war ein damals sehr berühmter Geburtshelfer, den der König bei seinen Maitressen zu Hilfe zu rufen pflegte – jene wenigen Zeilen Pontchartrains reichen also vollkommen hin, Rennevilles Märchen zu widerlegen. Die Odiriscol wurde nebst ihrer Mutter durch Lettre-de-cachet vom 31. August 1703 entlassen.

Dieser Schwächen ungeachtet hat sich für Renneville ein warmer Verteidiger gefunden, und das kein geringerer als Paul Lacroix in seinem Buche über die eiserne Maske. »Diese Geschichte der Bastille,« sagt der berühmte Bibliophile über Rennevilles Werk, »die gewisse Kritiker mit einer Verachtung behandelt haben, wozu eine flüchtige und oberflächliche Lektüre nicht berechtigte, ist sicherlich kein mit lächerlichen Erzählungen gespickter Roman, sondern dies Werk scheint mir ebenso wahr, ebenso authentisch, ebenso kostbar für die Geschichte zu sein, als es nur ein unter dem Einflusse einer tiefen Empfindlichkeit von einem rechtlichen und religiösen Manne geschriebenes Buch sein kann ...

»Renneville hatte einen rachsüchtigen, leidenschaftlichen Charakter, besaß aber auch einen Schatz aufrichtiger Frömmigkeit, der ihm sein Unglück ertragen half und ihn bei der Dichtung seiner Gesänge der heiligen Schrift und bei seinen übrigen religiösen Schriften begeisterte. Man wird sich aus dem inbrünstigen Ton, in welchem letztere geschrieben sind, leicht überzeugen, daß Renneville nicht fähig gewesen wäre, unverschämt zu lügen, während er beständig die Gerechtigkeit Gottes anruft; wenn man sieht, was er zur Sühne für zwei kleine Gedichte gelitten hat, wird man aber auch zugleich die wütende Entrüstung begreifen, die er gegen seine Henker, namentlich gegen den Gouverneur Bernaville, an den Tag legt ...

»Ich sehe daher die Geschichte der Bastille für durchaus glaubwürdig in all den Punkten an, an denen Renneville mit einem Bibelspruch im Munde sich selbst als Augenzeugen stellt. Was die zahlreichen Abenteuer der Gefangenen betrifft, die er während seiner elfjährigen Haft nach und nach kennen gelernt hat, so giebt er diese oft romantischen und lächerlichen Erzählungen nicht für beglaubigte Thatsachen aus: er wiederholt sie, wie er sie gehört hat, und zuweilen reißt ihn nur die Leidenschaft hin, sich zum Verteidiger seiner Mitgefangenen Freunde aufzuwerfen.

»Ein Fälscher, ein Pamphletschmied, würde es nicht gewagt haben, Georg I., dem König von England, ein Gewebe grober Lügen und frecher Verleumdungen zu widmen ... Und endlich: ein gemeiner Verleumder würde sich nicht unterfangen haben, seinen Namen auf das Titelblatt einer Anklage-Akte der Bastille zu setzen und damit sein Leben oder wenigstens seine Freiheit zu gefährden.

»Renneville lief wirklich Gefahr, aufgehoben und für den Rest seiner Tage in den Schlund dieses Staatsgefängnisses zurückgeschleudert zu werden. Er wurde sogar in Amsterdam von drei Raufern angefallen, die ihn indessen nur leicht verwundeten. ›Ich werde meinen Degen keinen Zollbreit ziehen‹ sagt er in der Vorrede der zweiten Ausgabe seines Werkes. › Si Deus pro nobis, quis contra nos? Es ist schön, für die Wahrheit und das gemeine Wohl zu sterben!‹ Diese Sprache charakterisiert den Mann.

»Übrigens weiß man nicht, was seit dem Erscheinen der zweiten Ausgabe i. J. 1724 aus Renneville geworden ist, und darf vermuten, daß er das Schicksal Avedicks und Mattiolis hatte und in England, vielleicht auch in Frankreich, wohin man ihn gern haben wollte, heimlich verhaftet ward und in der Tiefe jener fürchterlichen Verließe endete, die er in seinen Annalen der französischen Inquisition beschrieben hatte.«

So Lacroix. Man kann ihm, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten, einräumen, daß Renneville kein unverschämter Lügner ist: allen seinen Berichten liegt irgend eine beglaubigte Thatsache zu Grunde – nur ist des Beiwerks immer mehr als der Wahrheit. Die Sonne Tarascons, die bekanntlich alle Dinge in einem besondern Lichte zeigt, scheint dem Autor im nebelfeuchten England mehr, als für sein Werk zuträglich war, auf den Kopf geschienen zu haben. Die Folge davon ist, daß man der Geschichte der Bastille nur bezüglich der Punkte Glauben beimessen darf, für die noch anderweitige Beweise vorliegen, und daß man sich sorgfältig hüten muß, ihm im Vertrauen auf seine Bibelbelesenheit blindlings zu folgen.

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