Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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II

Sonja, Jossif und alle Sykows saßen in friedlicher Unterhaltung am Teetisch, als plötzlich Viktor in Mütze und Mantel ins Zimmer stürzte und erregt meldete:

»Wissen Sie, meine Herrschaften: Adventow hat sich erschossen.«

Der Alte bemerkte, auf die Heiligenbilder zeigend:

»Die Mütze sollten Sie doch abnehmen!«

Viktor schniefte, zog aber die Mütze.

Jossif fragte, als hätte er nicht gehört:

»Um Gottes willen, was sagst du, Viktor: Adventow hat sich erschossen? Wo? Wann?«

»Ich las es in der Zeitung; ich glaube nicht, daß es aus der Luft gegriffen ist.«

»Es ist wahr«, bestätigte Sonja leise.

»Wir lesen keine Zeitungen«, bemerkte der Alte.

»Ja, gewiß, es stand heute im ›Tageblatt‹; er war Schriftsteller, im Ausland ist es geschehen«, mischte sich Jakow Sacharytsch ein.

»Es kann nicht sein, es kann nicht sein! Ich glaube es nicht«, murmelte Jossif.

»Doch, Jossif, es ist wahr, ich weiß es, ich will dir später alles erzählen«, sagte Sonja.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Ich wollte dich jetzt nicht aufregen.«

»War er ein Verwandter?« fragte Olga Iwanowna.

»Nein, aber ein guter Bekannter.«

»War der Herr krank, oder war es eine geistige Umnachtung?« ließ Olga Iwanowna nicht locker.

»Ja, eine Umnachtung. Er war überhaupt sehr unglücklich«, antwortete Sonja.

»Wie ein Zweig im Winde«, flüsterte Marina.

»Schade, schade! Wenn nicht der Herr das Haus behütet, so wacht der Wächter umsonst«, sagte der Alte.

»Er war ein gläubiger und in seiner Art gottesfürchtiger Mensch«, entgegnete Sonja.

»Welcher Kirche gehörte er denn an?«

»Der rechtgläubigen.«

»Wir sind alle Rechtgläubige«, bemerkte der Onkel lächelnd und fuhr fort: »Hat er denn keinen Geistlichen finden können, dem er vertraute und der ihm verboten hätte, so kleinmütig zu sein?«

»Ich weiß es nicht; wohl nicht; er war ja im Ausland und hatte es sehr schwer.«

»Entschuldigen Sie, Fräulein, es ist nichts als Feigheit und eine große Sünde.«

»Es ist schwer, einen andern zu richten«, sagte Sonja irgendwie verschämt.

»Gewiß, Gott allein ist sein Richter, verzeihen Sie mir.«

»Sie sprechen, wie es sich gehört: was soll ich Ihnen verzeihen? – Joseph, laß uns zu dir gehen, wenn es möglich ist.«

»Ich kann es immer noch nicht fassen!« wiederholte Jossif aufstehend.

»Wahrscheinlich hat irgendein Frauenzimmer Ihrem Bekannten das Leben sauer gemacht!« rief Olga Iwanowna ihnen nach.

»Sie meinen wohl, alle sind wie Sie?« entgegnete Viktor.

Als sie zu dritt unter sich waren, fing Jossif sofort an, Sonja nach den Gründen von Adventows Tod auszufragen.

»Ich wußte es; es ist vor fünf Tagen geschehen, dieser Tage wird er überführt.«

»Und du konntest schweigen? Das war eine Sünde, Sonja!«

Sie fuhr aber fort:

»Er schrieb mir von seinem . . . bevor er den Entschluß faßte. Er schrieb, daß er sich sehr darin getäuscht habe, worauf er sein ferneres Leben und Glück hatte gründen wollen, und daß ihm in der Zukunft nichts mehr winke. Daß durch diese Täuschung auch alles Vergangene ausgemerzt sei.«

»Wie ist denn das? Wie ist denn das?« rief Jossif. »Und seine Kunst? Und dann war er ja auch noch nicht alt.«

»Ja, er war nicht alt, aber auch nicht mehr so jung. Außerdem war ihm sein Privatleben mehr wert als seine Kunst; in der letzten Zeit war er sehr einsam. Ich rechtfertige ihn nicht, aber ich verstehe ihn. Denke dir nur den Fall, daß du jemand liebtest und auf diesem Gefühl deine ganze Zukunft gründetest, und es sich dann herausstellte, daß man dich nicht nur nicht liebte, sondern auch nicht lieben konnte.«

»Sonja, Sonja, schweig, was sagst du mir da?«

»Verzeih, Joseph, ich dachte gar nicht an dich; bist du denn in derselben Lage?«

»Michail Alexandrowitsch war einfach schwächer, als wir annahmen«, erklärte Viktor.

