Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Tante Sascha hatte Migräne und jagte Lisaweta Petrowna aus dem Schlafzimmer, die nun mit Jossif auf dem Sofa saß, offenherzig wie immer in den seltenen Fällen, wo sie sich gekränkt fühlte.

»Fünf Jahre lebte ich schon von Alexandra Matwejewna getrennt und fühlte mich im Schwesternheim wie zu Hause. Was schauen Sie mich so an? Sie glauben wohl, mit meinem Charakter war das schwer? Ja, es war sehr schwer, aber mein Charakter ist nicht immer so höllisch gewesen. Da sagt man mir auf einmal: ›Irgendein Herr erwartet Sie im Sprechzimmer.‹ Ich ging hinaus und erkannte meinen Herrn Gemahl im ersten Augenblick gar nicht wieder: einen Bart hatte er sich stehen lassen, war dick geworden und braun wie ein Amerikaner.«

»War er denn nicht schon tot?«

»Wie Sie hören, war er noch nicht tot. Er fleht mich an, ich soll zu ihm zurückkehren, schwört mir ewige Treue und so. Ich frage nicht viel, wo er diese fünf Jahre gesteckt hat, weigere mich zwar nicht, zu ihm zurückzukehren, bin aber schon durch diesen Besuch so sehr aufgeregt, daß ich nicht mehr die Kraft habe, mich für die andern aufzuopfern. Also schreibe ich an Alexandra Matwejewna; die schreibt gleich zurück, es wäre höchste Zeit: ›Spuck auf alle und komm zu mir.‹ Und so fanden wir uns wieder, als ob wir uns fünf Jahre zuvor nicht entzweit hätten.«

»Nun, Sie haben es ja bei Tantchen recht schön: sie liebt Sie und ist an Sie gewöhnt.«

»Gewöhnt hat sie sich, aber lieben tut sie nur sich selbst. All das ist nicht von Dauer, und was fang ich an, wenn was passiert?«

Ein kleines Mädchen stürzte herein und blieb stehen, als es Lisaweta sah. Diese fragte:

»Was ist denn los?«

»Parmen prügelt die Arischa.«

»Eine nette Beschäftigung. Und weiter?«

»Weiter nichts.«

»Wenn weiter nichts ist, brauchst du auch nicht ohne Grund hereinzulaufen«, sagte Lisaweta und erhob sich auf ein Klingelzeichen aus dem Schlafzimmer vom Sofa.

Das Mädchen berichtete Jossif in großer Aufregung:

»Wie er sie prügelt! Das ganze Haar hat er ihr zerzaust, das Blut läuft ihr aus der Nase, und alle schauen zu: auf dem Hof sind sie.«

»Wofür prügelt er sie denn?« fragte Jossif, gleichfalls aufstehend.

»Er bringt ihr Vernunft bei«, antwortete das Mädel so ernst wie eine Erwachsene und machte dem jungen Herrn die Tür auf.

Unten auf dem Hof zerrte Parmen, von Neugierigen umgeben, Arina an den Haaren herum. Bald warf er sie zu Boden, bald hob er sie wieder auf, und die Schläge regneten dumpf auf ihre wattierte Jacke. Die Frau stöhnte und bemühte sich nur, mit der schon blutbefleckten Hand die blutende Nase abzuwischen. Die Zuschauer äußerten weder Mitgefühl noch Empörung. Erst als Parmen Arina endgültig von sich stieß und sie fast auf allen vieren zur Kutscherwohnung kroch, wurde das laute Stimmengewirr der Meinungen und Diskussionen durch den Baß Lisawetas unterbrochen, die aus dem Fenster schrie:

»Schert euch vom Hof! Was ist das für ein Rummel da unten? Das gnädige Fräulein ist krank.«

»Warum hast du sie so geprügelt?« fragte Jossif Parmen, der schweigend abseits stand.

»Sie schwatzt mehr als sie soll«, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Kommen Sie doch heute zu unserer Abendunterhaltung.«

»Ach ja!« versetzte Jossif errötend.

Aus der Kutscherwohnung stürzte ein etwa sechzehnjähriges Mädchen mit blassem Gesicht und großen blauen, übermäßig hervortretenden Augen heraus. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fiel über die verprügelte Arina her und half ihr laut aufheulend auf die Beine.

Jossif konnte kaum erwarten, bis das Essen zu Ende war und Parmen ihn abholte; das Unwohlsein der Tante verkürzte zu seiner Freude das Beisammensein nach Tisch.

Als die neuen Gäste, sich in der niedrigen Tür bückend, in die enge Bauernstube traten, tanzte man gerade zur Ziehharmonika den ›Sechser‹. Der Gesang und die Musik verstummten; als aber die Leute sahen, daß die Gäste lustig waren und sich einfach gaben, ging es gleich wieder weiter. Jossif sang im Chor mit den andern und sogar solo allerlei bekannte Lieder und schien ganz vergessen zu haben, wozu er eigentlich gekommen war. Domna saß neben ihm, sie trug eine warme Jacke und Filzstiefel.

»Komm, wir tanzen!«

»Gut, warum nicht?«

»Bring mir's bei, ich kann's nicht.«

»Versteh ich denn auf städtische Manier zu tanzen?«

»Warum hat Parmen heute deine Schwester so geprügelt?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Willst du, daß ich dir Stoff für ein Kleid schenke?«

»Und was wird Fomka sagen?«

»Was für ein Fomka?«

»Der Einäugige.«

»Du brauchst es ihm ja nicht zu zeigen.«

»Gut, bordeauxrot. Scher dich, Teufel!« schrie sie einen einäugigen Burschen an, der sie am Arm packte und zum Tanz holen wollte.

»Diese Prinzessin!« brummte jener, Jossif mit seinem einzigen Auge anfunkelnd. Der junge Herr trennte sich, auf ein Zeichen Parmens, nur ungern von der Gesellschaft und schenkte den Burschen und Mädchen zum Abschied etwas Geld. Sie gingen unter dem dunklen, sternenbesäten Himmel irgendwohin. Parmen sagte:

»Es ist abgemacht. Domna wird sofort zur Iwanowna kommen, so haben wir's verabredet.«

»Wer ist dieser Fomka? Ihr Bräutigam?« fragte Jossif.

»Sie hat viele solche gehabt. Er läuft ihr einfach nach.«

Die Iwanowna geleitete ihn schweigend in eine finstere Stube, in der sich die Fenster mit dem Sternenhimmel schwach abzeichneten. Sie zündete keine Lampe an. Jossif sah nichts und hörte nur, wie jemand kam, sich neben ihn setzte und die Arme um seinen Hals schlang. Domnas Stimme flüsterte irgendeinen Unsinn, und Jossif schmolz vor süßer Angst. Er sah weder ihre Glotzaugen noch das andere, einzige Auge, das durch die Türspalte hereinschaute, aber nichts sehen konnte.


 << zurück weiter >>