Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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Vierter Teil

I

Jossifs Krankheit, die diesmal mit besonderer Wucht zum Ausbruch kam und zu der sich auch noch eine Erkältung und ein eigenartiges Fieber gesellten, fesselte ihn für längere Zeit ans Bett, als er und Sonja erwartet hatten. Er blieb bis zur Fastenzeit in der kleinen Wohnung seiner Kusine, was ihn sehr genierte und in der es ihn, soviel ihm Sonja auch zuredete, nicht litt. Schließlich mußte sie nachgeben, und Jossif, der sich noch nicht ganz erholt hatte, zog zu den Sykows, die ihm Fjokluschas Zimmer abtraten, diese war nämlich, wenn auch mit unausgeheiltem Gaumen, nach Moskau abgereist. Sonja ging einigemal zu den Sykows, um sich zu vergewissern, ob er es da bequem und ruhig haben werde. Obwohl sie diese Gewißheit nicht endgültig hatte gewinnen können, willigte sie dennoch in die Übersiedlung des Kranken ein, bei dem sie nun den größten Teil der Tage verbrachte. Sonja verstand sich recht gut mit Olga Iwanowna, Marina aber hielt sich abseits, obwohl sie Jossif während seiner Krankheit recht oft in Sonjas drei kleinen Zimmern besucht hatte. Nun hatte sich auch Sonja von allen zurückgezogen und erfuhr von den neuesten Ereignissen nur selten und aus dritter Hand. Es gab zwar nicht viel Neuigkeiten, aber einige doch immerhin. Ljolja war plötzlich verschwunden; einmal kam von ihr aus Deutschland ein Brief, in dem sie bat, sie nicht zu suchen, sie teilte auch ihre Adresse nicht mit; auch Adventow war fort; dafür kehrte Andrej Fonwisin zurück, besuchte Jossif aber nur ein einziges Mal, blieb bei ihm kaum eine halbe Stunde, sagte zum Abschied: »Seien Sie unbesorgt, alles geht, wie es gehen muß«, und kam nicht wieder. Man berichtete, daß er sich nirgends außer im Regiment sehen lasse, immer zu Hause sitze und in alten Büchern geistlichen Inhalts lese. Jekaterina Petrowna ließ sich dagegen überall, wo sie nur konnte, sehen, war lebhaft und geschäftig, bewahrte dabei aber eine gekränkte und ernste Miene; besonderen Eifer zeigte sie für die Angelegenheiten von Nellis Gemeinde; mit der Tante verband sie jetzt eine dicke Freundschaft. Die Erbschaftsangelegenheit stand unmittelbar vor dem Abschluß, so daß Jossif jeden Augenblick das Vermögen bekommen konnte, aber auch ein anderes Verfahren, das Jekaterina Petrowna eingeleitet hatte, machte schnelle Fortschritte, obwohl weder Sonja noch Pardow genau wußten, um was es sich handelte. Jossif war überhaupt ein anderer geworden, zeigte für nichts Interesse, lag immer öfter nur da, starrte in die rote Flamme des ewigen Lämpchens und ließ Fragen unbeantwortet; er war aber still, stritt nicht, sprach von seiner Frau entweder überhaupt nicht oder sehr ruhig und sang auch nicht mehr. Viktor wurde beim Anblick des Stiefvaters trübsinnig; auch Sonja sah ihn oft besorgt an, wenn er, die Hände im Nacken verschränkt, ohne zu blinzeln auf den Mantel des alten Erlöserbildes starrte.

»Was hast du?« fragte er sie mit zärtlichem Lächeln, ihren Blick auffangend.

»Ich habe nichts: langweilst du dich, Joseph? Willst du, daß ich dir etwas vorlese?«

»Gut, aber ich langweile mich nicht, ich fühle mich wohl; sitz lieber so bei mir.«

Wenn Marina zufällig eintrat und ihn so liegen sah, bekreuzigte sie sich stumm und freudig und verließ unhörbar das Zimmer, ohne merken zu lassen, daß sie dagewesen war. Jeden Nachmittag gegen fünf kam Marina mit einem ›Prolog‹Sammlung von Heiligenlegenden. mit Schließen und las ihm mit singender Stimme das Heiligenleben für den nächsten Tag vor, ohne zu fragen, ob er ihr zuhören wolle, und ohne sich zu kümmern, ob er ihr zuhörte. Obwohl er oft unbeweglich und teilnahmslos dalag, zeigte er manchmal nach einigen Tagen durch irgendeine Frage, daß er alles gehört und sich gemerkt hatte. Sonja besuchte ihn um diese Stunde fast nie, wenn sie aber kam, so las Marina auch in ihrer Gegenwart. Manchmal kam der Alte, Olga Iwanowna oder jemand von den Gesellen. Marina setzte kein einziges Mal aus, obwohl es ihr gesundheitlich von Tag zu Tag schlechter ging, was man nur dann, wenn man sie täglich sah, nicht bemerken konnte. Der lange tägliche Gottesdienst in der Fastenzeit nahm ihr noch mehr Kraft; schließlich wurde sie ernsthaft krank, und der trotz ihrer Proteste herbeigerufene Arzt hieß sie im Hause zu bleiben und sagte, sie werde in vierzehn Tagen wieder gesund sein. Als er gegangen war, sagte Marina leise mit einem Lächeln:

»Seltsam, Onkelchen, er sagt, daß in vierzehn Tagen alles vorüber ist, und er sieht nicht, daß ich bis Ostern am Leben bleibe und dann sterbe, ob ich nun ausgehe oder nicht.«

Der Alte erwiderte:

»Das weiß niemand.«

»Nun, du wirst es sehen«, sagte Marina, und wandte sich zur Wand, um zu schlafen oder um zu weinen.

