Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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IX

Sonja ging im gleichen Zimmer, in dem sie gestern mit Jossif gestanden hatte, schnell auf und ab und sprach aufgeregt zu Adventow, der in einiger Entfernung vor ihr saß:

»Ja, ich liebe Sie nicht, aber ich kenne Sie besser, als Sie es glauben, und bitte Sie sehr, ihm zu helfen.«

»Es freut mich sehr, Sofja Karlowna, glauben Sie mir. Warum denken Sie aber, daß ich ihm irgendwie helfen kann? Und woher kennen Sie mich überhaupt?«

»Mein Gott, ich habe doch Ihre Werke gelesen! Es handelt sich aber nicht darum. Sehen Sie, er bedarf einer âme sœur, das klingt lächerlich, aber es ist so. Ohne Mitgefühl, ohne Führung, ohne Liebe muß er hier zugrunde gehen. Jossif ist aber eine lebendige Seele, und es ist Sünde, ihn im Stich zu lassen. Alles, was ich sage, klingt wohl dumm, aber Sie verstehen mich doch?«

»Zum Teil. Könnten Sie ihm denn nicht selbst beistehen?«

»Gewiß. Aber ich bin schwach; außerdem bin ich zwar ein Krüppel, aber immerhin ein Weib: das ist sehr störend.«

»Meinen Sie? Was soll ich also tun?«

»Die richtigen Worte finden. Ihn beobachten will ich selbst und werde Sie, solange ich kann, solange es irgendwie möglich ist, nicht mehr belästigen. Versprechen Sie mir aber, daß Sie auf meinen ersten Ruf zu ihm kommen und das Nötige tun und sagen werden. Kann man denn immer im voraus wissen, was einmal nötig sein wird?«

»Ich glaube, daß Sie die Gefahr ebenso wie meine Bedeutung überschätzen.«

»Gott gebe es, ich glaube es aber nicht. Verzeihen Sie, daß ich Sie, einen gänzlich Fremden, in diese Geschichte verwickle. Ich liebe Sie nicht, Sie können es aber besser als alle machen. Was, weiß ich selbst noch nicht. Sie sind mir doch nicht böse?«

»Im Gegenteil, ich bin Ihnen sehr verbunden, Sofja Karlowna, und will Ihrem ersten Ruf Folge leisten. Jossif Grigorjewitsch ist auch mir sehr sympathisch, ich wußte nur nicht, daß er in solcher Gefahr schwebt und daß es so um ihn steht.«

»Ja, ja, man muß ihm, wie einem angehenden Schwimmer, einen Stoß versetzen.«

»Wird vielleicht das Schicksal selbst im gegebenen Augenblick jemand andern als uns beide schicken, der ihm diesen Stoß versetzt?«

»Das ist es ja, was ich fürchte, daß ihn jemand mit einem Stein am Hals ins Wasser stößt!«

»Wir müssen ihn also einerseits stoßen und andererseits beschützen?«

»Ja, so meine ich es. Machen Sie mit. Abgesehen davon, daß wir ein gutes Werk verrichten, kann es auch recht amüsant werden!« sagte Sonja und versuchte zu lächeln.

»Es kann tatsächlich amüsant werden«, gab Adventow zu.

Ins Zimmer stürzte mit großem Lärm Lisaweta Petrowna, Viktor am Ohr festhaltend. Dieser versuchte sich loszureißen. Tantchen folgte ihnen in großer Toilette, lautlos lachend. Sonja lief auf Lisaweta zu und schrie sie an: »Lassen Sie ihn los! Wie unterstehen Sie sich, ihn am Ohr zu reißen?«

»Was für eine Beschützerin! Ich bin so frei und werde solche Bengel immer an den Ohren reißen und auch die, die sie verteidigen!«

»Nein, das wagen Sie nicht!« schrie Sonja, die ganz rot geworden war.

Lisaweta riß Viktor noch einmal schmerzhaft am Ohr und ließ ihn los. Viktor ging zu seiner Verteidigerin. Lisaweta wandte sich an Tante Sascha, die sich neben Adventow hingesetzt hatte und noch immer lachte.

»Was soll das werden? Wird man mich in Ihrem Hause noch lange beleidigen? Geben Sie mir meinen Paß zurück, sonst gehe ich ohne Paß weg.«

»Was ist denn geschehen, wenn es kein Geheimnis ist?« mischte sich Adventow ein.

»Ach, was geschehen ist!« sagte Tantchen und hielt sich das Taschentuch vor das vor Lachen bebende Gesicht.

