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H.
Fluchtversuche.

Wir geben nachstehend eine Liste der teils mißglückten, teils glücklich zu Ende geführten Fluchtversuche aus der Bastille, so weit uns Nachrichten darüber zugänglich gewesen sind.

1686. Die Vion, Gattin eines Engländers, eingesteckt am 7. April 1686, weil sie die Kinder eines Edelmanns ins Ausland zu bringen beabsichtigte, entwischte durch List am 29. Oktober 1686. ( Carra I, 152.)

1701. Der Graf Boselli, als der Spionage verdächtig samt seinem zehnjährigen Sohne am 31. Januar 1699 in die Bastille gebracht, entfloh in der Nacht vom 30. auf den 31. August 1701 mit Hilfe von Nachschlüsseln. Einen umständlichen Bericht darüber enthält das von Herrn Ravaisson mitgeteilte Tagebuch des Kommandanten du Junca. ( Ravaisson X, 196.)

1756. Antoine Allegre und Mazers de Latude, genannt Danry, entwichen in der Nacht des 25. Februar 1756. Wir teilen unten das Nähere über diese merkwürdige Flucht mit. ( Carra II, 206; III, 221.)

1767. François Marca, ein halber Narr, der mit aller Gewalt dem König eine politische Denkschrift überreichen wollte, eingebracht am 22. Juni 1767, öffnete während seiner Gefangenschaft die beiden eisenbeschlagenen Thüren seines Zimmers mit Hilfe eines Schüreisens und zweier Schrauben, die er aus seinem Gurtbett genommen hatte, indem er die Angelbänder zerbrach. Beim Erbrechen der Treppenthür wurde er von dem damaligen Major Chevalier überrascht, so daß sein Plan scheiterte. ( Carra III, 90.)

1781. Der Ingenieur Brun de Condamine, eingebracht am 9. Februar 1779, wußte sich, in ähnlicher Weise wie Latude, eine Strickleiter anzufertigen und das Gitter vor seinem Fenster zu entfernen. Er gelangte glücklich bis in den Graben. Beim Erklimmen des Rundenwegs aber stürzte er zurück und brach ein Bein. Er wurde aufgefunden und zur Strafe auf acht Tage in ein Verließ gesteckt. Erst infolge seines Fluchtversuchs wurde die bis dahin einfache Vergitterung der Fenster in eine dreifache verwandelt. ( Carra III, 245.)

Mit welchen Schwierigkeiten eine solche Entweichung aus der Bastille verknüpft war, erhellt am besten aus dem nachstehend mitgeteilten Berichte Latudes. Über die beiden Fluchtgenossen sei hier noch folgendes vorausgeschickt. Antoine Allegre, Pensionshalter in Marseille, hatte in der Absicht, sich durch seinen Diensteifer eine Belohnung zu verschaffen, im Februar 1750 die Marquise von Pompadour von einem angeblichen Komplotte gegen sie in Kenntnis gesetzt, an welchem namentlich Maurepas und der Erzbischof von Alby beteiligt sein sollten. Da sich diese Angaben unverzüglich als Verleumdungen erwiesen, so wurde Allegre verhaftet und nach einer kurzen Gefangenschaft in Montpellier am 29. Mai 1750 in die Bastille gebracht, wo man ihn mit Mazers de Latude in ein und dasselbe Zimmer sperrte. Latude hatte sich eines ähnlichen Vergehens schuldig gemacht. Um sich die Gunst der allmächtigen Favoritin zu erwerben, gab er eine Schachtel mit unschädlichen Droguen an sie auf die Post und benachrichtigte sie im voraus vom Eintreffen dieser Sendung, die er als zu ihrer Vergiftung bestimmt und von unbekannter Hand ausgehend bezeichnete. Der Schwindel wurde indessen entdeckt und Latude verhaftet. Es gelang ihm zweimal zu entkommen, beide Male aber fiel er von neuem der französischen Polizei in die Hände und erlangte erst 1784 seine Freiheit wieder. Der nachstehende Bericht wurde 1789 nach der Einnahme der Bastille von ihm veröffentlicht.

Denkschrift des Herrn de Latude.

Meine zweite Flucht aus der Bastille in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1756.

»Wenn man sich im Unglück befindet, erscheinen die Tage länger als Jahre, und das größte Unglück der Verlassenen besteht darin, daß sie alles von der schlimmsten Seite betrachten. Wir kannten den Einfluß, den die Marquise von Pompadour auf den König ausübte, und sagten uns demgemäß: »Wenn diese Frau noch vier, sechs, zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre am Hofe bleibt, so geht unsere Jugendzeit in der Gefangenschaft hin, und wir werden hier im Gefängnis sterben. Sehen wir zu, ob wir nicht entfliehen können.« Wenn wir indessen den Blick auf die zehn Fuß starken Mauern der Bastille, auf die vierfachen Gitter der Fenster und der Kamine richteten, und bedachten, von wievielen Bewaffneten dies Gefängnis gehütet wird und von welcher Höhe die Mauern sind, die die häufig mit Wasser gefüllten Gräben umgaben, so schien es für zwei Gefangene, die jeder menschlichen Hilfe beraubt waren, völlig unmöglich, zu entkommen. Die Offiziere zu bestechen, würde aber selbst Herrn de Laborde, dem berühmten Banquier, mit allen seinen Schätzen nicht gelungen sein: man kann sich also denken, was bloße Worte über sie vermocht haben würden. Mit ein wenig Genie bringt man jedoch alles zu Stande. Ich werde zeigen, was man alles vom Mute, von der Geduld und den Hilfsquellen, die man in der Mathematik findet, erwarten darf.

