Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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IV

Jossif fuhr gegen Abend nach Polischtscha. Um das Pferd zurückschicken zu können, hatte er Parmen mitgenommen. Aufmerksam, mit neuem Gefühl musterte er die große Figur des Kutschers und sein rotbackiges Gesicht mit dem langen schwarzen Schnurrbart, den rasierten Nacken und die großen Ochsenaugen, die er fast immer gesenkt hielt. Parmens Gesicht war wie gewöhnlich ernst und voller Würde. Jossif schien sein nächtliches Erlebnis ein Traum zu sein, er wollte gern danach fragen, wußte aber nicht, wie er es anfangen sollte; schließlich fragte er:

»Hinkt der Hengst noch?«

»Er hinkt.«

»Zum Veterinär bist du geritten?«

»Jawohl.«

»Hast du viel zu tun, Parmen?«

»Genug.«

»Nun, wir fahren ja bei Nacht nicht aus, wie es die andern tun.«

»Nein, das tun wir nicht.«

»Wir können nach Herzenslust schlafen.«

»Gewiß.«

Jossif schwieg eine Weile und begann wieder:

»Geht's deiner Frau Arina gut?«

»Es geht ihr schon gut. Warum soll es ihr nicht gut gehen?«

»Ich habe dich gestern gesehen, Parmen.«

»Wie meinen?«

»Ich sage, daß ich dich gestern gesehen habe, wie du nachts durch den Korridor von Tantchen kamst.«

Parmen errötete und schwieg; Jossif saß dicht neben dem Kutscher und betrachtete unverwandt ihn und seine Lippen, mit denen er gestern Tantchen geküßt hatte. Parmen sagte schließlich:

»Wenn Sie es gesehen haben, so brauch ich's nicht zu leugnen. Sagen Sie aber dem gnädigen Fräulein lieber nichts davon, daß Sie mich gesehen haben, Herr: es nützt niemand. Sie bringen sie nur in Verlegenheit.«

»Ich denke gar nicht daran, es ihr zu sagen. Sie ist aber schon recht alt, die Tante?«

»Ja, jung ist sie nicht«, antwortete Parmen mürrisch und begann von andern Dingen zu reden.

Unter schwankenden Brücken rauschten schnelle Bäche dahin, aber auf den Sümpfen und Pfützen schimmerte schon das erste, von einem Kreismuster bedeckte Eis.

Jossif Grigorjewitsch, der einen bestimmten Gedanken nicht los werden konnte, begann:

»Hör einmal, Parmen, verschaffst du mir vielleicht . . .«

Er kam nicht weiter.

Der Kutscher, als hätte er dasselbe gedacht, lachte auf und fragte mit gesenkter Stimme:

»Ein Mädel?«

»Ja«, bestätigte der junge Herr kaum hörbar.

»Wird schon gehen.«

»Gib dir etwas Mühe . . .«

»Sie können ruhig sein.«

»Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch dort droben?«

klang es plötzlich aus dem Wald; die Fahrenden hielten an.

»Das wird Vater Pjotr sein; man sollte ihn rufen, sonst treibt er sich bis zum Abend hier herum, und wir fahren umsonst hin.«

»Geht er so gern spazieren?«

»Sogar sehr gern.«

»Jagt er?«

»Kaum, er streift mehr so umher.«

Auf ihre Rufe kam Antwort ganz aus der Nähe, und bald darauf trat Vater Pjotr aus dem Wald, die Kutte hochgerafft, einen Stock in der Hand, grauhaarig und rotbackig; Eis und dünne Zweige knackten unter ihm.

»Wir haben Sie schon aus der Ferne singen hören.«

»Ja, ich hab wohl gesungen; plötzlich höre ich Pferdegetrappel und Rädergerassel und strebte gerade auf Sie zu.«

»Wir wollen zu Ihnen; sind Sie jetzt frei?«

»Ich bin frei, frei in Christo; herzlichst willkommen! Lassen Sie den Parmen fahren, wir gehen zu Fuß weiter: es ist nicht weit, ich führe Sie den kürzesten Weg, es sind nur eineinhalb Werst. Wir gehen den Pfad der wilden Tiere, alle Sümpfe sind eingefroren.«

Sie gingen durch den stillen, herbstlichen Wald, hier und da schwerfälliges Wild aufscheuchend und auf dem bereiften Boden ausgleitend. Vater Pjotr redete ununterbrochen; er war vom heiteren Himmel, dem frischen Wind, den Hügeln und dem Wald gleichsam berauscht. Er schritt mit seinen schweren Stiefeln rüstig aus, blieb bald, den Kopf in den Nacken geworfen, stehen, brach bald mit seinem Stock das Eis entzwei, dann wieder lauschte er dem niederen Flug eines Auerhahns.