»Was weißt du davon, Viktor? Ihm fehlte eines, ohne das wir alle zugrunde gehen müssen«, sagte Jossif.

»Der Glaube?« fiel Sonja ein. »Ja, der Glaube wird uns retten und bewahren!«

»Dich wird der Glaube retten und bewahren, Sonja, denn du bist stark, mir aber genügt der Glaube nicht, für mein Glück, für meine Rettung brauche ich auch noch . . .«

»Was?« fragte Sonja leise.

»Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll . . . Etwas, was ich umfassen könnte, was mich hielte und was auch ich halten könnte . . . und was außerhalb meiner selbst läge . . .«

»Die Kirche?« fragte Sonja noch leiser.

»Vielleicht«, bestätigte Jossif.

Sonja verstummte, nur Viktor rannte unruhig auf und ab. Nach einer Weile sagte das Mädchen nachdenklich:

»Vielleicht überschätzt du auch meine Kraft, Joseph?«

»Ich wäre sehr froh.«

»Warum?«

»Dann wären wir einander näher und verwandter.«

Sonja sagte nichts und küßte ihn lächelnd.

Jossif war zu aufgeregt, um zu Hause bleiben zu können. Obwohl er seine Erregung durch nichts äußerte, begab er sich mit seinem Stiefsohn zu Sascha. Unterwegs fragte er ihn schüchtern:

»Weißt du nicht, Viktor, ob bei diesem Unglück mit Adventow nicht Sergej Pawlowitsch mit im Spiel war?«

»Wie denn nicht? Ich wollte davon nur in Sonjas Gegenwart nicht sprechen, obwohl sie es natürlich weiß. Adventow hat ja mit Bessakatny zusammengelebt; wie es sich später herausstellte, hat deine Frau diesen mit Ljolja verkuppelt und ihre Flucht arrangiert.«

»Sie liebten doch einander . . .«

»Ach, hör bitte auf! Als ob ich Serjosha Bessakatny nicht kennte! Er liebt Ljolja ebensowenig wie vorher Michail Alexandrowitsch.«

»Wen liebt er denn?«

»Dirnen!«

»Es ist also doch gut, daß die Wahrheit zum Teil ans Licht gekommen ist?«

»Wozu soll es gut sein?«

»Ich verstehe gar nichts.«

»Du bist bei deinen Betschwestern ganz verrückt geworden!«

Da sie vor Broskins Tür angelangt waren, brachen sie dieses Gespräch ab. Bei den Broskins herrschte Aufregung, anscheinend keine unangenehme.

»Was ist geschehen?« erkundigte sich Viktor.

Sascha schwieg, Marja Iljinitschna aber rief aus dem Nebenzimmer.

»Ja, was geschehen ist! Man hat Wasja, Linde, Senja und die Iraïdka verhaftet, und sie werden sich wohl nicht so leicht herauswinden: werden wohl hinter schwedischen Gardinen sitzen müssen und vielleicht auch eine Reise nach Sibirien machen.«

»Was haben sie denn angestellt?«

»Anscheinend etwas sehr Schönes.«

»Sie haben irgendein Muttersöhnchen bestohlen.«

»Wann hat man sie verhaftet?«

»Erst heute früh.«

»Können sie wirklich nicht freikommen?« fragte Jossif aus Höflichkeit.

»Ausgeschlossen!« erklärte Broskin freudestrahlend.

»Worüber freuen Sie sich denn so?« fragte Viktor böse.

»Ich freue mich gar nicht; ich muß nur über ihre Dummheit lachen.«

»Sie sind ja so klug!«

»Wieso nicht?«

»Jekaterina Petrowna hat Ihnen jedenfalls das Geld noch immer nicht gezahlt.«

»Sie wird schon bezahlen«, sagte Sascha überzeugt.

Seine Frau fügte hinzu, wie um dem Wortwechsel ein Ende zu machen:

»Der Wasja wird vielleicht doch freikommen.«

»Warum?«

»Weil er beim BundGemeint ist die monarchistische, judenfeindliche Schwarzhunderterorganisation ›Bund des russischen Volkes‹. ist.«

»Das gibt heute keinen Schutz mehr, meine Liebe!«

»Sind Sie auch beim Bund, Alexander Alexejewitsch?« fragte Jossif.

