Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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VII

Der ›Brennende Dornbusch‹ war schon längst gekauft und mit Profit weiterverkauft, auch der Winter war lange angebrochen, aber Jossif, der sich nach einer Zuflucht sehnte, besuchte immer noch die Sykows und klammerte sich an sie mit ganzer Seele. Auch die Sykows gewöhnten sich an ihn und genierten sich nicht mehr vor ihm; Jakow Sacharytsch sprach mit ihm von seiner verwickelten und nicht sehr günstigen Geschäftslage; Olga Iwanowna und Fjokluscha erzählten ihm ganz offenherzig von ihren heimlichen Ausfahrten und Gelagen, zu denen sie manchmal auch ihn einluden; die Ladengesellen beklagten sich über die Sykows und einer über den andern, die Sykows über die Gesellen, und selbst der schlanke Greis sah ihn nicht mehr so streng an und unterhielt sich sogar manchmal über Gottesdinge mit ihm. Jossif ging ab und zu auch in den Antiquitätenladen und zu den Abendmessen in die Betstube, spielte mit den Leuten Karten, sang, trank und langweilte sich, wenn er einige Tage nicht in der bescheidenen Wohnung mit den Läufern und den ewigen Lämpchen gewesen war. Marina leistete Pardow seltsamerweise viel weniger Gesellschaft als die andern und kam bei seinen Besuchen manchmal überhaupt nicht zum Vorschein. Sie sprach wenig und von alltäglichen Dingen, aber in ihren Worten tönte immer größeres Mitleid und eine traurige Zärtlichkeit, die Jossif beunruhigte. Er fühlte sich überhaupt unruhig, bemühte sich aber, daran nicht zu denken. Bei sich zu Hause pflegte er jetzt nur zu übernachten, und auch das nicht immer; sogar Sonja hatte er Gott weiß wie lange nicht mehr gesehen; er verkehrte nur mit den Sykows, mit Broskin und in den Wirtshäusern. Sein Gesicht war welk geworden und aufgedunsen, ihm war bang ums Herz, und seine Unruhe wurde zuweilen ganz unerträglich. Der Winter stand nur im Kalender, in Wirklichkeit gab es Regen, Finsternis und feuchte Wärme.

An einem besonders feuchten und finstern Tag war Jekaterina Petrowna wohl mit dem linken Fuß aus dem Bett gestiegen – so reizbar und übel gelaunt war sie an diesem Morgen. Übrigens war sie schon am Vortag, als sie von irgendwo heimgekommen, in einer seltsamen Verfassung: auf ihrem Gesicht standen rote Flecken, bei Tisch saß sie da und rührte das Mittagessen nicht an, dem Dienstmädchen, das sich besorgt nach ihrem Befinden erkundigte, gab sie keine Antwort, schrieb einige Briefe, übergab sie eigenhändig einem Dienstmann und schloß sich schon um zehn Uhr in ihrem Schlafzimmer ein. Am Morgen war sie in noch schwärzerer Gemütsverfassung, sie zog sich wie zum Ausgehen an, blieb aber zu Hause und spazierte durch die lange Reihe der Zimmer. Als an der Tür die Glocke ertönte, brach sie diese Wanderung ab, eilte aber nicht ins Vorzimmer, sondern wartete, bis Ljolja selbst zu ihr kam. Frau Pardowa zog das junge Mädchen, fast ohne es zu begrüßen, in eine entfernte Zimmerecke aufs Sofa und begann sofort mit gedämpfter Stimme:

»Ljolja, nimm deine ganze Kraft zusammen; ich habe alles festgestellt. Gleich nach der Zusammenkunft mit dir habe ich gestern Sergej Pawlowitsch gesprochen; ich weiß nicht, wer von euch beiden den andern mehr liebt, du mußt dich aber entschließen, für ihn einen entscheidenden Schritt zu tun.«

Das junge Mädchen schien nichts weiter zu hören; es errötete und wiederholte immer wieder:

»Er liebt mich! Er liebt mich! Ist das möglich?«

»Beruhige dich und höre, was ich dir noch sagen werde: Du mußt mit ihm fliehen und abwarten, bis alles in Ordnung kommt. Du mußt es für ihn tun: verstehst du? Ich bin bereit, euch behilflich zu sein. Bist du einverstanden?«

»Ja, ja! Er liebt mich, mein Gott!«

»Aber, Ljolja, Gefälligkeit gegen Gefälligkeit: gestern ist bei dir nichts vorgefallen! Verstehst du, was ich meine? Gar nichts!«

Ljolja erlosch gleichsam, sie blickte in Katjas starr auf sie gerichtete Augen und wiederholte: »Es ist nichts vorgefallen.«

»Es ist nichts vorgefallen. Ich, Viktor und Iwan Pawlowitsch sind bei dir gewesen, es ist aber nicht das mindeste vorgefallen. Ich hatte Viktor zu dir bestellt, weil ich ihn bei mir zu Hause nicht empfangen wollte; wir sprachen miteinander, und sonst nichts.«

»Und sonst nichts«, wiederholte Ljolja wie ein Echo.

