Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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V

Das Osterfest mit seinem ununterbrochenen Glockengeläut war vorbei; vor der Stadt flossen die Bäche von den Hügeln, die Zieselmäuse tollten umher, die Auerhähne hatten auf schneefreien Lichtungen gebalzt und die Schneeglöckchen geblüht, und unsere Freunde saßen noch immer in der Stadt. Marina saß nicht einmal, sondern lag, bald dahindämmernd, bald wachend. Man konnte ihr aber unmöglich die Absicht ausreden, zum Totengedenktag auf den Friedhof hinauszufahren; sie war am Vorabend so aufgeregt, daß der Arzt achselzuckend sagte: »Versuchen Sie es, man kann ihr diesen vielleicht letzten Wunsch nicht gut abschlagen.« Marina war fröhlich und schien auch rüstiger; man mußte vor ihren Augen einige rote Ostereier und ein Stück trockenen Osterkuchen in ein Tuch einbinden, und sie fuhr, von Jossif und Sonja begleitet, in einer Mietskutsche zum Friedhof. Als man sie die Stiege hinuntertrug, lachte sie und scherzte:

»Wartet, wenn wir zurückkommen, lauf ich die Treppe schon selbst hinauf.«

»Schön, wir werden Ihnen nicht helfen, merken Sie sich das!«

Sie ließ die Wagenfenster öffnen und blickte gierig auf die Häuser, die trockenen Bürgersteige, Straßenlaternen und Passanten hinaus, als sähe sie dies alles zum erstenmal.

»Mein Gott, wie lange war ich nicht mehr auf der Straße! Hier, wo früher ein Wurstladen war, ist jetzt ein neumodisches Friseurgeschäft: die Gehilfen sind Geschäftsteilhaber und nehmen keine Trinkgelder an.« Marina lachte plötzlich auf: »Alles macht man jetzt auf neue Manier!«

Sooft sie an einer Kapelle oder Kirche vorbeifuhren, wollte sie sehen, was für Heiligenbilder innen hingen, und ärgerte sich, wenn es ihr nicht gelang.

»In Petersburg kennt man nicht die Sitte, die Ikonen draußen auf der Straße anzubringen wie in Moskau, auch alte Bilder sind dabei. Mir gefällt das!«

Als der Wagen sich dem Stadtrand näherte, fiel Marina entkräftet in die Lehne zurück und schloß die Augen.

»Bist du müde, Marina?« fragte Sonja.

»Ja, ein wenig.«

»Wir sind bald da.«

»Ich weiß.«

Jossif sagte:

»Weißt du noch, Sonja, im vorigen Jahr um diese Zeit fing ich eben an, mich zu erholen, und ging zum erstenmal aus.«

»Ja, und dann machten wir eine Fahrt durch die Seen.«

»Ich sah damals zum erstenmal Andrej. Und bald darauf begann mein Roman mit Katja. Um Maria Schutz und Fürbitte, kurz davor, hatte man den Pawel ermordet. Und vier Wochen später die Tante.«

»Es war eine schwere Zeit«, sagte Sonja.

»Wie seltsam doch alles ist: meine Heirat, dieser Winter und alles andere, und alles scheint zum gleichen Ziel zu führen! Wenn Katja eine andere wäre, wer weiß, wie es jetzt stünde.«

»Dann würde Jossif Grigorjewitsch ruhig und ohne Sorge leben, würde mit uns nicht verkehren und wäre glücklich.«

»Bin ich denn jetzt unglücklich?«

Der Wagen hielt schon vor einem schmalen, von einem achtendigen MessingkreuzDas ›Russische Kreuz‹ der Altgläubigen hat drei Querbalken, also acht Enden. bekrönten Tor. Marina bekreuzigte sich und wollte selbst, ohne fremde Hilfe aus dem Wagen steigen, als ob sie an ihre Krankheit gar nicht dächte; man mußte sie aber an den Armen führen. Vor Schwäche bewegte sie die Beine mit großer Mühe und ärgerte sich, daß sie nicht so, wie sie wollte, über das grüne Gras laufen konnte. Sie wiederholte einigemal »Gra-as, Gra-as!« und verstummte. Sie blieb lauschend stehen und blickte unverwandt auf das erste frische Grün der Grabhügel. Auch ihre Begleiter standen schweigend an ihrer Seite.

»Wie wunderbar: wenn man ein Wort immer wiederholt, wenn es einem in die Seele dringt, so begreift man alles an ihm. Schau einmal, Sonja, auf die Blume, wiederhole hundertmal ihren Namen und richte auf sie alle deine Sinne, dann wirst du begreifen, was sie bedeutet, wirst wissen, wie sie lebt, als ob du alle Bücher durchgelesen hättest, wo diese Blume beschrieben ist, nur wiedererzählen kannst du es nicht. Ebenso muß man die Gebete verstehen, ihre Worte und was sie bedeuten, aber auch ein Drittes, was ihnen die Kraft gibt. Wenn du tausendmal ausrufst: ›Herr, Jesus Christus, Gottes Sohn, erbarme Dich unser‹, so wirst du darum auch die ganze Kraft der Worte erfassen und wirksam die Gnade herbeirufen. Gras, Gras, Himmel, Erde, Grab!«

Als sie das Grab ihrer Mutter erreichte, verneigte sie sich ohne fremde Hilfe siebenmal bis zur Erde, band schweigend das Tuch auf, holte ein rotes Ei heraus, berührte damit dreimal die Erde und rief laut: »Mütterchen, Christ ist erstanden!« Dann schälte sie das Ei, zerkrümelte es ebenso wie den Osterkuchen und verneigte sich wieder, während die Vögel auf den noch nackten Zweigen tschilpend flatterten und warteten, daß die Menschen endlich weggingen.

Da Marina sich lange nicht erhob, berührte Sonja sie und sagte leise:

»Marina, das ist für dich zu ermüdend, steh auf, setz dich auf die Bank.«

Marina antwortete nicht und rührte sich nicht.

Sonja versuchte ihr auf die Beine zu helfen und sagte:

»Jossif, geh zum Wächterhäuschen und hole Wasser, sie ist ohnmächtig.«

Jossif suchte lange und aufgeregt nach Wasser, und als er endlich mit einer Karaffe zurückkam, sah er Marina noch immer auf dem grünen Grabhügel liegen. Sonja aber war kreidebleich, hielt einen Finger vor die Lippen und flüsterte:

»Still, Joseph, sie ist tot!«

Die Karaffe fiel ohne zu klirren auf den Boden. Als die Vögel sahen, daß die drei Menschen sich nicht rührten, flogen sie zu den Krümeln herab und begannen, die Hälschen reckend und ab und zu fein piepsend, sie aufzupicken.


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