Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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V

Es war irgendein Feiertag und echtes Feiertagswetter: im Garten und auf den Feldern war es sonnig, hell und warm. Sonja ging mit Jossif und Viktor den Weg entlang und zupfte an einem Grashalm, den sie in der Hand hielt. Der Schatten des Mädchens auf dem rötlichen Sand war kürzer sogar als Viktors Schatten. Sie blickte zum tiefblauen Himmel, an dem kein einziges Wölkchen zu sehen war, und sagte, wie in einem Gespräch fortfahrend:

»Nicht wahr?«

»Ja, ich hätte es mir niemals gedacht, daß ein Mensch einen so bezaubern kann.«

»Nicht wahr?«

»Er sagte mir . . .«

»Jossif, erzähle seine Worte niemand, selbst mir nicht. Bewahre sie in deiner Seele und denke immer an sie. Nicht wahr«, begann sie wieder, »jedes Leid, jedes Unglück und selbst der Tod für ihn muß als eine Freude erscheinen?!«

»Er besitzt große Kraft.«

»Und dann sein Gesicht! . . .«

»Ja, was das Äußere betrifft, so kann es Andrej Iwanowitsch mit jedem aufnehmen«, fiel Viktor ein.

»Als er mich küßte . . .«

Sonja blieb stehen:

»Er hat dich geküßt, Joseph? So küsse auch du mich!« fügte sie errötend hinzu. Jossif beugte sich zu dem jungen Mädchen, das sich auf den Fußspitzen reckte, und küßte es laut auf die Wange.

»Nein, nicht so, nicht so!« sagte sie und drückte ihm einen Kuß auf den Mund.

»Dann will aber auch ich dabei sein!« bat der Junge. Sie küßte auch ihn.

»Wie gut, Joseph, jetzt fürchte ich nicht mehr für dich! Du bist unser: wir sind drei!«

»Sogar vier, und fünf!« zählte Viktor an den Fingern ab.

»Wer denn noch?« fragte Jossif.

»Es sind viele; du wirst es erfahren«, antwortete Sonja ernst und brachte die Rede wieder auf Andrej. Auf dem Nachhauseweg ließ sie wie nebenbei fallen:

»Du hast gestern abend natürlich ritterlich gehandelt, die Sache ist doch aber selbstverständlich noch nicht endgültig beschlossen?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine das mit dem Heiraten . . .«

»Warum?«

»Nun, das wird sich noch zeigen, die Hochzeit soll doch nicht gleich morgen sein?«

»Selbstverständlich nicht.«

Als Jossif ins Zimmer Jekaterina Petrownas trat, war seine Braut mit der Durchsicht irgendwelcher Papiere beschäftigt. Auf dem Tisch und auf den Stühlen lagen unordentlich oder vielleicht auch in einer gewissen, nur ihr allein bekannten Ordnung Papiere und Briefschaften verschiedenen Formats, teils zusammengeschnürt und teils lose. Vor dem Ofen war eine Tracht Brennholz vorbereitet.

»Katja, was machst du da?«

»Ich ordne die alten Papiere meines Mannes.«

»Und wozu ist das Holz?«

»Gestern abend hatte ich Fieber und wollte für die Nacht den Ofen einheizen.«

»Gott bewahre! Es ist ja ohnehin unerträglich heiß.«

Jekaterina Petrowna gab darauf keine Antwort, sie hüllte sich in ihr Tuch und band alle Papiere mit Ausnahme von zwei oder drei zu einem Paket zusammen. An die Tür wurde plötzlich geklopft, und sie beeilte sich, den Bräutigam fortzuschicken.

»Entschuldige bitte: ich erwarte geschäftlichen Besuch und möchte die Sache noch vor dem Frühstück erledigen.«

Die beiseite gelegten Papiere schob sie schleunigst unter die Tischdecke. Iwan Pawlowitsch, der ins Zimmer trat, fragte ebenso wie der erste Besucher: »Katja, was machst du da?« Die Antwort aber lautete anders. Jekaterina Petrowna warf das Tuch von sich, hockte sich auf den Boden und begann das Holz in den Ofen zu legen.

»Was bedeuten diese Vorbereitungen?«

»Sie wissen doch, daß die von uns erwarteten Gäste bereits eingetroffen sind und mich heute oder morgen besuchen werden?«

»Was gedenken Sie zu tun?«

»Eigentlich müßte ich alle Ihre Papiere zurückgeben, ich will Sie aber nicht zugrunde richten und habe noch viel weniger Lust, mich selbst einer Gefahr auszusetzen.«

»Sie wollen also ein Autodafé veranstalten?«

»Das eben ist es, und ich muß mich sehr beeilen, da sie jeden Augenblick kommen und uns überraschen können«, sagte Jekaterina Petrowna, das Feuer anfachend.