»Lisaweta hat sich auf ein Huhn gesetzt«, sagte Viktor.

»Du erzählst es auch noch, du Mistkerl?!«

»Aber erlauben Sie, wie hat sich Lisaweta Petrowna auf ein Huhn setzen können?« fragte Adventow verständnislos. Tantchen begann es zu erklären:

»Sie ging also, sie ging . . . an einen gewissen Ort . . . wollte sich hinsetzen, und das Huhn pickte sie in eine gewisse Stelle . . . Sie wissen doch, wie dunkel es an einem solchen Ort ist . . . Sie fing also zu schreien an . . . ich laufe hin . . . es ist zugesperrt . . . das Huhn gackert . . .« Alexandra Matwejewna verstummte, während Viktor lachte und Lisaweta drohende Blicke um sich warf.

»Ja, wie kam aber das Huhn an einen solchen Ort?«

»Ich habe das Huhn hineingesetzt«, erklärte Viktor.

Tantchen wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte:

»Lisanka, sei mir nicht böse, ebenso wie ich dir nicht mehr böse bin, söhnen wir uns doch dem Fest zu Ehren aus, schmolle nicht und verlaß mich nicht.«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»Auch ich glaube, daß Sie Alexandra Matwejewna nicht verlassen sollten.«

»Sie kennen doch die näheren Umstände nicht, mein Herr.«

»Das ist meine prinzipielle Ansicht.«

»Lisanka, verdirb mir den Tag nicht: wollen wir uns dem Fest zu Ehren aussöhnen!«

Viktor sagte laut hinter Sonjas Rücken:

»Heut ist ein doppeltes Fest: Tantchen hat Namenstag, und Lisaweta hat sich auf das Huhn gesetzt – Kyrie eleison!« Mit diesen Worten lief er davon, von Lisaweta Petrowna mit großem Gepolter verfolgt.

Auf das allgemeine Gelächter hin erschien in der Tür Jekaterina Petrowna, mit der Pelzpelerine in der Hand:

»Hier geht es lustig zu! Und ich wollte vorschlagen, vor dem Essen noch einen kleinen Spaziergang zu machen.«

»Kommen Sie her, ich will Sie küssen: Ihr Sohn hat mir solche Freude gemacht! Wie heißt er noch: Wikenti?« lispelte Tantchen.

»Viktor«, antwortete die Dame. »Hat er wieder was angestellt?«

»Er hat die Lisaweta auf ein Huhn gesetzt!« erwiderte Alexandra Matwejewna geheimnisvoll. Jekaterina Petrowna runzelte die Brauen, sagte nichts dazu und wiederholte nur:

»Nun, wollen wir ausgehen?«

»Kommt nicht zu spät zum Essen!« rief Tantchen den vier Ausgehenden nach.

»Wir kommen nicht zu spät: wir sind gleich wieder da!« antwortete Jossif schon in der Tür.

Die Witwe bekam in der kalten Luft gleich ein rosiges Gesicht und schien jung, rundlich und hübsch. Der Schnee knirschte unter ihren festen und schnellen Schritten, obwohl sie Pardow am Arm nahm, mit der Begründung, daß es glatt sei und sie auszurutschen fürchte. Sie redete lustig und laut. Adventow und Sonja folgten ihnen und unterhielten sich leise über etwas. Die untergehende Sonne übergoß den Schnee mit rosa und lila Licht; auf dem Hügel in der Ferne leuchteten die Fenster des nächsten Dorfes. Als es schon ganz dunkel geworden war, kehrten sie zurück, noch immer laut sprechend und lachend. In der Nähe der Korndarren bemerkte Jossif einen Mann, der auf dem Boden kniete und sich mit etwas zu schaffen machte. Er ließ Jekaterina Petrowna vorausgehen und blieb stehen.

»Da sieht man gleich das Auge des Hausherrn!« scherzte Jekaterina Petrowna, Adventow und Sonja einholend.

»Was machst du hier?« fragte der Hausherr Fomka, der sich vom Boden erhob. Dieser antwortete nichts, und sein einziges Auge leuchtete in der Dämmerung auf. Jossif war irgendwie befangen und wußte nicht, was er weiter fragen sollte.

»Und wo ist Domna?«

»Ist nicht mehr hier.«

»Wo ist sie denn hin?«

»Nach Ramenje.«

»Wozu?«

»Was soll sie hier machen?«

»Du, paß auf!«

»Was soll ich aufpassen?«

Als Jossif sich umwandte und Fomka noch immer an der gleichen Stelle stehen sah, rief er noch einmal: »Und was treibst du?«

»Ich putze mich für das Fest«, klang es aus der Ferne zurück.