»Ljolja, ich meine es ganz ernst«, fuhr Frau Pardowa fort, ohne den Blick von ihr zu wenden, »gestern ist nichts vorgefallen. Wenn du willst, kann ich dich und Sergej Pawlowitsch auch in Ruhe lassen: tut, was ihr wollt.«

»Was! Nein! Nein: was sollen wir allein anfangen! Gestern ist nichts vorgefallen«, fügte sie mit einiger Anstrengung hinzu.

»Denk daran!«

»Ich denke daran.«

»Jemand kommt«, sagte Frau Pardowa, als wieder die Klingel ertönte. Sie ging ins Vorzimmer und kehrte von dort erst nach längerer Zeit mit Jegerew zurück; er schien nicht der Gast zu sein, für den Jekaterina Petrowna sich aufgeputzt hatte. Ins Zimmer tretend, beendeten sie ein wohl noch im Vorzimmer begonnenes Gespräch:

»Sie glauben also, daß es keine Folgen haben wird?« fragte Herr Jegerew.

»Gewiß, niemand hat es ja gesehen!«

»Und Ljolja?«

Katja antwortete darauf nichts. Nach einer Weile sagte sie: »Mich beunruhigt mehr, daß aus der Sache nichts geworden ist, als das, was daraus noch werden könnte.«

»Ich verstehe trotzdem nicht, wie kommen sie zu Viktor, wenn Sie sie verbrannt haben?«

»Er hat sie vorher an sich genommen; ich habe es Ihnen schon gesagt.«

Jetzt wurde Herr Jegerew schweigsam. Ljolja saß, über und über rot, unbeweglich da und drückte beide Hände an das rasend pochende Herz. Ohne daß man ein Klingelzeichen gehört hätte, trat Jossif ins Zimmer, er war offenbar erregt, begrüßte flüchtig die Gäste und sagte laut zu seiner Frau:

»Katja, ich muß dich sprechen.«

»Warte, wir finden später Zeit.«

Jossif gab aber nicht nach.

»Ich bin zu beunruhigt, um es hinauszuschieben; wenn es irgendwie geht, bitte gleich.«

Sein Gesicht war geschwollen, seine umherirrenden Augen glänzten ungut.

Iwan Pawlowitsch sagte:

»Jekaterina Petrowna, tun Sie sich keinen Zwang an; Jelena Iwanowna und ich wollen gern warten.«

»Unsinn! Ich weiß, daß es keine Eile hat.«

Jossif sagte, um Atem ringend:

»Katja, ich bitte dich, gib mir sofort Antwort.«

Sie unterbrach ihn aber mit erhobener Stimme:

»Ich habe es satt! Sie treiben sich Gott weiß wo herum, lassen sich ganze Tage und Nächte nicht blicken und kommen nach Hause, nur um mir in Gegenwart von Fremden Szenen zu machen.«

»Wenn ich die Tage außerhalb des Hauses verbringe, so doch nur darum, weil ich es hier nicht länger aushalten kann! Jeder Mensch hat Anrecht auf Ruhe und liebevolle Behandlung.«

»Nun, suchen Sie diese Behandlung, wo Sie wollen, wenn Sie zu Hause nicht genug davon haben.«

»Katja, ich bitte dich, hör auf, laß mich eine halbe Stunde mit dir sprechen.«

»Nein.«

Ljolja versuchte sich einzumischen, gab es aber gleich wieder auf. Pardow ließ seinen Blick über die Wand schweifen und sagte:

»Nun, um so besser: ich will Sie also jetzt alle fragen, was ist gestern bei den Dmitrewskis vorgefallen?«

»Gar nichts!« erwiderte Frau Pardowa schnell, ihrem Mann gerade in die Augen blickend.

»Gar nichts?«

Katja lachte auf und sagte:

»Ich ließ Viktor dorthin kommen, weil ich ihn hier nicht empfangen wollte, und ich habe mit ihm gesprochen; zufällig war auch Iwan Pawlowitsch da, zu Hause war nur Ljolja. Das ist alles.«

Jossif rief mit einer ihm sonst nicht eigenen Wut:

»Das ist alles? Du sagst, das ist alles? Hast du denn nicht Viktor in eine Falle gelockt, ihm irgendwelche Papiere gewaltsam zu entreißen versucht, wobei ihr beide ihn beinahe erwürgt habt? Gestehe!«

»Unsinn, Erfindung!« erwiderte Katja ruhig, als ob sie die Erregung ihres Mannes gar nicht sähe.

»Sie sind nicht ganz richtig informiert«, bemerkte Jegerew.

