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M.
Das Begräbnis in der Bastille.

Die Auffindung von Knochenresten und ganzen Skeletten bei der Demolierung der Bastille erregte keine geringe Sensation und gab zu allerlei schauerlichen Vermutungen und Gerüchten Anlaß. Wir teilen zunächst den aktenmäßigen Thatbestand nach Dusaulx ( De l'insurrection parisienne, p. 400 et suiv) mit.

»Zu Anfang Mai 1790,« erzählt Dusaulx, »machte ich mich mit Herrn Souberbielle Stabsarzt der Freiwilligen von der Bastille.
Dusaulx.
auf, um zu sehen, wie es mit dem Abbruch der Bastille stände. Der Abbruch des Schlosses war zwei Tage nach der Einnahme von der Wählerversammlung angeordnet worden. »Der Ausschuß,« heißt es im Protokoll der Sitzung vom 16. Juli, »hat beschlossen, daß die Bastille von allen Distrikten zusammen, aber unter Aufsicht des Distrikts Saint-Louis-de-la-Culture abgebrochen werden soll. Der Befehl zum Abbruch ist unverzüglich von den Stadttrompetern im Namen des Herrn Marquis die Lafayette im Hofe des Stadthauses und an allen Straßenecken von Paris öffentlich ausgerufen worden.«
D. Übers.
Das Schloß war bis auf die Verließe geschleift.

»Man machte uns auf eine graue Erdart aufmerksam, die aus ausgetrockneten Latrinen, die man geleert hatte, ausgehoben worden war, und wies uns auf eine große Menge von Knochen hin, die zur Mehrzahl zerbröckelt oder in der Auflösung begriffen waren. Beim Suchen indessen fanden wir darunter ein noch ziemlich gut erhaltenes Schienbein ... Menschliche Gebeine in Latrinen!

»Von dort begaben wir uns nach der Bastion, deren gewölbte Außenfläche sonst nur Rosen, Jasmin und blühende Stauden trug: es war das die Promenade des Gouverneurs, die er den Gefangenen gestohlen hatte. Wenn man bedenkt, daß unter den Blumen und den Gebüschen die Abgründe des Todes verborgen waren!

»Der Abbruch dieser Bastion war schon soweit vorgeschritten, daß wir durch die breiten Einschnitte, die man darin gemacht hatte, lange Gänge und Treppen unterscheiden konnten, deren geneigte Wölbungen in diesem fürchterlichen Bienenkorb von Kerkerzellen, dessen Dasein noch niemand geahnt hatte, umliefen und hinauf- und hinabstiegen.

»Der Distrikt Saint-Louis-de-la-Culture hat nun das Dasein dieser Verließe auf authentische Weise feststellen lassen, und deshalb wollen wir hier das Protokoll darüber anführen.

»Wir stiegen über die Trümmer hinab,« heißt es darin, »und fanden eine Doppeltreppe aus Kalkstein; jeder Arm derselben war vier Fuß breit. Diese Arme waren aber an mehreren Stellen durchbrochen und führten in verschiedene Höhlungen.

»Am Fuße der Treppe wurden wir zunächst einen Kadaver gewahr, um den herum verschiedene Arbeiter mit vieler Vorsicht die Erde aufwühlten. Der Kopf des Skeletts ruhte, etwas höher, als der übrige Teil, der eine etwas geneigte Lage hatte, auf dem Grundgemäuer der Treppe, am Fuße der untersten Stufe.

»Das Ganze war mit einem leichten Mauerwerk aus Steinen von etwa zwei Zoll Dicke auf neun. Zoll Breite umgeben. Diese Steine standen auf der hohen Kante.

»Den Knochen nach zu urteilen, schienen die Überreste einem Manne von fünf Fuß acht Zoll anzugehören. Wir gewahrten Spuren von Kalk und wunderten uns daher nicht, daß das Fleisch und die Knorpel völlig zerstört waren. Die Knochen selbst waren noch ziemlich gut erhalten. Über der linken Schläfe befanden sich noch einige Haare. Die sehr gesunden und fest in ihren Höhlen sitzenden Zähne deuteten auf einen Mann von dreißig bis vierzig Jahren und könnten zu dem Glauben bringen, daß der Leichnam noch nicht sehr alt war; indessen geben wir dies nur als eine bloße Mutmaßung.

»Zur rechten Seite des Skeletts fand sich eine Kanonenkugel im Gewichte von sechsundfünfzig Pfund, die mit einer dicken Kruste umgeben war, welche sich ohne Zweifel infolge der Feuchtigkeit der umgebenden Körper gebildet hatte. Man darf annehmen, daß diese Kugel nicht zufällig an diese Stelle gelangt, sondern absichtlich dorthin gelegt worden ist, um die Person zu kennzeichnen, die, gleichviel auf welche Weise, ihre Tage in diesen entsetzlichen Verließen beschlossen hat. Vielleicht werden der weitere Verlauf der Arbeit oder andere Anzeichen uns dies Geheimnis enthüllen.