»Gewiß«, antwortete jener.

»Warum, um sicher zu sein?«

»Nein, das dürfen Sie nicht denken. Ich will Ihnen erklären, warum ich beim Bund bin.«

»Bitte sehr.«

»Weil ich frei sein will und der Ansicht bin, daß man bei der alten, festen Ordnung viel freier leben kann.«

»Ich verstehe Sie nicht . . .«

»Wie soll man solchen Unsinn verstehen?« versetzte Viktor.

»Das müßte ich lange erklären, aber ich weiß es. Wenn Sie einen Paß haben und es nicht gar zu arg treiben, so rührt Sie niemand an, und es kann Ihnen gegen Ihren Willen nichts geschehen.«

»Und wie wäre es bei der neuen Ordnung?«

»Heute geht es noch, aber wenn einmal alles so wird, wie die es wollen, so werden alle nach dem gleichen Maßstab gestutzt, alle werden gleich sein wie abgewetzte Kupfermünzen, und man wird keinen Schritt ohne Bevormundung machen können. Das wird aber nicht geschehen. Und wenn jemand klüger ist oder sonst irgendwie hervorragt, werden sie ihn vernichten.«

»Warum stehen dann so oft hervorragende Menschen an der Spitze?«

»Das ist nur vorläufig so. Oder sie treiben falsches Spiel: befreien uns von der einen Gewalt, um selbst eine noch viel schlimmere zu errichten.«

»Sie reden Unsinn, Alexander Alexejewitsch; Joseph, laß uns lieber in die ›Donau‹ gehen.«

»Warte noch. Sie verprügeln also auch Juden?«

»Warum denn nicht, wenn man damit nichts riskiert? Dazu sind wir immer bereit, ganz gleich wen.«

Viktor wollte immerzu in die ›Donau‹, während Broskin sie bat, noch zu bleiben; schließlich einigte man sich zu bleiben, aber von Politik sollte nicht mehr gesprochen werden. Sofort erschienen auf dem Tisch Wein und Zuspeisen, und Jossif, der lange gefastet hatte, war bald beschwipst. Als Ljuba ins Zimmer trat, wandte er sich an sie:

»Nun, wie geht es Ihrem Warysin?«

Sie gab keine Antwort, aber Sascha flüsterte ihm zu:

»Fragen Sie lieber nicht; seine Frau ist gekommen, er hat ganz aufgehört, uns zu besuchen.«

Marja Iljinitschna knackte Nüsse und schimpfte immerzu auf die Sykows; Jossif fragte Sascha:

»Kennen Sie auch die Marina?«

»Nur vom Sehen, sonst bin ich mit ihr nicht bekannt; gehört sie auch zu den Popenlosen?«›Popenlose‹ wurden verschiedene Sekten der Altgläubigen genannt, auch die ›Gleichgläubigen‹ oder ›Gesegneten‹ waren eine altgläubige Sekte.

»Ja, ich glaube.«

»Warum traf ich sie denn neulich bei einem Popen der Gleichgläubigen?«

»Sie haben sich wohl geirrt.«

»Ganz sicher nicht, darauf können Sie Gift nehmen.«

Jossif schenkte sich ein Glas nach dem andern ein, um durch einen schnellen Rausch die Gedanken an Adventows Tod, an Katja und vieles andere, was ihn die letzten Tage gequält hatte, zu vertreiben, aber statt süßen Vergessens fühlte er nur Schläfrigkeit. Die Broskins wollten ihn bei sich behalten, doch er setzte seinen Willen durch und begab sich beim Morgengrauen zu Fuß heim. Marina machte ihm die Tür auf. Er zog verlegen den Mantel aus und wandte sich von ihr weg. Marina schwieg aber, so daß er doch als erster sprach:

»Warum schlafen Sie noch nicht?«

»Ich bin schon aufgestanden, muß den Teig bereiten.«

»Wo machen Sie das?« fragte Jossif dumm.

»In der Küche«, antwortete Marina, ohne zu lächeln.

Jossif setzte sich auf einen Stuhl im Vorzimmer und fragte weiter:

»Sie gehören doch zu den Popenlosen, Marina Parfenowna?«

»Ja. Warum?«

»Wie können Sie ohne Abendmahl leben? Das ist nicht schön!«

»Was soll ich machen!« entgegnete Marina errötend. »Gehen Sie jetzt schlafen, Jossif Grigorjewitsch, wir wollen nachher darüber reden.«

»Ich gehe schon schlafen, werde Ihnen aber auch nachher sagen, daß es nicht schön ist.«


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