Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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III

Adventows Beerdigung fand an einem Vorfrühlingsmorgen statt.

Ein lustiger Wind trieb über den tiefblauen Himmel blendend weiße Wolken, blähte die Ornate der Priester und die Schabracken der Pferde auf und zerrte an den Schleiern und Frisuren. Es waren nur wenige Leute dabei, ein paar Schriftsteller, einige plötzlich aufgetauchte entfernte Verwandte und die nächsten Bekannten. Sonja und Jossif gingen im Zuge nebeneinander, während Jekaterina Petrowna, Tante Nelli, die Dmitrewskis und einige andere Leute eine größere Gruppe bildeten, in der lebhaft gesprochen wurde; die mit niemand bekannten Verwandten gingen voran, Andrej Fonwisin aber war ganz allein; hochgewachsen und kerzengerade, schien er noch jugendlicher und schöner als sonst. In der Kirche kamen noch einige alte Frauen hinzu, die aus Liebhaberei allen Beerdigungen beiwohnen, zufällig hineingeratene einfache Leute und Kinderfrauen mit ihren Pfleglingen. Niemand weinte, es ging zeremoniell und trocken zu; in die kleine Kirche drang nur die Sonne herein, aber weder der Wind noch die Kälte, man konnte meinen, daß im Freien schon richtiger Frühling sei: mit Gras, Bächen und Vogelgezwitscher.

Als schon alle Abschied genommen hatten, erschien, die gerührten alten Frauen zur Seite schiebend, ein korpulenter junger Mann von mittlerem Wuchs und rosiger Gesichtsfarbe. Da er Zivil trug, erkannte man in ihm nicht sogleich Bessakatny. Als er den freien Raum vor dem Sarg erreicht hatte, kniete er nieder und begann sich schnell zu bekreuzigen; durch sein Gesicht ging ein Zucken, und sein Zwicker fiel mit leisem Klirren auf den Steinboden. Dann trat er zurück und gesellte sich, ohne jemand zu begrüßen, zu der tuschelnden Trauerversammlung; alle wichen zurück, und das Tuscheln wollte schon in ziemlich lautes Gerede übergehen, als es plötzlich ganz verstummte: Fonwisin ging von der anderen Seite der Kirche auf Bessakatny zu, umarmte und küßte ihn, während dieser in Tränen ausbrach. Der Offizier führte ihn zum Fenster, durch das das Sonnenlicht hereinflutete, und sprach leise und offenbar tröstend auf ihn ein; so blieben sie beieinander bis zum Schluß der Trauerzeremonie. Jekaterina Petrowna wählte einen passenden Augenblick, ging auf Bessakatny zu und fragte leise:

»Und wo ist Ljolja?«

»Sie ist dortgeblieben.«

»Was heißt, sie ist dortgeblieben?«

»Sie ist dortgeblieben«, wiederholte Serjosha.

»Sie wird aber natürlich bald kommen?«

»Ich weiß es nicht.«

Jekaterina Petrowna zuckte die Achseln und sagte:

»Sonderbar! Ist sie wenigstens wohlauf?«

»O ja, gewiß.«

»Das Ganze gefällt mir nicht, Sergej Pawlowitsch. Sie werden mich natürlich aufsuchen und mir alles genau berichten?«

»Ich danke Ihnen, ich werde aber in den nächsten Tagen keine freie Zeit haben.«

Frau Pardowa gesellte sich wieder zu den Dmitrewskis, die sie sofort ins Verhör nahmen; Sonja und Jossif aber zogen Bessakatny ins Gespräch. Aus der Nähe betrachtet, sah er verändert aus: sein rosiges Gesicht war trotz des flüchtig aufgetragenen Puders nicht mehr so rosig, es war gelb und schlaff geworden und hatte einen irgendwie verwirrten Ausdruck, die Augen schweiften unruhig umher, sein Gang war schwerfällig und unsicher.

»Sie haben sich verändert, Sergej Pawlowitsch; sind Sie gesund?«

»Ja, ja, ich bin vollkommen gesund; wie kommen Sie darauf?« fragte er erregt.

»Na Gott sei Dank; Sie sind sicher noch müde von der Reise? Wann sind Sie angekommen?«

»Heute früh, ich komme direkt vom Bahnhof.«

Sonja fragte nicht nach Ljolja. Der Wind hatte sich nicht gelegt und jagte noch ebenso lustig die Wolken und riß den Passanten die Hüte von den Köpfen. In glänzender Paradeuniform holte Andrej unsere Freunde ein; er stieg aus dem Wagen, ging auf Jossif zu und fragte ihn, ob er ihn nicht in etwa drei Tagen empfangen könne.