»Alle diese Gebeine wurden auf einem Brette in einen kleinen Keller getragen, wo bereits ein anderes Skelett am Charfreitag aufgefunden worden war, das ungefähr aus derselben Zeit herzurühren scheint, wie das vorstehend besprochene. Es ruhte auf den Stufen der erwähnten Treppe, mit dem Kopfe nach unten.

»Dies zweite Skelett lag mit den Füßen dem Kopfe des ersten zugekehrt. Es war etwa ein und einem halben Fuß von demselben entfernt, lag aber ein wenig höher. Steine in Sargform umgaben es nicht, sondern es war einfach an der Westseite des Kellers an die Mauer angelehnt und auf die linke Seite gebettet.

»Die Knochen waren infolge des Herabfallens des Erdreichs und des Regens, der die Arbeit unterbrach, nicht so gut erhalten. Die Zähne waren noch vollzählig und steckten fest in ihren Höhlen. Man dürfte vielleicht annehmen, daß dies Skelett älter ist als das erste. Nach den Knochen zu urteilen, scheint die Gestalt etwa fünf Fuß drei Zoll Höhe gehabt zu haben.«

So weit das von Dusaulx mitgeteilte Protokoll. Carra zufolge ( t. III, p. IV) wurde später in dem Erdreich zwischen zwei Verließen noch ein drittes Skelett gefunden, das dem Urteil Sachverständiger zufolge etwa dreißig Jahre in der Erde gelegen haben mochte. Nach alledem läßt sich nicht bezweifeln, daß wirklich in der Bastion Leichen verscharrt worden sind. Nun weiß man aber, daß in der Regel der Friedhof Saint-Paul als Begräbnisplatz für die in der Bastille verstorbenen Personen diente. Es fragt sich also: geschah das Begräbnis in der Bastion amtlich oder willkürlich, und in welchen Fällen fand es statt? Das für die Geschichte der Bastille unschätzbare Tagebuch des Kommandanten du Junca gewährt auch in diesem Falle hinreichende Auskunft. Wir citieren daraus folgende beiden Stellen:

»Am Sonntag, 21. November [1794], gegen 2 Uhr nachmittags, ist die Frau de Cailloué, Witwe und Buchhändlerin zu Rouen, verstorben, in Gegenwart ihrer Tochter, die nur zu ihrer Bedienung hier ist. Hat ihre Krankheit verhehlt, und da sie in der Absicht, sie ruhig in ihrer Religion sterben zu lassen, erst jemand benachrichtigte, nachdem sie tot war, habe ich auf der Stelle Herrn de la Reynie in Kenntnis gesetzt, und der hat mir gesagt, daß ich die Tochter in Gewahrsam nehmen lassen sollte, und daß er den Rat beim Châtelet, Herrn Bellin, zur Besichtigung der Leiche der Frau herschicken würde.

»Da Herr de la Reynie seine erste Absicht änderte, hat er den Herrn Kommissar Labbé zur Besichtigung der Leiche geschickt, und die habe ich dann am Montag, 22., um acht Uhr abends in den Kasematten der Bastion des Schlosses beerdigen lassen.«

Ferner: »Am Freitag, 24. April 1705, um 3 Uhr nachmittags, ist Herr Mestrezat, Greis, Schweizer und reformierter Prediger, nach sehr langem Krankenlager an seiner Krankheit verstorben; hat nichts von seiner Bekehrung und Religionswechsel hören, sondern fest in der protestantischen sterben wollen, und hat man ihn am selben Tage, um 9 Uhr abends, in den Kasematten der Bastion des Schlosses der Bastille beerdigen lassen.«

Aus diesen Vermerken du Juncas erhellt, erstens daß die Kasematten der Bastion ein sozusagen offizieller Begräbnisplatz der Bastille waren, zweitens daß dort solche Tote beerdigt wurden, die als Ketzer nicht in geweihter Erde ruhen durften, und drittens, daß diese Begräbnisse zur Nachtzeit stattzufinden pflegten. Dieser letztere Umstand erklärt das Vorkommnis, das Linguet in etwas romantischer Übertreibung auf S. 187 schildert. In früherer Zeit mag man die Ketzerleichen auch wohl kurzweg in die Latrinen geworfen haben. Die aufgefundenen Knochen und vollständigen Skelette bilden also auf keinen Fall einen ausreichenden Beweis für etwa in der Bastille gegen das Leben der Gefangenen verübte Verbrechen.

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