Um fünf Uhr kam Jossif zu ihr, trat von einem Bein aufs andere und sagte etwas. Nachdem ihm die Kranke eine Weile zugehört hatte, fragte sie lächelnd:

»Soll ich den ›Prolog‹ lesen?«

»Wird es Ihnen nicht zu schwer sein?«

»Das ist nicht der Rede wert. Holen Sie das Buch aus der Truhe.«

»Wie schön ist es hier bei Ihnen!« sagte Jossif, der das erstemal in ihrem Zimmer war, wo alle die großen, für die Paraderäume zu sperrigen Ikonen und Truhen untergebracht waren.

»Sieht es nicht ganz wie in einer Klosterzelle aus?« erwiderte Marina. Sie setzte sich im Bett auf und begann vorzulesen. Als sie fertig war, fragte sie: »Sie hatten wohl Verlangen nach dem Buch?«

»Ja, ich habe mich daran gewöhnt, wissen Sie, und dann wirkt es auch so beruhigend.«

»Sie sagen nicht das Richtige, Jossif Grigorjewitsch! Ach, wenn ich zu reden verstünde . . . Vielleicht werden Sie mich aber auch so begreifen. Wie ist es denn in einem Kloster? Alle stehen zugleich auf, der Gottesdienst ist immer zur gleichen Stunde, alle arbeiten und essen zusammen – darum ist das Leben dort so leicht und schön wie im Paradies. Und ist es bei unseren Alten nicht ebenso? Auch sie sind nicht allein. Der Eifer im Gebet ist bei allen verschieden: wieviel Menschen es gibt, soviel Seelen gibt es auch, und alle sind verschieden, aber die Worte, die Umstände und die Zeit sind dieselben, alle stehen fest zusammen und niemand verliert sich selbst; und so ist es in allem. Ist es nicht wunderbar? Und wenn man für sich beten will, so zieht man sich zurück, oder man seufzt für sich, während man mit den anderen sitzt, herumgeht oder arbeitet, aber das ist etwas ganz anderes und genügt allein noch nicht. ›Wo aber zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin auch Ich dabei.‹«

Marina wurde müde, da sie nicht gewohnt war, so viel zu sprechen, und verstummte; auch Jossif schwieg. Nach einer Weile sagte er mühsam:

»Ich suche, ich suche, wo ich Kraft finden kann, ich bin ja wie ein Strohhalm im Wind. Schwer ist das, Marina Parfenowna! Früher hatte ich es leichter . . . Ich spreche nicht von meiner Frau, sondern vom Leben.«

»Und auch von der Frau könnte man vieles sagen . . . Gewiß ist es schwer, dann aber ist alles so leicht und freudig.«

»Marina, wie beten Sie?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, wie stehen Sie dabei, wie halten Sie die Hände, was für Gebete sprechen Sie?«

»Ach, das wollen Sie wissen! Ich will es Ihnen zeigen.«

Da sie angekleidet im Bett lag, stand sie auf, nahm den Rosenkranz, warf ein kleines Polster auf den Boden und begann sich leicht und lautlos zu verneigen, als berühre sie den Boden gar nicht, und sprach halblaut Gebete. Jossif fragte leise:

»So?« Und er nahm aus Marinas Hand den Rosenkranz und begann sich selbst zu verneigen; sie sah ihm ernst zu und korrigierte hie und da:

»Mit beiden Knien zugleich . . . Schlagen Sie nicht auf den Boden auf . . . Ja, so . . .«

Als er verschwitzt aufstand, sagte Marina:

»Sie sind wohl müde? Das kommt, weil Sie noch nicht die Übung haben; wenn man so die vierzig Verbeugungen gemacht hat, schmerzt anfangs der Rücken, aber später wird der Körper so leicht, daß man ihn überhaupt nicht fühlt, wie wenn man Flügel bekommen hätte.«

In diesem Augenblick kam Sonja, die sonst den Vorlesungen aus dem ›Prolog‹ wie absichtlich fernblieb; sie war erstaunt, Marina auf den Beinen zu sehen, diese aber sagte, aus dem Zimmer gehend:

»Ich will nach der Wirtschaft schauen, Olga Iwanowna hat es ohne Fjokluscha schwer; morgen müssen wir die Kreuzkuchen backen.«

Olga Iwanowna hatte es nach der Abreise der zischenden Fjokluscha tatsächlich in vielem schwerer, während ihr aber in der Wirtschaft Marina half, hatte sie für ihre Vergnügungstouren in einer gewissen Kapa oder Kapitolina Fjodorowna, der Frau eines der Ladennachbarn Sykows, einen nahezu vollkommenen Ersatz für die Freundin gefunden. Der Unterschied war nur der, daß Olga Iwanowna jetzt öfter aus dem Haus ging, weil Kapa nicht immer die Möglichkeit hatte, zu ihr zu kommen.