»Wir befanden uns zu zweien in einem Zimmer. Nun muß man wissen, daß der Gefangene in der Bastille weder Messer, noch Schere, noch sonst ein schneidendes Instrument erhält, und daß der Schließer, d. h. der Bursche, der das Essen bringt, einem für hundert Louisd'or keine Rolle Bindfaden zukommen lassen würde – und dabei brauchten wir vierzehnhundert laufende Fuß Seile, wir brauchten zwei Leitern, eine hölzerne von zwanzig bis fünfundzwanzig und eine Strickleiter von hundertundachtzig Fuß Länge, wir mußten im Kamine vier Gitter losarbeiten, mußten, bis an den Hals in eiskaltem Wasser stehend und nur fünfzehn bis achtzehn Fuß von einer Schildwache entfernt, in einer einzigen Nacht eine vier und einen halben Fuß dicke Mauer durchbrechen, wir mußten aus dem Nichts erschaffen: und dabei hatten wir nichts weiter als unsere beiden Hände! Das war noch nicht das Schlimmste: wir mußten sowohl die hölzerne wie die Strickleiter mit ihren zweihundertundfünfzig Holzsprossen von je einem Fuß Länge und einem Zoll Stärke, sowie eine zahllose Menge anderer Dinge verbergen, die in der Zelle eines Gefangenen verpönt sind. Die Offiziere besuchten und visitierten uns in Begleitung mehrerer Schließer in jeder Woche zu wiederholten Malen. Dessenungeachtet war ich unaufhörlich mit diesem Plane beschäftigt. Ich hatte auch schon mehrere Male mit meinem Gefährten, der viel Geist hatte, darüber gesprochen, er gab mir aber immer zur Antwort, die Sache wäre unmöglich, es sei Wahnsinn, daran zu denken. Seine Gründe aber feuerten nur meine Einbildungskraft und meinen Mut an, anstatt mich abzuschrecken.

»Man muß selbst in der Bastille gefangen gesessen haben, um zu wissen, wie man in diesem Gefängnis behandelt wird. Man stelle sich vor, man brächte zehn Jahre in einer Zelle zu, ohne seinen Nachbar über sich oder unter sich nur zu sehen, geschweige denn mit ihm zu reden. Zu verschiedenen Malen sind Mann, Frau und Kinder in die Bastille gesteckt worden und jahrelang darin verblieben, ohne zu wissen, daß ihre Angehörigen in der Nähe waren. Nie wird dem Gefangenen irgend welche Nachricht mitgeteilt. Mag der König sterben, mag eine Veränderung im Ministerium vorgehen, nie erfährt man etwas davon. Die Offiziere, der Chirurg, die Schließer sagen nichts weiter als: »Guten Tag, guten Abend: bedürfen Sie etwas?« und das ist alles. Es ist eine Kapelle vorhanden, in der täglich eine und an den Sonn- und Festtagen drei Messen gelesen werden. In dieser Kapelle befinden sich vier kleine Verschläge, in welche man die Gefangenen bringt, die die Erlaubnis haben, die Messe zu hören: denn alle erhalten diese Erlaubnis nicht, sie gilt vielmehr für eine Gnade. Jeder dieser Verschläge hat ein Glasfenster mit Vorhängen, die erst im Augenblick der Aufhebung der Hostie geöffnet und sogleich wieder mit größter Sorgfalt geschlossen werden, so daß der Priester nie das Gesicht der Gefangenen und diese immer nur den Rücken des Priesters sehen.

»Herr Berryer hatte mir und ebenso meinem Unglücksgefährten die Erlaubnis gewährt, Sonntags und Mittwochs die Messe zu hören. Der Gefangene unter uns, d. h. im dritten Zimmer der Tour La Comté, hatte dieselbe Erlaubnis. Der genannte Turm ist der erste zur Rechten, wenn man in die Bastille kommt.

»Ich hatte schon verschiedene andere Zimmer innegehabt und stets von Zeit zu Zeit Geräusch von den Gefangenen unter mir und über mir vernommen. Seitdem ich nun im Zimmer 4 der Tour La Comté war, hörte ich wohl Geräusch über, niemals aber unter mir; und doch wußte ich, daß das Zimmer 3 besetzt war. Diese Stille fiel mir ungemein auf: ich wußte nicht, wie ich mir dies Geheimnis erklären sollte. Immer mit meinem Fluchtplane beschäftigt, sagte ich zu meinem Leidensgefährten, ich hätte Lust, mir einmal das Zimmer unseres Nachbars anzusehen, und bat ihn, mir dazu behilflich zu sein. Zu diesem Zwecke sollte er, wie ich ihm angab, sein Reißzeug in sein Taschentuch wickeln und bei der Rückkehr von der Messe, sobald wir im zweiten Stock wären, die Sache so einrichten, daß es beim Herausziehen des Tuches die Treppe hinunterkollere, dann aber den Schließer ersuchen, es heraufzuholen. Wie gesagt, so gethan. Während der Schließer, ein gewisser Daragon, der noch heute, im Jahre 1789, am Leben ist, hinter dem Besteck herlief, stürze ich die Treppe hinauf, schiebe den Riegel zurück, öffne die Thür von Nr. 3, schaue nach der Decke, sehe, daß das Zimmer höchstens zehn und einen halben Fuß hoch ist, schließe dann die Thür wieder, zähle von diesem Zimmer bis zu dem unsern zweiunddreißig Stufen, messe die Höhe einer Stufe, rechne nach und finde, daß sich hier ein Unterschied von fünf und einem halben Fuß ergiebt. Da keine steinerne Wölbung vorhanden war, so zog ich daraus den Schluß, daß die Decke nicht fünf und einen halben Fuß dick sein konnte, denn das hätte eine ungeheure Last ergeben, daß also hier eine sogenannte Trommel, d. h. zwei Decken, in der Entfernung von vier Fuß voneinander, vorhanden sein mußte.