»Sie reisen ja bald fort?« fügte er hinzu.

»Wohin denn? Ich habe nicht die Absicht.«

»Wirklich? Sie haben es wohl vergessen, oder vielleicht irre ich mich auch.«

»Ich weiß nicht, jedenfalls habe ich keine Reise vor.«

»Auf jeden Fall möchte ich Sie, wenn Sie gestatten, am Sonnabend besuchen.«

»Ich bitte sehr.«

Jossif bemerkte eine Weile später:

»Andrej Iwanowitsch hat sich irgendwie verändert.«

»Wie meinst du das?« fuhr Sonja auf.

»Er sieht auf einmal so wichtig aus.«

»Nein, Joseph, es ist nicht so; er ist nur noch mehr durch irgendein Leuchten ausgezeichnet.«

»Es war gut, daß er heute auf Bessakatny zuging.«

»Ja, es war sehr schön. Andrej kann keine unschöne, folglich auch keine schlechte Handlung begehen; das Unsittliche liegt ja eben darin, daß wir irgendeine Harmonie stören.«

»Er strömt aber immer eine seltsame Kälte aus.«

»Nein, er ist gütig.«

»Ich sage ja nicht, daß er schlecht ist, aber liebt er jemand?«

»Andrej?! Alle liebt er, alle.«

»So meine ich es nicht, Sonja; aber liebt er jemand einfach so?«

Sonja war verwirrt und wurde rot.

»Ich weiß es nicht, Joseph; ist es denn nicht ganz gleich, ist das wichtig?«

»Es ist sehr wichtig, Sonja; wieso verstehst du das nicht? Außerordentlich wichtig! Wie kann man ohne Liebe leben? Ohne Liebe ist alles tot, und auch der Glaube ist tot.«

»Du sagst etwas, was mir ganz neu ist.«

Jossif widersprach nicht und brachte die Rede auf andere Dinge. In Sonjas Wohnung wurden sie von Viktor erwartet.

»Warum warst du nicht bei der Beerdigung, Viktor?« fragte Jossif.

»Ich wollte nicht mit Jekaterina Petrowna zusammenkommen. War Andrej da?«

»Ja. Auch Bessakatny.«

»Wo kommt der her?«

»Eben angekommen.«

»Auch Ljolja?«

»Nein; es heißt, daß sie dortgeblieben ist.«

Viktor pfiff und sagte:

»Nun, was habe ich gesagt, Joseph? Genau so ist es gekommen; als ob ich Serjosha Bessakatny nicht kennen würde!«

»Ja, Katja hat etwas angerichtet mit dieser Flucht«, versetzte Sonja.

»Was hat Katja damit zu tun?«

»Sie hat ja das Ganze arrangiert.«

»Es wäre auch ohne sie so gekommen.«

Sonja war beim Teetrinken zerstreut, sprach sehr wenig, trommelte mit den Fingern auf die Teekanne und sah aufs Fenster, durch das die Sonne schien, als ob draußen richtiger Frühling wäre.

»Was für eine Reise prophezeit mir wohl Andrej Iwanowitsch?«

Sonja blickte ihn ernst an und erwiderte nichts.

»Es würde dir gar nicht schaden, irgendeine Reise zu machen und neue Luft zu atmen, Joseph«, sagte Viktor.

»Wohin denn?«

»Man kann schon einen Ort finden; hattest du nicht die Absicht, mit Broskin irgendwohin zu reisen?«

»Nun, das ist eigentlich keine hervorragende Gesellschaft«, bemerkte Sonja.

»Man soll nicht so wählerisch sein; Sascha liebt den Joseph, und mit ihm geht man unterwegs nicht verloren, er ist in unseren Bärenhöhlen ein unersetzlicher Begleiter. Und noch eins, Joseph: schau, daß du dein Geld schnell bekommst; ich fürchte nämlich, daß deine Frau wieder etwas im Schilde führt.«

»Es sind noch einige Formalitäten zu erledigen«, bemerkte Sonja.

»Was führt denn Jekaterina Petrowna im Schilde?« fragte Jossif.

»Ich weiß es nicht bestimmt, aber ich hörte, daß sie dich für geisteskrank erklären, unter Kuratel stellen und dein ganzes Geld einstecken will.«

»Was fällt dir ein, Viktor? Du solltest dich schämen!« rief der Stiefvater aus.

»Warum? Es klingt sehr wahrscheinlich«, bestätigte Sonja.

»Liebst du denn noch immer Jekaterina Petrowna oder glaubst an ihre Liebe?« fragte Viktor.