Als Jossif einmal, auf dem Sofa sitzend und nicht im Bett liegend, in einem TypikonGeistliches Buch der Vorschriften. las, das ihm Marina gegeben hatte, kam Frau Sykowa zu ihm ins Zimmer, die offenbar eben von einem Spaziergang heimgekehrt war. Erst in der Tür fragte sie:

»Darf ich?«

»Bitte«, antwortete Jossif und rückte etwas zur Seite, wie wenn er die Besucherin zum Sitzen auffordern wollte.

Sie setzte sich auch und begann mit singender Stimme:

»Was hocken Sie immer zu Hause, Jossif Grigorjewitsch? Früher gingen Sie mit uns aus, und jetzt niemals mehr.«

»Sie wissen ja selbst, Olga Iwanowna, daß ich krank war und außerdem viele Unannehmlichkeiten hatte. Kann mir da der Sinn nach Zerstreuungen stehen?«

»Ach, hören Sie auf, spucken Sie auf alle diese Unannehmlichkeiten! Als ob das was Besonderes wäre! Darf vielleicht deswegen ein junger Mann wie Sie zu Hause sauer werden? Was ich an Ihrer Stelle alles anfangen würde! Sie sind ja im Grunde ein freier Mann. Nicht wahr?«

»Ich denke an ganz andere Dinge, Olga Iwanowna, und langweile mich nicht.«

»Das glaube ich nicht! Ist es denn nicht langweilig, den ganzen Tag allein auf dem Bett zu liegen und mit alten Jungfern zu reden?«

»Mit was für alten Jungfern?«

»Nun, mit Sofja Karlowna und unserer Marina.«

»Sonja ist nicht alt, und Marina Parfenowna ist keine Jungfer, sondern eine Witwe.«

»Das ist ganz gleich: beide gehören Gott. Entschuldigen Sie, ich habe ein wenig getrunken.«

»Aber bitte, das macht doch nichts.«

»Wenn Sie nur wüßten, wie sehr Sie mir leid tun! Wenn es nach mir ginge . . .«

»Nun, was würden Sie da tun?«

»Ich weiß schon, was ich tun würde.«

Beide schwiegen. Olga Iwanowna starrte lange, die dunklen, glanzlosen Augen zusammenkneifend, in die Lampe und sagte schließlich ärgerlich:

»Sie glauben wohl, daß die Leute nicht über Sie reden werden, wenn Sie wie ein Mönch leben? Was schwatzte man nicht alles von meinem verstorbenen Mann!«

»War denn alles nur Geschwätz?« fragte Jossif mit einem durchdringenden Blick auf Olga Iwanowna. Diese aber wiederholte nur:

»Was schwatzte man nicht alles von ihm! Und dasselbe wird man auch von Ihnen sagen.«

»Mir ist es ganz gleich, ob die Leute von mir schwatzen und was sie sagen.«

Olga Iwanowna erhob sich, ging einmal durchs Zimmer, kam wieder zu Jossif, der sitzen geblieben war, und sagte:

»Täubchen, lassen Sie uns morgen ausfahren!«

»Haben Sie denn niemand, den Sie mitnehmen könnten?«

»Aber Sie tun mir so leid, kommen Sie doch mit, mein Lieber; Sie haben ja sogar zu trinken aufgehört, ganz wie ein Mönch!«

Sie lachte auf, umschlang plötzlich seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. Jossif schob sie sanft von sich weg und sagte:

»Lassen Sie es, Olga Iwanowna.«

Sie ging noch einigemal auf und ab, drehte sich hart auf den Absätzen um und fragte:

»Lieben Sie noch immer Ihre Frau, Jossif Grigorjewitsch?«

»Nein«, erwiderte er ruhig.

Olga Iwanowna fragte ebenso ruhig:

»Was denn aber? Ich verstehe nicht, wen lieben Sie denn?«

»Niemand«, lautete die Antwort.

Olga Iwanowna lachte wieder auf und sagte:

»Das sind ja Neuigkeiten! Niemand würde das sagen, der Sie sieht!«

Jossif bemerkte ernst:

»Es ist mir wirklich ganz gleich, was man von mir sagt und was nicht.«

Die Besucherin ließ ab und sagte zum Abschied:

»Nun, wie Sie wollen, Sie haben mir leid getan, nehmen Sie es mir nicht übel.«

»Es macht nichts, Olga Iwanowna, es macht nichts; gute Nacht!« sagte Jossif und vertiefte sich wieder in das Buch.


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