»Darauf sagte ich nun mit heiterer Miene – denn noch einen Augenblick zuvor hielt ich uns beide für verlorene Menschen – zu meinem Leidensgenossen: »Nicht verzweifelt, Freund, mit etwas Geduld und Entschlossenheit werden wir von hier entkommen. Hier meine Berechnung. Zwischen dem Zimmer 3 und dem unsern befindet sich ohne Frage eine Trommel« ... Aber ohne mein Papier anzusehen, erwiderte er: »Ei zum Henker! und wenn sich alle Trommeln des Garderegiments hier befänden, was zum Teufel soll uns das nach Ihrer Meinung bei unserer Flucht helfen?« – »Dergleichen Trommeln brauchen wir auch gar nicht,« fuhr ich fort. »Wenn aber, wie ich glaube, zwischen 3 und 4 eine doppelte Decke vorhanden ist, so daß wir unser Tauwerk und die übrigen Materialien, die wir brauchen, verstecken können, so sage ich Ihnen gut dafür, daß wir entkommen.« – »Aber,« erwiderte er mir, »um in der angeblichen Trommel Tauwerk verstecken zu können, müßte man doch erst welches haben, und wir haben eben keins. Überdies wissen Sie ja auch sehr gut, daß es unmöglich ist, auch nur einen zehn Fuß langen Strick zu bekommen.« – »Was die Seile anlangt,« gab ich zur Antwort, »so machen Sie sich darüber keine Sorgen, denn hier in meinem Reisekoffer, wie er da vor uns steht, stecken mehr als tausend laufende Fuß.« Da ich, während ich so mit ihm sprach, vor Freuden außer mir war, sah er mich starr an und sagte endlich: »Meiner Treu, ich glaube, Sie haben den Verstand verloren. Ich weiß so gut wie Sie, was in Ihrem Koffer und in Ihrem Mantelsack steckt und fordere Sie heraus, mir auch nur ein fußlanges Stück von einem Seil zu zeigen. Und dabei sagen Sie mir, es steckten mehr als tausend Fuß drin.« – »Gewiß,« erklärte ich, »in diesem Koffer befinden sich dreizehn und ein halbes Dutzend Hemden, zwei Dutzend Paar seidene Strümpfe, achtzehn Paar Socken, drei Dutzend Handtücher u. s. w. u. s. w. Wenn wir nun meine Hemden, meine Strümpfe, meine Handtücher, meine Socken, meine Nachtmützen, meine Taschentücher u. s. w. Faden für Faden zerzupfen, so erhalten wir Material für mehr als tausend Fuß Stricke.«

»Das ist richtig,« sagte er, »aber womit sollen wir die eisernen Gitter in unserm Kamine losarbeiten? Denn mit nichts können wir doch unmöglich etwas leisten, und wir haben nur unsere Hände und können keine Werkzeuge zu einer solchen gewaltigen Arbeit aus der Erde stampfen.« – »Freund,« gab ich zur Antwort, »die Hand ist das Instrument der Instrumente: mit ihrer Hilfe werden alle andern hergestellt, und die Menschen, die ihren Kopf anzustrengen verstehen, finden überall Hilfsmittel. Sehen Sie diese beiden Haspen, die unsern Klapptisch halten? Durch Schleifen auf einer Fliese unseres Fußbodens werde ich sie mit einer Schneide versehen. Wir haben einen Feuerstahl: ich zerbreche ihn, und in weniger als zwei Stunden werde ich ein ganz gutes Federmesser daraus herstellen, mit dessen Hilfe wir zwei Griffe für die Haspen anfertigen. Dies Messer wird uns noch bei vielen andern Dingen von Nutzen sein. Mit den beiden Haspen aber, verspreche ich Ihnen, werde ich es fertig bringen, alle Gitter loszuarbeiten. Ein Essenkehrer klettert in einem Kamin in die Höhe – ich stehe Ihnen dafür ein, daß ich es ebenfalls werde.«

»Den ganzen Tag über besprachen wir die Sache. Sobald wir dann zu Abend gegessen hatten, rissen wir eine Haspe von unserm Tische los. Mit dieser Haspe hoben wir eine Fliese des Fußbodens aus den Fugen und begannen nun dergestalt zu arbeiten, daß wir ihn in weniger als sechs Stunden bis zum Grunde ausgehöhlt hatten. Zu unserer großen Genugthuung fanden wir, daß zwei Fußböden in einer Entfernung von vier Fuß voneinander vorhanden waren.