»Nein, aber ich habe meinen Glauben an die Menschen nicht ganz verloren.«

»Na, bei ihr kannst du gerade auf Mitleid rechnen!«

»Sprechen wir nicht mehr davon.«

»Es lohnt auch nicht, mit dir darüber zu sprechen, aber Sonja und ich werden auf der Hut sein.«

»Tut, was ihr wollt.«

Auf dem Heimweg schwiegen sie, erst kurz vor dem Ziel fragte Jossif, gleichsam seine Überlegungen abschließend:

»Was glaubst du, Viktor, liebt Fonwisin jemand fleischlich?«

Viktor blickte ihn verwundert an.

»Was fällt dir plötzlich ein, danach zu fragen?«

»Nein, was denkst du darüber?« beharrte Pardow.

»Ich denke nicht, ich weiß, daß er unberührt ist.«

»Ist das wahr?«

»Es ist wahr!«

Jossif fing nach einer Weile von neuem an:

»Und wenn er nicht unberührt wäre, wie wäre er dann?«

»Hör einmal, Joseph, du bist ganz dumm geworden: woher soll ich das wissen?«

»Ich habe mich falsch ausgedrückt . . . Wenn ihm sinnliche Regungen nicht fremd wären, so wäre er noch besser, gütiger, heiliger.«

Viktor blieb sogar stehen.

»Joseph, man könnte meinen, daß es deine selige Tante ist, die so spricht, und nicht du. Daß es dir nur nicht einfällt, dasselbe deinen Christusbräuten zu predigen!«

»Wer soll denn die Liebe kennen, wenn nicht die Bräute? . . . Ich wollte dich noch fragen, ob Andrej Iwanowitsch dann nicht ebenso wie Adventow wäre?«

»Ich weiß es nicht, Joseph. Was willst du eigentlich von mir? – Joseph, laß mich endlich in Ruhe!«

Beim Abschied sagte Viktor leise:

»Vielleicht hast du auch recht, Joseph: vielleicht ist Andrej ebenso wie Adventow und aus diesem Grunde jungfräulich, überhaupt ist alles, was du sagtest, gar nicht so dumm: verzeih mir!«

»Ich verstehe ja nicht, ordentlich zu sprechen«, rechtfertigte sich Jossif schuldbewußt.

In den folgenden Tagen war er unruhig in Erwartung des angekündigten Besuches; am Freitag wurde sein Zimmer gewischt, er stand in aller Frühe auf, entzündete die ewigen Lämpchen, wusch und kleidete sich besonders sorgfältig, brachte seine Bücher und sonstigen Sachen in Ordnung und ging, ohne zu rauchen, auf und ab. Das Rauchen wurde bei den Sykows nur ungern geduldet, und Jossif war es zu dumm geworden, wegen jeder Zigarette ins Stiegenhaus hinauszulaufen oder sich einzuschließen, und so hatte er sich das Rauchen fast gänzlich abgewöhnt.

Marina kam, die Hände im Rücken, zu ihm ins Zimmer. Sie hatte ein rosa Kleid und ein weißes Kopftuch an und strahlte vor Freude.

»Gott hat mir seine Gnade erwiesen!« sagte sie an der Schwelle, ihm eine große Rose reichend, und fügte hinzu: »Die ist für Sie.«

»Woher haben Sie diese Prachtrose?« fragte Jossif, die großen, feuchten, rosa Blütenblätter betrachtend.

»Ein Geschenk von mir. Heute ist ein großer Tag! Ihnen will ich es sagen: verraten Sie mich nicht.« Marina sah sich um, ging auf Jossif zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich habe heute den Leib und das Blut des Herrn empfangen!«

Sie wurde vor Aufregung selbst ganz rosa und rief laut aus:

»Ach, den Leib, den Leib und das Blut des Herrn!«

Jossif fragte flüsternd, noch immer die Blume betrachtend: »Wo denn?«

»In der Nikolajewskaja-Straße.«

»In der Kirche der Gleichgläubigen?«

»Ja.«

»Ich gratuliere Ihnen; ich bin sehr froh.«

»Und wie froh bin ich erst, daß ich dieser Gnade teilhaftig wurde!«

Jossif merkte erstaunt, wie schön und jung Marina, obwohl sie stark abgemagert war, an diesem Morgen aussah.