Nun stürzte Jossif zu Ljolja hin, die noch auf dem Sofa saß, sank vor ihr in die Knie, ergriff ihre Hände, die sie an das pochende Herz drückte, und sagte keuchend:

»Ljolja, du wirst nicht lügen! Erlöse mich, sag, wie sich alles zugetragen hat, du warst ja dabei, du mußt es wissen.«

Ljolja blickte an Jossif vorbei zur Decke und sagte mit großer Anstrengung:

»Ich weiß nichts, ich erinnere mich nicht, ich sterbe – laß mich, Joseph.«

»Wieso erinnerst du dich nicht? Es war ja erst gestern. Besinne dich!«

»Katja hat nur mit Viktor gesprochen, sonst ist nichts vorgefallen.«

»Dein Ehrenwort?«

»Das ist alles«, wiederholte Ljolja und schloß die Augen.

Jossif wandte sich ohne aufzustehen an Sonja, die eben ins Zimmer trat:

»Sonja, was machen sie mit mir! Nachdem sie an Viktor so niederträchtig gehandelt haben, wollen sie ihn auch noch verleumden und mit mir entzweien!«

Sonja ging leichten Schrittes zu ihm und flüsterte:

»Glaub es nicht. Viktor ist hier. Ich weiß alles, aber du, was ist mit dir, Joseph?«

Jossif begann sich in Krämpfen zu winden; Jekaterina Petrowna schrie auf:

»Wer hat Viktor erlaubt, herzukommen? Das ist meine Wohnung! Ich kann es nicht länger ertragen! Man beleidigt mich und kommt her, nur um mir Szenen zu machen!«

Jossif schrie mit heiserer Stimme:

»Auch ich ertrage es nicht! Katja! Kehr zurück, sei nicht so schlecht! Ach, Andrej! . . .«

Plötzlich schrie er mit einer Stimme auf, die ganz fremd war, aber seine eigentliche Stimme zu sein schien, und stürzte mit Schaum vor den Lippen zu Boden. Ljolja sprang auf, da sie sich aber nicht entschließen konnte, über den um sich schlagenden Jossif zu steigen, ließ sie sich wieder aufs Sofa fallen und zog die Beine an. In der Tür erschien Viktor, auch sein Gesicht zuckte.

Die Mutter schrie ihn an:

»Hinaus! Noch ein Besessener! Wer hat dich gerufen? Das ist ja ein Irrenhaus!«

Viktor ging auf Jekaterina Petrowna zu, zog einige Papiere hervor und zeigte sie, die Blätter fest in den Händen haltend, der Mutter:

»Sind es diese?« fragte er halblaut.

»Woher soll ich das wissen?« schrie Frau Pardowa auf, warf aber dennoch einen Blick auf die Papiere. Viktor begann sie schweigend in kleine Fetzen zu zerreißen und trug diese zum geheizten Ofen. Während er die Ofentür aufmachte, ließ er einige Fetzen fallen; Iwan Pawlowitsch beugte sich rasch, sah sie an und sagte: »Es sind die richtigen.« Alle sahen schweigend zu, wie das leichte Papier verbrannte, sich zu schwarzen Röhren mit grauen Zeilen zusammenrollend. Sonja knöpfte indessen Jossif den Kragen auf und bedeckte sein Gesicht mit einem Tuch. Viktor erhob sich und sagte:

»Ja, Broskin erwartet Geld von dir.«

»Er hat sein Versprechen nicht gehalten.«

»Er hat die Wahrheit gesagt, ich hatte nur heute auf seinen Rat die Papiere nicht bei mir.«

»Schuft!« flüsterte Katja.

»Leben Sie wohl; ich hoffe, daß Sie mich jetzt in Ruhe lassen werden?« sagte Viktor, die Türklinke ergreifend.

»Gott befohlen!« erwiderte die Mutter.

Sonja, die bis dahin geschwiegen hatte, wandte sich an die Hausfrau:

»Schicken Sie nach einem Arzt, und außerdem kann Joseph nicht länger hier bleiben, Sie verstehen?«

»Ich will es selbst nicht; ich ertrage es nicht.«

Sonja blickte sie an und sagte:

»Er zieht vorläufig zu mir, dann werden wir sehen.«

An der Tür wurde wieder geläutet; es waren Tante Nelli und Pjotr Pawlowitsch. Katja zeigte stumm und traurig auf den liegenden Jossif und auf Sonja, die neben ihm kauerte, und schmiegte sich, bitter weinend, an Nellis Schulter. Ljolja starrte auf das weiße Tuch, das Josephs Gesicht bedeckte, hielt mit der einen Hand ihre Beine umschlungen, damit sie nicht vom Sofa rutschten, und fuhr sich mit der andern über die Stirn, wie wenn sie ein unsichtbares Spinnengewebe wegwischen oder sich auf etwas besinnen wollte. Das Dienstmädchen, das angeklopft und keine Antwort bekommen hatte, rief durch die Tür:

»Gnädige Frau, das Essen ist aufgetragen.«

Alle aber verharrten in ihren bisherigen Stellungen.


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