»Von diesem Augenblicke an betrachteten wir unser Entkommen als durchaus sicher. Wir brachten die Fliese wieder an ihre Stelle, so daß keine Spur von unserer Arbeit zu sehen war. Am andern Morgen zerbrach ich den Feuerstahl und verfertigte daraus ein kleines Messer. Mit Hilfe dieses Werkzeugs stellten wir zwei Griffe für die Tischhaspen her, die beide mit einer Schneide versehen wurden. Dann zupften wir zwei von unsern Hemden auf, d. h. nachdem wir sie samt den Säumen aufgetrennt hatten, zogen wir die Fäden einzeln, einen nach dem andern, heraus. Diese Fäden knüpften wir zusammen und machten daraus eine gewisse Anzahl Bündel, aus denen wir dann zwei große Bündel zu je fünfzig Fäden und sechzig Fuß Länge anfertigten. Diese Bündel oder Strähnen wurden dann zusammengeflochten und ergaben ein Seil von ungefähr fünfundfünfzig Fuß Länge, aus dem wir eine Strickleiter von zwanzig Fuß herstellten. Nach Vollendung dieser Leiter nahmen wir das schwerste Stück Arbeit in Angriff, nämlich die Entfernung der Eisenstäbe im Kamin. Wir befestigten zu diesem Zwecke nachts die Strickleiter an diesen Stäben und erhielten uns vermittelst der Sprossen in der Luft, während wir die Enden der Stäbe aus der Mauer losarbeiteten: in weniger als sechs Monaten war uns dies mit allen gelungen. Wir brachten sie aber wieder derart an Ort und Stelle, daß wir sie in einem Augenblicke sämtlich entfernen konnten. Diese Arbeit kostete uns unendliche Mühe. Du lieber Himmel! wir stiegen nie herunter, ohne daß unsere Hände über und über mit Blut bedeckt waren. Unsere Körper befanden sich im Kamine in einer so gezwungenen Stellung, daß wir unmöglich eine volle Stunde arbeiten konnten, ohne einander abzulösen. Dabei mußten wir alle Augenblick mit dem Munde Wasser in die Löcher blasen, um den Mörtel zu erweichen, in den die Stäbe eingelassen waren, und wir waren schon sehr zufrieden, wenn wir in einer ganzen Nacht eine Linie von diesem Mörtel weggearbeitet hatten. Nachdem diese Arbeit beendet war, verfertigten wir eine hölzerne Leiter von zwanzig bis fünfundzwanzig Fuß Länge, um vom Graben auf die Brustwehr, wo die Posten standen, und von dort in den Graben steigen zu können. Man lieferte uns täglich mehrere Holzscheite zum Heizen, die achtzehn bis zwanzig Zoll lang waren. Aus diesen fertigten wir eine zwanzigsprossige Leiter an.

»Wir brauchten noch Flaschenzüge und viele andere Dinge. Unsere beiden Haspen waren zu einer solchen Arbeit nicht geeignet, und noch weniger konnte man Holz damit sägen. In weniger als zwei Stunden stellte ich aus einem eisernen Leuchter, den wir besaßen, und dem zweiten Stück des Feuerstahls eine ganz vortreffliche Säge her, mit der ich in einer Viertelstunde ein Scheit von der Dicke eines Mannsschenkels durchgesägt haben würde. Mit unserm Messer, der Säge und den beiden Haspen zerkleinerten wir nun unsere Holzscheite, glätteten sie, versahen sie mit Scharnieren und Zapfen, um sie aneinanderfügen zu können, und brachten an jedem Scharnier und jedem Zapfen zwei Löcher an, um eine Sprosse und zwei Pflöcke hindurchstecken zu können, damit das Ganze Halt bekäme. Sobald wir ein Stück von unserer Leiter fertig hatten, verbargen wir es zwischen den beiden Fußböden.

»Mit Hilfe der genannten Werkzeuge verfertigten wir uns einen Zirkel, ein Winkelmaß, ein Lineal, einen Haspel, Flaschenzüge, Leitersprossen u. s. w. u. s. w.

»Da tagsüber die Offiziere und Schließer nicht selten in das Zimmer traten, wenn wir gerade am wenigsten daran dachten, so mußten wir nicht bloß unsere Gerätschaften, sondern auch die kleinsten Holzspäne und Abfälle verbergen, weil das kleinste Stück uns verraten haben würde. Außerdem wußten wir, daß diese Herrn bisweilen leise herangeschlichen kamen, um zu hören, was die Gefangenen durch kleine Löcher, die sie an der Decke anbringen, einander mitteilen. Um nun jeder Überrumpelung vorzubeugen, gaben wir allen Dingen einen besondern Namen. Die Säge z. B. nannten wir Faun nach einer Waldgottheit der Römer, den Haspel Anubis nach einer Gottheit der alten Egypter, die der Nilmessung vorstand, die Haspen Tubalkain nach dem Erfinder der Schmiedekunst, das Loch zwischen den beiden Fußböden, in welchem wir unsere Sachen verbargen, Polyphem in Anspielung auf die Höhle des Riesen, von dem die Alten so viel gefabelt haben, die hölzerne Leiter Jakob im Hinblick auf die Leiter, deren die Heilige Schrift Erwähnung thut. Die Sprossen hießen Schößlinge, ein Strick eine Taube, weil sie nämlich weiß waren, ein Fadenbündel ein kleiner Bruder, das Messer, das aus dem Bruchstück des Feuerstahls hergestellt war, der Wauwau ( toutou) u. s. w. u. s. w. Wenn jemand in das Zimmer trat und wir hatten etwas zu verstecken vergessen, so nannte der entfernter Stehende dem näher Befindlichen den Namen der Sache: Faun, Anubis, Jakob, Tubalkain u. s. w., und der andere, der sogleich verstand, was das heißen sollte, warf nun sein Taschentuch, eine Serviette oder dergleichen darüber, kurzum, ließ verschwinden, was versteckt werden mußte. Wir waren beständig auf unserer Hut.