»Das liebe ich! Das liebe ich!« sagte er immer wieder, schritt aufs neue aus und sang mit seinem Baß: »Wer hat dich, du schöner Wald . . .«

Als er über einen Bach sprang, brach er ein, und eine kleine silberne Forelle zappelte, vom Wasser herausgespült, auf dem Eis. Naß stand er im Wasser, haschte mit den Händen nach dem Fisch und schob ihn mit seinen dicken Fingern vorsichtig unter die zarte Eisdecke.

»Das liebe ich! Das liebe ich!« wiederholte er.

Zu Hause setzte er sich an das Pianino, spreizte die Finger und begann wieder seinen ›schönen Wald‹.

In der Tür erschien eine kleine, rundliche Frau und sagte:

»Das Klavier nehme ich dir fort, Vater.«

»Das ist deine Sache. – Meine Tochter, die verwitwete Jekaterina!« stellte er sie Jossif vor.

Die Witwe begann ungezwungen zu sprechen, die runden Augen rollend und mit der Stupsnase schnuppernd.

Sie wohnte recht weit, auf der gleichen Fabrik, wo sich auch die andere Tante Jossifs, Marja Matwejewna, aufhielt; auf diese Tante kam auch sofort die Rede.

»Wie kommt es, daß ich Sie noch nie beim Vater getroffen habe? Sie besuchen ihn selten, obwohl Sie in der Nachbarschaft wohnen.«

»Doch, ich besuche ihn von Zeit zu Zeit; wir gehen überhaupt kaum aus.«

»Ich glaube, Ihr Tantchen ist ganz und gar menschenscheu.«

Sie aßen bei Tageslicht zu Mittag, einfach, aber gut, und danach setzte sich Jekaterina Petrowna an das Pianino, das sie dem Vater wegzunehmen drohte, und spielte etwas laut, oft mit der linken Hand danebengreifend. Vater Pjotr plauderte beim Kirschschnaps.

»Offen gestanden, liebe ich es nicht, bei Alexandra Matwejewna im Haus die Abendmesse zu lesen. Sie ist eine reizende Dame, aber sie glaubt nicht an Gott, nimmt sowieso nicht am Gottesdienst teil, und so fühle ich mich bei ihr immer als Gast, nicht als Priester.«

»Woher weißt du, daß sie nicht an Gott glaubt? Daß sie nie in die Kirche kommt, ist noch kein Beweis.«

»Ich habe mit ihr mehr als einmal darüber gesprochen: nicht das geringste Interesse.«

»Kommen Sie doch trotzdem öfter: wir würden uns sehr freuen.«

»Ja, ich werde gern kommen.«

Sie gaben sich eine Weile mit den Tauben ab, dann tranken sie wieder Tee, Jekaterina Petrowna spielte, Vater Pjotr sang, und auch Jossif sang mit seiner hohen, süßen Stimme. Katja sagte träumerisch:

»Was für eine Stimme! Ich könnte ewig zuhören. Haben Sie niemals Gesangsunterricht genommen? Wie merkwürdig! Warum kommen Sie nie zu uns auf die Fabrik? Bei uns ist es lustig.«

»Es hat sich nie ergeben.«

»Sie könnten auch mich besuchen.«

Vater Pjotr fügte hinzu:

»Und mit Viktor spielen.«

»Vitja ist ja noch ein Kind!«

»Nun, mein Enkel ist fünfzehn Jahre alt. Und Sie, Jossif Grigorjewitsch?«

»Achtzehn vorbei.«

»Ist's möglich?! Ich hielt Sie für älter.«

»Eine kindliche Seele hat er, Alte!« rief Vater Pjotr aus, Jossif aufs Knie klatschend.

Jekaterina Petrowna verzog ein wenig das Gesicht, wurde aber bald wieder lustig.

›Wenn ich so eine kriegen könnte!‹ sagte sich Jossif, an sein Gespräch mit Parmen zurückdenkend.

Der Kutscher sagte auf der Heimfahrt:

»Die Domna wird wohl am besten passen.«

»Welche ist das, Arinas Schwester?«

»Ja, die Glotzäugige.«


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