Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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IV

Viktor ließ sich seit dem frühen Morgen nicht blicken; niemand war aber darüber erstaunt, da er oft plötzlich zu verschwinden und ebenso plötzlich zu erscheinen pflegte. Viel merkwürdiger war, daß Sonja über sein heutiges Verschwinden so aufgeregt war. Sie konnte keine Ruhe finden und ging immer von Fenster zu Fenster und von einem Balkon zum andern. Selbst Marja Matwejewna bemerkte den sonderbaren Zustand ihrer Tochter und sagte leise zu Jossif: »Sonja ist heute so furchtbar erregt.«

»Wirklich? Ich habe nicht darauf geachtet.«

»Glaube mir, es ist so.« Gleichsam um die Worte der Mutter zu bekräftigen, huschte Sonja in diesem Augenblick in flatternder Pelerine, die ihr Ähnlichkeit mit einem angeschossenen Vogel verlieh, durchs Zimmer.

»Sonja, wo willst du hin?« rief ihr Jossif nach, bekam aber keine Antwort.

Sie lief die Treppe hinunter, auf die Terrasse, dann durch den Garten und die Wiese zum Feldweg, auf dem sich Viktor in staubigen Kleidern zeigte.

»Hat er dir eine Antwort mitgegeben?« fragte sie atemlos.

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Er will selbst mit ihm sprechen.«

»Nicht möglich! Wann denn?« Sie drückte Viktor an ihre schmächtige Brust und bedeckte ihn mit Küssen.

»Er ist hier hinter dem Wäldchen; er ist mit mir mitgekommen.«

Sonja bekreuzigte sich und ließ sich schweigend auf eine Bank nieder.

»Ich kann es noch gar nicht fassen: Andrej Fonwisin ist selbst hergekommen, ich werde ihn gleich sprechen, und dann wird ihn auch Jossif sehen? Gott, richte es ein, wie du es vermagst! Vitja, komm!«

»Wohin?«

»Zu ihm natürlich.«

»Er wird gleich selbst herkommen, er bindet eben die Pferde an, ich bin vorausgelaufen.«

»Ehe er mit Jossif zusammenkommt, muß ich ihn sprechen.«

»Wie du willst.«

Fonwisin näherte sich mit schnellen, gleichmäßigen Schritten. Sonja schloß die Augen und drückte dem Jungen fest die Hand.

»Guten Tag!« Seine Stimme schien aus der Ferne zu kommen; als aber Sonja die Augen aufschlug, stand er schon dicht vor ihr. Viktor war verschwunden.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie bemühe, aber . . .« fing Sonja an; Andrej unterbrach sie:

»Sie wissen doch selbst, wie die Sache steht; eine Person, für die Sie und Adventow sich so interessieren, muß etwas bedeuten, da geht es um mehr als um meine Ruhe. Von Adventow bekam ich einen Brief mit der Bitte, Ihnen in dieser Sache nach Kräften behilflich zu sein. Sagen Sie mir kurz alles und – was kann ich tun?«

»Blicken Sie ihn nur an, und er wird genesen. Was später auch kommen mag, und wenn auch ›der Hund immer wieder zu seinem Auswurf zurückkehrt‹, der Same wird keimen.«

»Was ist jetzt mit ihm los?«

»Dieses Frauenzimmer! Ich sah sie gestern nacht aus seinem Fenster steigen. Ich bin keine Puritanerin: von mir aus kann er zehn haben. Sie ist aber keine gewöhnliche Dirne, sie wird ihn nicht loslassen, ehe sie ihn gänzlich zugrunde gerichtet hat. Sie kennen sie nicht. Sie will, daß er sie heiratet; ich weiß nicht, wozu sie es braucht, jedenfalls ihm zum Schaden. Sie verleitet ihn zum Trinken und verdirbt ihn nicht nur (dieses Joch kann man ja leicht von sich werfen und leicht ertragen), sondern fesselt ihn auch mit geheuchelter Güte an sich.«