»Die hölzerne Leiter, die wir anfertigten, hatte nur einen Arm und war zwanzig bis fünfundzwanzig Fuß lang. Sie hatte zwanzig Sprossen von je fünfzehn Zoll Länge, der Arm selbst hatte drei Zoll im Durchmesser, demnach ragten also die Sprossen auf jeder Seite sechs Zoll weit vor. An jedem Stück der Leiter hatten wir die dazu gehörige Sprosse nebst dem Pflocke mit einem Faden befestigt, so daß wir uns unmöglich irren konnten, wenn wir sie in der Nacht zusammensetzten.

»Als die Leiter fertig war und wir sie geprobt hatten, verbargen wir sie im Polyphem, d. h. zwischen den beiden Fußböden.

»Nun machten wir uns an die Herstellung der Stricke zu der großen Leiter, die hundertundachtzig Fuß lang werden sollte. Wir zerzupften dazu unsere Hemden, unsere Handtücher, unsere Nachtmützen, unsere seidenen Strümpfe, unsere Socken, Unterhosen, Taschentücher u. s. w. Hatten wir eine Strähne von bestimmter Länge vollendet, so verbargen wir sie aus Furcht vor einer Überrumpelung in der Trommel. Als wir endlich eine genügende Anzahl von Strähnen fertig hatten, flochten wir in der Nacht das kostbare Seil zusammen: es war weiß wie Schnee, und ich wage zu behaupten, daß ein Seiler es nicht besser gemacht haben würde.

»Oben um die Bastille läuft ein Rand, der um drei oder vier Fuß über das untere Gemäuer hinausragt. Wir konnten nicht zweifeln, daß unsere Leiter bei jedem Schritte nach abwärts von einer Seite zur andern schwanken würde. Das sind Momente, wo selbst der stärkste Kopf vom Schwindel erfaßt werden kann. Um nun zu verhindern, daß einer von uns herabstürze und sich zerschmettere, fertigten wir ein zweites Seil von ungefähr dreihundertundsechzig Fuß Länge an. Dies Seil sollte durch einen Flaschenzug oder vielmehr durch eine Art Kloben ohne Rolle laufen, damit es sich nicht etwa zwischen der Rolle und den Wangen des Klobens einklemme und auf diese Weise einer von uns sich in der Luft festgehalten sähe, ohne weiter herabsteigen zu können. Nach Fertigstellung dieser beiden Seile verfertigten wir noch verschiedene Stricke von geringerer Länge, um unsere Strickleiter an einem der Geschütze befestigen zu können, und für andere unvorhergesehene Fälle.

»Als all diese Seilerarbeiten fertig waren, maßen wir sie: es waren vierzehnhundert laufende Fuß. Alsdann verfertigten wir zweihundertundacht Sprossen sowohl für die hölzerne wie für die Strickleiter, und damit die Sprossen der letztern beim Herabsteigen durch das Anschlagen an das Gemäuer kein Geräusch verursachten, versahen wir jede einzelne mit einem Futteral, das aus dem Futter unserer Schlafröcke, Jacken, Westen u. s. w. hergestellt wurde.

»Achtzehn Monate lang arbeiteten wir Tag und Nacht an der Zurüstung unserer Materialien.

»Aus unsern Bettdecken stellten wir schließlich noch Futterale für die beiden Eisenstangen her, deren wir uns zur Durchbrechung des Gemäuers bedienen wollten.

»Das war alles, was wir brauchten, um durch den Kamin auf die Türme zu gelangen, um in den Graben hinabzusteigen, um die Brustwehr zu erklettern, um von dort in den Garten des Gouverneurs zu gelangen und aus diesem Garten mit Hilfe unserer hölzernen Leiter in den großen Graben der Porte Saint-Antoine hinabzusteigen, wo wir in Sicherheit sein mußten. Wir mußten eine stürmische, regnerische, sternenlose Nacht wählen – aber wir hatten ein furchtbares Unglück zu fürchten: wenn es nämlich von fünf Uhr abends bis neun oder zehn Uhr nachts regnete, und dann das Wetter sich aufklärte. Alle Schildwachen gehen dann rings um die Bastille, d. h. jedesmal von einem Posten bis zum andern: in diesem Falle aber waren alle unsere Materialien verloren, und um die Scene noch rührender zu machen, um uns zu trösten, hätte man uns ins Verließ gesteckt, und dann würden wir während der ganzen Zeit, welche die Marquise von Pompadour noch am Hofe blieb, auf das Strengste bewacht worden sein. Diese Besorgnis machte uns viel zu schaffen. Endlich fand ich ein Mittel, dies Unglück zu verhüten. Ich machte meinem Unglücksgefährten Allegre begreiflich, daß seit der Zeit, wo die Mauer zwischen dem Hôtel des Gouverneurs und dem Garten aufgeführt worden war, die Seine mindestens dreihundert Mal ausgetreten sein mußte, daß das Wasser jedesmal das im Mörtel oder Gypse enthaltene Salz um wenigstens eine Linie tief aufgelöst haben mußte, und daß es uns folglich leicht sein würde, ein Loch in diese Mauer zu brechen, um ohne Gefahr hinauszukommen. Ich machte ihm ferner begreiflich, daß wir damit zustande kommen würden, wenn wir von unsern Betten eine Haspe losrissen, im Kreuz einen festen Stiel daran befestigten, der uns als Handhabe dienen würde, um mit der Haspe Löcher in den Gyps des Gemäuers zu bohren, und dann die Spitzen der beiden Eisenstangen in diese Löcher einsetzten, denn alsdann würden wir nach dem Gesetze des Hebels mit vereinten Kräften einen Druck von mehr als hundert Zentnern erzeugen und folglich diese Mauer, die den Graben der Bastille von dem der Porte Saint-Antoine trennt, mit Leichtigkeit durchbrechen können und dabei tausend Mal weniger Gefahr laufen, als wenn wir auf dem zuerst erwähnten Wege hinauszukommen suchten. Allegre stimmte dem bei, indem er noch bemerkte, wenn das letztere Mittel fehlschlüge, so bliebe ja das erste immer noch zu versuchen, und demzufolge versahen wir die beiden Eisenstäbe mit Futteralen, nahmen eine Haspe aus einem der Betten und verfertigten eine Handhabe dazu. Als alles fertig war, beschlossen wir, gleich am folgenden Tage, einem Mittwoch, den 25. Februar 1756, den Tag vor dem grünen Donnerstag, unsern Plan ins Werk zu setzen. Der Fluß war gerade ausgetreten, und im Graben der Bastille wie in dem der Porte Saint-Antoine standen drei bis vier Fuß Wasser.