»Nun leben Sie wohl; Sie erwarten Besuch?«

»Es ist noch zu früh.«

»Noch etwas«, sagte Marina, an der Schwelle stehenbleibend: »Ich muß ja sowieso sterben, darum will ich es Ihnen an diesem großen Tag sagen: Ich liebe Sie, Jossif Grigorjewitsch, ich liebe Sie heiß, nicht wie einen Bruder, sondern so, wie ich meinen Mann liebte, wenn er noch am Leben wäre. Sagen Sie nichts, antworten Sie nichts, lassen Sie uns nur einander wie die Mönche küssen.«

Und sie legte dreimal leicht ihre Wange an die Jossifs und ging wie durch die Luft schwebend hinaus, den Duft von Weihrauch und Rosen zurücklassend.

Jossif stand lange unbeweglich da, tat dann die Rose in ein Glas mit Wasser, stellte dieses aufs Fensterbrett, setzte sich und wartete. Er hatte an diesem Morgen, ohne es zu bemerken, nichts gegessen und nichts getrunken. Als er die Klingel hörte, wollte er aufspringen und dem Gast entgegenlaufen, seine Beine waren aber wie gelähmt und wollten ihm nicht gehorchen. Er blieb sitzen und drückte die Hand an das klopfende Herz. Er hörte, wie der Besucher fragte, ob Herr Pardow zu Hause sei, wie er im Vorzimmer verweilte, dann durch den Salon ging, leicht an seine Tür klopfte und fragte: »Darf ich?« Und dann noch einmal. Auch die Zunge wollte nicht gehorchen; schließlich gelang es Jossif mit Mühe, diese plötzliche Stummheit zu überwinden, und er rief laut und heiser:

»Herein!«

Fonwisin trat ins Zimmer.

»Sie haben mich wohl nicht erwartet und sind erschrocken?« fragte der Gast.

»Nein, ich habe Sie erwartet . . . Sehen Sie . . .«

»Was für eine herrliche Rose. Es riecht bei Ihnen nach Weihrauch: waren Sie in der Kirche?«

»Nein, ich nicht.«

»Glauben Sie nur nicht, daß ich Sie vergessen, daß ich Sie verlassen und an Sie nicht gedacht habe. Wissen Sie, was Ihnen fehlt?«

»Ja, o ja! Die Kirche, ein wahres Leben und eine lebendige Liebe, aber wo kann ich sie finden?«

»Wo? Da ist eine Kirche«, sagte der Offizier, durch das Fenster auf das nächste Kirchenkreuz zeigend.

»Aber welche? Ihrer sind so viele.«

»Es gibt viele Riten, aber nur eine christliche Kirche.«

»Und lebendige Liebe! . . . Ich habe viel geliebt, und was wurde daraus? Tod und Trauer! Wem soll ich meine Seele geben? Man kann wohl fleischlich lieben, ohne seine Seele hinzugeben.«

»Es gibt nur eine Liebe! Wenn Sie fleischlich lieben, geben Sie vielleicht etwas Größeres und Schrecklicheres her. Fürchten Sie nicht, das zu verlieren, was wiedergeboren wird; ohne zu verderben, können Sie nicht erretten. Es gibt nur eine Liebe: zu Gott, zur Braut, zum Bräutigam!«

»Und Sie? Und wie ist es mit Ihnen?«

»Die Rede ist nicht von mir, sondern von Ihnen. Ich bin ein Mensch und kein körperloser Geist, kein geistiger Kastrat.«

»Verlassen Sie mich nicht! Ich gebe mich in Ihre Hand.«

»Geben Sie sich in Gottes Hand.«

»Aber durch Sie, durch Sie! Führen Sie mich!«

Jossif wußte kaum, was er sagte, was ihm der Gast antwortete, wie er vor Andrej niederkniete und warum ihn jener aufhob und küßte, er wußte kaum, daß die Unterredung nicht einen kurzen Augenblick, sondern volle zwei Stunden dauerte, und hörte nicht, wie die Kirchenglocken traurig und süß zur Abendmesse läuteten – aber ohne das alles zu wissen und zu verstehen, wußte er doch gut, was in ihm vorging und was er wissen mußte.

Marina kam ins Vorzimmer und sagte mit einer tiefen Verbeugung:

»Andrej Iwanowitsch, lassen Sie sich anschauen.«

»Ach, Marina! Wie geht es Ihnen?«

»Gut, sehr gut.«

»Grämen Sie sich nicht?«

»Nein.« Sie kam einen Schritt näher und fügte leise hinzu:

»Andrej Iwanowitsch, verlassen Sie Jossif Grigorjewitsch nicht, lieben Sie ihn, um des Herrn willen!«

»Sie brauchen mich nicht erst darum zu bitten, Marina!«

»Wir lieben ihn so sehr!«

»Wie sollte man ihn nicht lieben! Auf Wiedersehen.«

»Leben Sie wohl. Verzeihen Sie mir, um Christi willen.«


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