»Ist sie Ihre Verwandte?«

»Nein, Gott bewahre!«

»Wir sind doch für unsere Verwandten nicht verantwortlich.«

»Ich könnte es nicht ertragen. Und er ist ein zärtlicher und edler Knabe.«

»Kann ich unbemerkt zu ihm kommen, oder muß es in offizieller Form geschehen? . . .«

»Es geschieht besser heimlich. Ich will es Ihnen erklären: Sehen Sie dieses Fenster und darunter die Tür? Das Fenster ist das meines Zimmers, die Tür führt hinauf, wo gleich das erste Zimmer das meinige ist. Ich will ihn vorbereiten und zu mir ins Zimmer bringen. Gehen Sie inzwischen zum Teich; dort steht eine alte Laube, in die niemand kommt und von der aus Sie das Fenster meines Zimmers sehen können. Ein weißes Tuch ist das Zeichen. Ich danke Ihnen!« Ehe der Offizier es verhindern konnte, küßte sie ihm beide Hände und flog mit ihrer flatternden Pelerine wie ein Vogel davon.

Jossif saß im Salon am Klavier und sang; Jekaterina Petrowna stand hinter ihm und hatte beide Hände auf seine Schultern gelegt. Er blickte zärtlich und etwas geistesabwesend wie ein Angetrunkener. Sonja wartete, bis er mit dem Lied zu Ende war, und sagte: »Joseph, komm zu mir auf mein Zimmer, ich muß mit dir sprechen.«

»Warum diese Eile? Und warum bist du so aufgeregt, Sonja?« fragte Jekaterina Petrowna, die sich gar nicht beeilte, ihre Hände von Jossifs Schultern zu nehmen. Sonja gab ihr keine Antwort und wiederholte:

»Joseph, komm gleich mit, es ist sehr wichtig!«

»Diese Eile ist wirklich sonderbar!« sagte Jekaterina Petrowna, während Jossif stumm der Buckligen folgte. Sonja blieb, ehe sie noch ihr Zimmer erreicht hatte, stehen und sagte:

»Gleich wird Andrej Fonwisin mit dir sprechen.«

»Andrej Fonwisin?« fragte Jossif verständnislos. »Wie soll er plötzlich herkommen?«

»Er ist hier, er wird gleich zu dir kommen, warte auf ihn. Ich bitte dich, wenn du mich noch ein wenig liebst, höre ihn an.«

»Sonja, Gott sei mit dir! Ich glaube gar, du willst mich in irgendeine Geschichte verwickeln.«

»Ich also will dich in eine Geschichte verwickeln?« sagte Sonja, die blauen Augen zusammenkneifend, und lief in ihrer flatternden Pelerine davon. Jossif ließ sich schwer in das Sofa sinken und stützte den Kopf in die Hände; er hatte den Wunsch, entweder einzuschlafen oder mit wilder Stimme aufzuschreien, in einem Schlitten dahinzusausen, ein Fenster einzuschlagen oder jemand zu schlagen, aber die Schläfrigkeit behielt die Oberhand. Mit einem Lächeln dachte er daran, daß Sonja die Tür, durch die sie soeben eingetreten waren, abgesperrt und den Schlüssel an sich genommen hatte; er ging auf die andere Tür zu, die ins Vorzimmer führte; aber diese war von außen abgesperrt.

»Nicht schlecht!« sagte er laut, sich zum Schlüsselloch beugend; im gleichen Augenblick wurde aber ins Loch von außen ein Schlüssel gesteckt, und Jossif hatte kaum Zeit, einen Schritt zurückzuweichen, als die Tür aufging und ein schlanker Offizier ins Zimmer trat, der sie sofort wieder schloß. Andrej blieb vor der Tür stehen und blickte unverwandt auf Jossif, der ihn stumm betrachtete.

»Andrej Fonwisin«, sagte endlich der Offizier.

»Jossif Pardow«, entgegnete der andere, ohne sich zu rühren.