»Außer meinem Koffer besaß ich noch einen Mantelsack aus Leder, d. h. aus Kalbsfell. Da wir nicht bezweifeln konnten, daß das Zeug, welches wir auf dem Leibe trugen, durchnäßt werden würde, so packten wir in diesen Mantelsack einen vollständigen Anzug für jeden von uns nebst dem Besten, was wir sonst noch besaßen, bis er voll war. Am andern Tage hatte man uns kaum das Mittagessen gebracht, als wir schon unsere große Strickleiter fertig zu machen begannen, d. h. wir setzten die Sprossen ein. Dann verbargen wir sie zwischen unsern beiden Betten, damit sie nicht dem Schließer in die Augen fiele, wenn er uns das Abendbrot brächte. Hierauf ordneten wir die hölzerne Leiter in drei Teile und packten dann, da wir sicher waren, daß am Nachmittage keine Visitation stattfinden würde, die übrigen Sachen, deren wir bedurften, in mehrere Packen zusammen. Die beiden Eisenstangen, die wir zum Durchbrechen der Mauer brauchten, hatten wir bereits herausgenommen und in die Futterale gesteckt, damit sie beim Herablassen kein Geräusch verursachten. Außerdem steckten wir noch eine Flasche Lebenswasser ein, um uns zu erwärmen und zu stärken, falls wir bis an den Hals im Wasser stehend arbeiten müßten. Dies Stärkungsmittel war von größter Notwendigkeit für uns, denn ohne diesen Liqueur würden wir es nie neun Stunden lang in dem eiskalten Wasser ausgehalten haben.

»Endlich war der verhängnisvolle Augenblick gekommen. Kaum hatte man uns das Abendessen gebracht, als ich trotz rheumatischer Schmerzen im linken Arm im Kamin in die Höhe zu klettern begann. Es kostete mir die größte Mühe, die Mündung des Schornsteins zu erreichen. Der Rußstaub erstickte mich fast, denn ich kannte die Vorkehrungen nicht, welche die Essenkehrer dagegen treffen. Auch hatte ich keine Schutzleder an den Ellbogen und den Knieen: infolge dessen wurden die Ellbogen und Kniee geschunden, und das Blut lief mir über die Hände und an den Beinen herab. Als ich endlich oben angelangt war, setzte ich mich rittlings auf die Schornsteinmündung und ließ ein Knäuel Bindfaden, das ich in die Tasche gesteckt hatte, in den Kamin hinunterrollen, indem ich das eine Ende in der Hand behielt. An diesen Bindfaden befestigte mein Gefährte das Ende eines Stricks, an den mein Mantelsack angebunden war. Nachdem ich das Ende des Stricks in der Hand hatte, zog ich den Mantelsack zu mir herauf, band ihn los und warf ihn auf die Plattform des Turmes. Dann ließ ich den Strick von neuem in den Kamin hinunter und zog nun nacheinander die hölzerne Leiter, die beiden Eisenstangen und die übrigen Bündel herauf. Als alles dies oben war, ließ ich den Strick zum letztenmale hinab, um die Strickleiter heraufzuholen. Ich zog das längere Ende an mich und ließ nur soviel im Kamin, wie zum Heraufsteigen nötig war. Auf ein Signal, das mir mein Gefährte gab, hielt ich inne, steckte eine dicke Sprosse, die wir ausdrücklich zu diesem Zwecke angefertigt hatten, durch das Seil und legte sie dann quer über die Schornsteinöffnung, so daß Allegre mit Bequemlichkeit heraufsteigen konnte. Nun zogen wir die Leiter vollends herauf, warfen das letzte Ende auf der entgegengesetzten Seite des Kamins herunter und stiegen beide gleichzeitig auf die Plattform der Bastille herab.

»Zwei Pferde hätten unser Fluchtgerät nicht zu tragen vermocht. Wir begannen damit, daß wir unsere Strickleiter zusammenrollten: das ergab eine Walze von vier Fuß Höhe oder Durchmesser und einem Fuß Dicke. Diese Walze rollten wir auf den Schatzturm, der uns für die Niederfahrt am geeignetsten erschienen war. Dort banden wir die Leiter an ein Geschütz und ließen sie dann langsam in den Graben hinabgleiten. Daneben befestigten wir den Flaschenzug und schoben das Seil hinein, welches dreihundertsechzig Fuß lang war.