»Sind das alle Papiere?«

»Wollen Sie sich denn etwas zur Erinnerung aufheben?«

»Im Gegenteil, ich fürchte, daß Sie etwas vergessen haben.«

»Ich weiß es nicht; ich bin nicht neugierig und habe das Paket nicht einmal aufgebunden.«

»Woher wissen Sie denn, daß die Gefahr so nahe ist?«

»Ich weiß es eben. Obwohl Sie mir immer vorwerfen, daß ich mich allzuviel mit meinen Angelegenheiten abgebe, bin ich doch tätiger und besser unterrichtet als Sie.«

»Vielleicht ist es nur ein blinder Alarm.«

»Vielleicht. Dann wollen Sie aber alle Ihre Papiere wieder zu sich nehmen, da sie bei mir durchaus nicht so sicher aufgehoben sind, wie wir es dachten.«

»Warum? Gibt es denn hier im Hause Verräter?«

»Keine Verräter, aber Menschen mit abweichenden Anschauungen.«

»Wer ist es denn?«

»Nun, zum Beispiel Sonja Dreistück; nicht umsonst ist sie mit Andrej Fonwisin befreundet; und vor einer Uniform soll man sich immer in acht nehmen.«

»Ich dachte, Sofja Karlowna ist in Herrn Fonwisin einfach verliebt.«

»Um so schlimmer. Entschließen Sie sich schneller: der Ofen brennt schon.«

Iwan Pawlowitsch drückte die Hand auf die Augen und versank in Gedanken, während Jekaterina Petrowna die schon zerfallenden roten Holzscheite mit dem Schürhaken bearbeitete. Er seufzte auf und sagte:

»Nun, von mir aus, verbrennen Sie alles.«

»Ich glaube, das ist wirklich das vernünftigste.«

Und sie stopfte mit Mühe das ganze Paket in das Ofenloch. Dicker Rauch zog durch das Zimmer. Iwan Pawlowitsch bemerkte:

»Nichts als Rauch! So viele Jahre Leben, Arbeit, Freude und Sorge um viele Menschen, und alles wird zu Rauch!«

»Es wird auch Feuer geben!« bemerkte die Witwe auflachend. »Nur kein dauerndes; außerdem noch ein Häuflein Asche.«

»Ist hier alles dabei?« fragte Jegerew, auf das Paket, das schon in Flammen stand, zeigend.

»Alles«, erwiderte Jekaterina Petrowna bestimmt. »Gehen Sie jetzt: ich muß die Fenster aufmachen und das Zimmer lüften. Es darf Sie hier auch niemand sehen.«

Jekaterina Petrowna geleitete auch den zweiten Besucher hinaus, betastete die unter der Tischdecke versteckten Papiere und begab sich zum Frühstück.

Der heiße Tag führte zu einem kurzen Gewitter mit lustig rauschendem Regen. Sonja trat in ihrem altmodischen Hut und der ewigen Pelerine, eine Reisetasche in der Hand, ins Eßzimmer und sagte zu Jossif, der am Tisch saß:

»Joseph, lebe wohl, ich verreise.«

»Du verreist? Wohin?«

»Nach Petersburg, zu Ljolja. Ich habe von ihr einen Brief erhalten. Und deinetwegen bin ich unbesorgt.«

»Sonja, was fangen wir ohne dich an?«

»Du bist auf dem richtigen Wege, ich werde dir schreiben; wenn es einmal nötig ist, komme ich zurück. Andrej wird hier sein.«

»Ich kann es gar nicht fassen, daß du so plötzlich weggehst. Das ist doch kein Traum?«

»Nein, durchaus nicht. Die Pferde stehen ja schon bereit; der Regen ist vorbei.«

Sie traten beide ans Fenster: ein riesengroßer Regenbogen überspannte als siebenfarbige Brücke den ganzen Himmel, und die Sonne funkelte auf den nassen Gräsern und Blättern.

»Joseph, bete! Wie herrlich ist das alles!« Und sie klopfte ihm mit ihrem kleinen Händchen so lange auf die Schulter, bis er sich vor der wunderbaren Brücke am Himmel bekreuzigte. Sonja bekreuzigte sich gleichfalls und sagte: »Jetzt lebe wohl. Du wirst nicht verlassen sein.«

Als Jekaterina Petrowna nach dem Frühstück auf ihr Zimmer zurückkehrte, waren die Papiere unter der Tischdecke verschwunden.


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