»Ohne mit Ihnen bekannt zu sein, habe ich von Ihnen so viel gehört, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie als erster zu besuchen, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, daß meine Antrittsvisite nicht genügend offiziell ist. Ich komme ausschließlich zu Ihnen; Ihre Kusine und Adventow haben mir viel von Ihnen erzählt, und die Empfehlung dieser beiden Menschen, die ich so sehr schätze, mußte in mir den Wunsch wecken, Sie persönlich kennenzulernen.«

Jossif schwieg noch immer, den Gast mit den Augen verschlingend. Das ist also dieser sagenhafte Mensch, den die einen für einen Taugenichts und die anderen für einen Gerechten halten! Eines stand aber außer Zweifel: seine Schönheit war tatsächlich sagenhaft, und man mußte sich sagen, daß ein Mensch, den Gott so ausgezeichnet hatte, unmöglich das Ungeheuer sein konnte, als das ihn viele hinstellten. Der Gast wartete eine Weile und fragte:

»Haben Sie vielleicht keine Zeit, und ich komme Ihnen ungelegen?«

Jossif sagte endlich:

»Nein, es freut mich sehr. Ich bin nur etwas schläfrig.«

Der Gast fuhr fort, ohne zu lächeln:

»Außerdem habe ich gehört, daß Sie diese Gegend zu verlassen beabsichtigen, und ich habe mich beeilt, Sie aufzusuchen, solange Sie noch hier sind.«

»Ich habe gar nicht die Absicht, von hier fortzuziehen«, entgegnete Jossif, ein wenig erstaunt.

»Um so besser. Aber Sie wollen doch irgendwie Ihre Lebensweise ändern, so daß es mir schwerer fallen wird, mit Ihnen zu verkehren. Sie wissen doch, wie man in der Provinz immer alles übertreibt . . .«

»Ich weiß selbst noch gar nichts.«

»Na wunderbar. Ich glaube, daß Ihnen jetzt jede Veränderung nur schaden könnte. Verzeihen Sie, daß ich das sage. Ich urteile nur auf Grund der Gerüchte, die hier in dieser allwissenden Ländlichkeit verbreitet werden.«

»Sie sprechen wie ein Freund.«

»Eine Veränderung, bei der man in seinem Innern ein unantastbares Gemach bewahren kann, eine ›wohlbereitete Kammer‹, ist niemals schrecklich. Eine wirkliche Veränderung wird aber meist von solchen Erschütterungen hervorgerufen oder begleitet, daß ich einem jeden wünschte, ihr zu entgehen oder sie wenigstens leicht zu überstehen.«

Jossif betrachtete seinen Gast mehr, als daß er ihm zuhörte. Das so seltsam von den hellen Haaren abstechende Gesicht ohne jedes Rot und die riesigen grauen Augen zogen ihn an, regten ihn auf und versetzten ihn zugleich in süßen Schlummer. Die Stimme klang wie aus weiter Ferne, und nur einzelne, anscheinend zufällige Worte leuchteten in Jossifs Bewußtsein auf.

»Ja, ein wohlbereitetes Gemach!«

An die Tür wurde geklopft, und Jekaterina Petrownas Stimme fragte:

»Jossif Grigorjewitsch, darf ich?«

Beide schwiegen. Jekaterina Petrowna klopfte noch einmal und zog sich, als sie keine Antwort bekam, zurück.

»Jetzt gehe ich. Ich bin überzeugt, daß wir uns noch begegnen werden, und zwar als Freunde. Bleiben Sie nur so, wie Sie sind!« sagte Andrej, ihm unverwandt in die Augen blickend, und plötzlich beugte er sich über den sitzenden Jossif und küßte ihn.

»Ja, ja«, antwortete jener, ohne sich zu erheben.