Jossif wußte nicht, warum er nach Domna gefragt hatte, wo er doch nur an die junge Witwe dachte.

Im Hause herrschte eine so ausgelassene Freude, wie sie nur selten in Alexandra Matwejewnas Räumen einzukehren pflegte. Nach dem Mittagessen wurde gesungen und gespielt. Auch Jossif und Vater Pjotr sangen mit, während Serjosha Bessakatny mit dem rosigen Gesicht eines etwas aufgedunsenen Amors eine französische Chansonette parodierte. Tantchen hatte an den lustigen Gästen maßlose Freude und nahm an allen Unterhaltungen lebhaften Anteil.

Jekaterina Petrowna wählte beim Rekruten- und Pfänderspiel immer Jossif und lächelte ihm zärtlich zu, und er merkte nicht, wie aufmerksam ihn drei Augenpaare beobachteten: Sonja, Adventow und Iwan Pawlowitsch Jegerew.

Der letztere versuchte allerlei Stimmungen zu mimen: bald war er finster, bald lustig und bald giftig; als er aber sah, daß das alles zu nichts führte, zog er sich zum Imbiß ins Eßzimmer zurück, wo der Wein und die ländlichen Speisen nicht abgetragen wurden. Adelaïda Platonowna jagte wie eine Schwalbe hin und her und beschleunigte noch das Tempo ihrer ununterbrochenen Rede; Ljolja kam blaß und schweigsam aus ihrem Zimmer, um sich den lustigen Trubel anzusehen. Als die Stimmung ganz ausgelassen geworden war, begann man sich zu kostümieren: bald erschien Jekaterina Petrowna, als Student verkleidet, eine Dame, die einem etwas aufgedunsenen Amor glich, am Arm; bald sah man einen blassen Knaben und ein freches Mädel mit Stupsnase; bald kam Adelaïda in phantastischem Kostüm in Begleitung Adventows, der einen Bauernpelz trug. Tantchen zog sich zurück, nachdem sie mit Bessakatny getuschelt hatte, und die Anwesenden erstarrten nach einigen Minuten beim Anblick einer kreideweißen Gestalt in weißem Gewand und weißem Schleier, die mit fahrigen Gebärden und einem wahnsinnigen Lächeln auf den Lippen nahte.

»Tante, was haben Sie?« rief Sonja laut durch den ganzen Saal.

»Die wahnsinnige Giselle!« flüsterte Serjosha, der sich ans Klavier setzte und die alte Ballettmusik anspielte. Tantchen streckte die mageren Arme aus, hob ein Bein und begann, das weiße Gewand schwingend, zu tanzen: bald kniete sie mit gesenktem Kopf nieder, bald drehte sie sich mit gespreizten Armen im Kreise. Der Tanz nahm ein recht unerwartetes Ende: Viktor, der sich die ganze Zeit mit Mühe das Lachen verbissen und gegen Lisaweta Petrowna, die neben ihm saß und ihn kniff, gekämpft hatte, rannte plötzlich durch den ganzen Saal und warf unterwegs die tanzende Tante um. Diese setzte sich schnell mit dem letzten Akkord der Musikbegleitung auf den Boden, sah sich erstaunt um und fragte:

»Tiens, ich bin anscheinend hingeplumpst? Was lacht ihr so?«

Niemand lachte, und Jossif, der blaß geworden war, half Alexandra Matwejewna auf die Beine und sagte:

»Ich begleite Sie hinaus, damit Sie sich umkleiden.«

Als die Gesellschaft sich ins Eßzimmer zum Souper begab, waren die Witwe und Jossif die letzten. Im Korridor machte Jekaterina Petrowna plötzlich halt und küßte schweigend ihren Begleiter, und im Laufe des ganzen Abends sprach sie kein Wort mehr zu ihm. Auch Tantchen war während des Abendessens schweigsam und blaß: sie hatte noch nicht Zeit gehabt, nach der ›Giselle‹ frisches Rouge aufzulegen. Jegerew begann einen Trinkspruch, der mindestens drei Gänge erkalten zu lassen drohte, glücklicherweise wurde er aber von Viktor unterbrochen, der unter den Tisch gekrochen war und Lisaweta in die Wade kniff. Auch darüber lächelte Tantchen nur schwach. In der Tür ertönte plötzlich ein lautes Flüstern, das Dienstmädchen kam ins Eßzimmer, ging auf Lisaweta zu, die immer noch mit Viktor kämpfte, und sagte ihr etwas ins Ohr.