»Nachdem wir alle unsere Bündel auf den Schatzturm geschafft hatten, band ich mir das Seil des Flaschenzugs um den Leib und begab mich auf die Leiter. Mein Gefährte ließ das Seil allmählich nach, aber trotz dieser Vorsichtsmaßregel glich mein Körper bei jedem Schritt nach abwärts einem Hirschkäfer, der in der Luft herumtanzt. Ich glaube, wenn es Tag gewesen wäre, so würde sich unter tausend Personen, die mich auf diese Weise hätten tanzen und taumeln sehen, keine einzige gefunden haben, die nicht Gebete für mich zum Himmel emporgesandt hätte, daß ich nicht herabstürzen und mich zerschmettern möchte. Endlich kam ich heil und unversehrt unten im Graben an. Mein Gefährte ließ nun sofort meinen Mantelsack herunter, den ich am Fuße des Turmes niederlegte, weil sich dort eine kleine, spitz zulaufende Erhöhung befand, die über das Wasser hervorragte; dann ließ er die beiden Eisenstangen, die hölzerne Leiter und alles übrige Gepäck denselben Weg machen und band sich schließlich ebenfalls das Seil des Flaschenzugs um den Leib. Sobald er auf die Leiter trat, steckte ich den einen Schenkel zwischen zwei Sprossen hindurch, damit sie nicht schwanke während seiner Niederfahrt, und ließ dabei langsam das Seil nach, das die doppelte Höhe der Türme in der Länge hatte.

»Da es während dieser Zeit nicht regnete, ging der Posten auf dem Gange oder der Brustwehr in einer Entfernung von höchstens sechs Klaftern auf und ab. Dies hinderte uns, auf die Brustwehr und von dort in den Garten zu steigen. Wir sahen uns also gezwungen, uns unserer Eisenstangen zu bedienen, und das war auch das Sicherste. Ich nahm also die eine nebst der Zwinge auf die Schulter, und mein Gefährte nahm die andere. Ich vergaß auch nicht, das Lebenswasser in die Tasche zu stecken, denn ohne diese Flasche würden wir der Anstrengung unterlegen sein. Wir gingen gerade auf die Mauer los, die, zwischen dem Gouvernement und dem Garten, den Graben der Bastille vom Graben der Porte Saint-Antoine trennt. An dieser Stelle befand sich früher ein kleiner Graben von etwa einer Klafter Breite und ein bis zwei Fuß Tiefe. Da der Fluß ausgetreten war, standen wir eben wegen des kleinen Grabens gerade an dieser Stelle bis an die Achseln im Wasser. In dem Augenblicke, wo ich eben mit der zum Bohrer umgeschaffenen Haspe zwischen zwei Quadern ein Loch in den Mörtel bohren wollte, damit wir unsere Eisenstangen einklemmen könnten, ging, höchstens zehn bis zwölf Fuß über unsern Köpfen, die Hauptrunde mit ihrer großen Stocklaterne vorüber: damit man uns nicht entdecke, mußten wir bis ans Kinn ins Wasser tauchen. Nachdem diese Runde vorüber war, hatte ich bald mit Hilfe unseres Bohrers zwei Löcher für die Eisenstangen in den Gyps gebohrt. Die Stangen wurden eingesetzt, und der Quaderstein, den wir in Angriff genommen hatten, war im Nu ausgehoben. Von diesem Momente an, versicherte ich meinen Genossen des besten Erfolgs. Da wir bis an den Hals in eiskaltem Wasser standen, so froren wir: um uns zu erwärmen, tranken wir einen tüchtigen Schluck Lebenswasser und nahmen dann einen zweiten Stein in Angriff, der unsern Anstrengungen mit derselben Leichtigkeit nachgab. Als wir uns eben an den dritten machen wollten, ging eine zweite Runde vorüber, wir mußten also abermals bis ans Kinn ins Wasser tauchen und diese Feierlichkeit jedesmal wiederholen, wenn eine Runde zehn bis zwölf Fuß über unsern Köpfen vorüberkam. Noch vor Mitternacht hatten wir bereits mehr als zwei Karren voll Steine losgebrochen.