»Was ihm nicht einfällt!« erwiderte jene laut.

»Was sagt sie?« fragte Tantchen.

»Dummheiten. Geh!« versetzte Lisaweta.

»Ich möchte wissen, was sie gesagt hat; was hast du gesagt?« wandte sich Tantchen an das Dienstmädchen, das noch nicht gegangen war.

»Parmen möchte Ihnen gratulieren«, stammelte diese.

»Parmen?«

»Er ist sicher betrunken; Ihre Gäste haben diese betrunkenen Bauern noch nicht kennengelernt!«

»Nein, warum denn? Diese patriarchalischen Sitten sind ja entzückend!« zwitscherte Adelaïda. »Wer ist dieser Parmen? Der Kutscher?«

»Ja, der Kutscher«, bestätigte Lisaweta finster.

»Er ist gar nicht sehr betrunken«, bemerkte das Dienstmädchen.

Alle lachten, und Parmen durfte herein. Adelaïda sah durch ihr Lorgnon, wie er sich vor den Heiligenbildern bekreuzigte, das Weinglas, das ihm Tantchen selbst kredenzte, leerte, sich den Mund abwischte und Tantchen die Hand küßte. Er stand eine Weile, seine Ochsenaugen gesenkt, verlegen da und begann plötzlich:

»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein Alexandra Matwejewna, für alle Ihre Wohltaten: gut haben wir gelebt und getrunken, süß gegessen und auf Ihren weichen Federbetten geschlafen.«

Alle wurden hellhörig; Tantchen sah sich um und flüsterte:

»Was sagt er, was sagt er?«

Parmen sprach weiter.

»Leben Sie wohl, liebes gnädiges Fräulein, gebe Ihnen Gott, daß Sie wen andern finden, der mit solchem Eifer die Kissen mit Ihnen durchwalkt.«

»Gehst du sofort hinaus, du Schuft?« schrie Lisaweta, die sich nicht länger beherrschen konnte.

»Ich gehe schon«, sagte Parmen und verließ langsam das Eßzimmer.

»Das besoffene Vieh!« erklärte Lisaweta Petrowna.

»Nein, warum denn? Es war ein wenn auch etwas unpassendes, aber recht nett vorgetragenes Zitat aus ›Wanka der Kellermeister‹«,›Wanka der Kellermeister und der Page Jean‹, Drama von F. K. Sologub. bemerkte Adventow.

»Und hübsch ist der Mensch!« fügte Adelaïda aufseufzend hinzu.

»Gestatten Sie, daß ich mich heute selbst zitiere«, sagte Adventow und begann zu deklamieren:

»Hat Alexandra, ach, Matwewna
Nicht wie im Märchen die Zarewna
Uns hergelockt in ihre Sphäre
            Und ihr Geheiß?

So namenstaget fröhlich jetzt,
Vergeßt das Leid, entsagt der Hetz.
Der ekelhaften Spinne Netz
            Zerreiß, zerreiß.

Getrunken süß und süß gegessen,
Ein Lied gesungen unvermessen,
Von deinem Tanz sind ganz besessen
            Wir hier, Giselle.

Wer Liebe unvergessen gibt,
Im Abschiedswehen nicht zerstiebt,
Denn ewig leben wird, wer liebt,
            Im Herzen hell.«

Als man sich gute Nacht wünschte, wandte sich Adventow an Jossif:

»Wollen Sie schon schlafen?«

»Ja, ich bin müde, warum?«

»Ich wollte gern mit Ihnen sprechen.«

»Sie bleiben ja noch da? Vielleicht morgen, wenn einige abgereist sein werden.«

»Sehr gut. Angenehme Ruhe!«

Jossif fand aber in dieser Nacht keine Ruhe. Er sah immer das Bild der rundlichen, lustigen Witwe vor sich, und das Schnarchen des Vater Pjotr vermochte es nicht zu verscheuchen. Lange lag er angekleidet auf dem Bett. Plötzlich wurde an die Tür geklopft. Ihm stand das Herz still: ›Sie ist es, sie ist es, ich habe ihre Zusage nicht verstanden!‹

»Sind Sie es, Jekaterina Petrowna?«

»Ich bin es, Joseph, verzeih«, antwortete Sonjas Stimme. »Du bist noch nicht zu Bett? Was geschieht bei euch im Hause? Komm mit; zünde eine Kerze an. Warum hast du geglaubt, es sei Jekaterina Petrowna?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Jossif mit schwacher Stimme und folgte Sonja.


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