»Was jetzt folgt, ist wie alles übrige die reinste Wahrheit: ich bin weit davon entfernt, Gelächter erregen zu wollen. Da wir hörten, daß die Schildwache über uns auf und ab ging, die Trümmer aber, die vor und neben dem Loche lagen, uns hinderten, unterzutauchen, so waren wir gezwungen, uns auf den Rücken zu werfen. Mit einemmale stand die Schildwache über uns still: wir glaubten, sie hätte etwas gesehen oder gehört, und hielten uns schon für verloren. Einen Augenblick später aber schlug sie gerade über meinen Kopf und mein Gesicht ihr Wasser ab: am hellen Tage und mit Vorbedacht hätte ihr das nicht besser gelingen können – nicht ein Tropfen ging verloren. Als der Posten wieder weg war, flüsterte ich meinem Gefährten ins Ohr: »Der unverschämte Kerl hat mir da eben ins Gesicht gep..., aber hätte er mir auch noch ganz etwas anderes auf die Nase gesetzt, ich würde doch keinen Laut von mir gegeben haben.« – »Das glaube ich wohl,« erwiderte mir Allegre. Da meine Mütze völlig durchnäßt war, warf ich sie ins Wasser und wusch mir das Haar aus, um den Uringeruch zu entfernen. Dann tranken wir jeder einen tüchtigen Schluck Lebenswasser, um unsere Furcht zu besänftigen und unsere Kräfte wieder zu beleben. Während der Niederfahrt auf der Strickleiter hatten wir beide nicht soviel Furcht vor dem Tode gehabt wie vor dieser Schildwache. Endlich, in weniger als acht und einer halben Stunde, durchbrachen wir diese Mauer, die nach dem Berichte des Majors vier und einen halben Fuß dick ist. Ich gab nun Allegre auf, sogleich durch das Loch zu kriechen und beim geringsten Geräusche zu entfliehen, falls mir beim Nachholen des Mantelsacks, den ich am Fuße des Schatzturmes zurückgelassen hatte, ein Unglück zustoßen sollte. Glücklicherweise fiel aber nichts dergleichen vor. Ich holte den Mantelsack, gab ihn durch das Loch und kroch dann selbst nach, indem ich alle die Gerätschaften, die uns so unendlich viel Mühe gekostet hatten, ohne Bedauern preisgab.

»Im großen Graben der Porte Saint-Antoine glaubten wir völlig außer Gefahr zu sein. Ich nahm nun das eine Ende des Mantelsacks, Allegre das andere, und so begannen wir den Graben zu durchschreiten, um die Rue de Bercy zu gewinnen. Kaum aber hatten wir fünfundzwanzig Schritte zurückgelegt, als wir beide zu gleicher Zeit in den Kanal fielen, der sich mitten in dem großen Graben befindet: das Wasser ging uns mindestens zehn Fuß über den Kopf. Anstatt nun der andern Uferseite zuzustreben – denn der Kanal ist nur sechs Fuß breit – läßt mein Gefährte den Mantelsack fahren, um sich an mich anzuklammern, der bis an die Kniee im Schlamme steckte. Sobald ich mich angepackt fühlte, versetzte ich ihm einen Faustschlag, der ihn zum Loslassen zwang, und klammerte mich im selben Augenblick an der andern Seite fest. Dann fuhr ich mit dem Arm ins Wasser, ergriff ihn bei den Haaren und zog ihn an meine Seite. Ich legte ihn nun so, daß sein Kopf über Wasser war und er Atem holen konnte, und befahl ihm, dort zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren, während ich dann meinen Mantelsack nachholte, der auf dem Wasser schwamm. Eben an dieser Stelle nun waren wir völlig außer Gefahr, hier erreichte die fürchterliche nächtliche Arbeit ihr Ende. Dreißig Schritte weiter hat der Graben eine Abdachung, und dort waren wir auf dem Trocknen. Nun umarmten wir uns und warfen uns auf die Kniee, um Gott für die Gnade, die er uns erwiesen hatte, indem keiner von uns beiden bei der Niederfahrt von der Strickleiter gestürzt war, und für die Freiheit zu danken, die er uns zurückgegeben hatte.

»Unsere Strickleiter stimmte so genau, daß sie auch nicht um einen Fuß zu kurz oder zu lang war. Man hätte das Ganze am hellen Tage von den Türmen der Bastille aus nicht genauer abmessen können, als ich es mit Hilfe der Mathematik berechnet hatte. Dabei hatten wir alles so vortrefflich eingerichtet, daß auch nicht ein einziges Stück Seil oder Strick sich verwickelt hatte. Alles, was wir auf dem Leibe trugen, war natürlich bis auf den letzten Faden durchnäßt: aber, wie schon gesagt, auch für dies Unglück waren Vorkehrungen getroffen, indem wir zwei Anzüge in meinen Mantelsack gepackt und schmutzige Hemden darum gewickelt hatten. Alles dies war so gut eingerichtet, daß das Wasser nicht hatte eindringen können.

»Durch das Losreißen und Herausziehen der Steine beim Durchbrechen der Mauer war uns die Haut von den Händen gegangen. Außerdem froren wir, was man kaum glauben wird, weit weniger, so lange wir bis an den Hals im eiskalten Wasser standen, als jetzt, wo wir draußen waren: ein Zittern durchschüttelte unsern ganzen Körper, und die Hände erstarrten uns. Ich mußte daher zunächst meinem Gefährten beim Umkleiden als Kammerdiener behilflich sein, und alsdann versah er diesen Dienst bei mir. Als wir die Rampe des Grabens hinaufstiegen, um die offene Straße zu gewinnen, schlug es fünf Uhr.«

Soweit Latude. Wir fügen noch hinzu, daß Allegre bereits nach vier Wochen in Brüssel von neuem ergriffen und schon am 29. März 1756 wieder in die Bastille eingeliefert wurde. Der Gram machte ihn wahnsinnig, und am 1. Juli 1764 wurde er nach Charenton geführt, wo er sich noch im Juni 1788 befand. Latude, der in der Bastille den Namen Danry führte, fiel der französischen Polizei nach fünf Monaten in Holland von neuem in die Hände und wurde nun nach Vincennes geführt. I. J. 1784 freigelassen, erlebte er noch die Genugthuung, die Bastille zerstört und seine denkwürdige Strickleiter, die im Archive des Schlosses aufbewahrt worden war, nebst seinem Porträt während der Monate August und September 1789 im Louvre ausgestellt und vom Publikum angestaunt zu sehen.

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