»Ich gehe, auf Wiedersehen!«

»Warten Sie . . . nein . . . kommen Sie bald wieder . . . Ich brauche Sie . . .«

»Ich werde Sie besuchen, und Sie mich«, antwortete Fonwisin, die Mütze aufsetzend. »Begleiten Sie mich nicht: Sie werden erwartet.«

Sonja kam ins Zimmer, blickte beide prüfend an und begleitete den Offizier hinaus. Gleich nach ihr erschien Jekaterina Petrowna und erklärte, daß eben die Sitzung beginne, der Jossif unbedingt beiwohnen müsse.

»Was hat Ihnen Sonja gesagt?«

»Sonja? Nichts; was sollte sie mir sagen?«

»Seltsam: Sie haben doch mit ihr gesprochen!«

Alle waren schon um den langen Teetisch versammelt, als Jekaterina Petrowna und Jossif eintraten. Der letztere wohnte zum erstenmal einer solchen Versammlung bei und kannte außer der Lehrerin, Tantchen und Iwan Pawlowitsch niemand von den Anwesenden. Der Redner machte eine Pause, während die Neuangekommenen unter den Blicken aller Platz nahmen. Es war eine Sitzung des Vereins zur Veranstaltung kostenloser Vorlesungen für Arbeiter, und sie fand in der Form aller ähnlichen Sitzungen statt. Obwohl nur zwölf Personen anwesend waren, mußte man sich, wenn man etwas sagen wollte, in die Rednerliste eintragen lassen; eine Rede wechselte die andere ab; es gab eine Rechte, eine Linke und eine Opposition. Jekaterina Petrowna machte den Vorschlag, Jossif nicht nur zum Mitglied zu wählen, sondern auch mit einem verantwortungsvollen Amt zu betrauen.

Iwan Pawlowitsch, der den Vorsitz hatte, erklärte, auf diese Frage am Schluß der Tagesordnung zurückkommen zu wollen. Marja Matwejewna, die den Tee einschenkte, versenkte die Zuckerzange in die Zuckerdose und blickte Jossif fragend an.

Dieser sagte: »Ohne, ohne . . .«

»Was?« flüsterte Tantchen.

»Ohne Zucker!« antwortete Jossif.

Der Vorsitzende schwang die Glocke und sagte:

»Ich fordere Jossif Grigorjewitsch Pardow auf, seine Gedanken laut auszusprechen, sich aber zuvor auf die Rednerliste setzen zu lassen.«

Die Tagesordnung bestand in der Erörterung der Frage, ob man zuerst die Liste der notwendigen Ausgaben zusammenstellen und dann die Fabrikbesitzer um die Anweisung des notwendigen Betrages ersuchen solle oder umgekehrt, obwohl von vornherein genau feststand, welchen Betrag, nicht mehr und nicht weniger, die Direktion geben würde. Es kam zur Abstimmung; fünf Mitglieder enthielten sich der Stimme, weil sie die Frage nicht genau gehört hatten; die übrigen Stimmen teilten sich. Jekaterina Petrowna streifte Jossif mit einem Blick und sagte:

»Ich wiederhole meinen Antrag.«

Jegerew hielt eine lange Rede, die in den Worten ausklang: »Wir wollen die Gründe, die Jekaterina Petrowna Oserowa bestimmt haben, ihren Antrag zu stellen, nicht näher berühren. Die persönlichen Beziehungen zum Kandidaten dürfen die Wähler in keiner Weise beeinflussen.«

»Was redet er von Beziehungen?« versetzte laut und unzufrieden Tante Mascha. Alle blickten neugierig auf Jossif und Jekaterina Petrowna.

»Wünschen Sie etwas zu sagen, Jossif Grigorjewitsch Pardow?«

»Ich?« fragte Jossif, wie aus dem Schlaf erwachend.

»Sagen Sie doch etwas«, flüsterte Jekaterina Petrowna, die an seiner Seite saß.

Jossif stand auf und sagte:

»Ich . . . ich möchte sagen, daß ich mich mit Jekaterina Petrowna verlobt habe.«

In der Stille, die diesen Worten folgte, hörte man, wie Tante Mascha ihren Teelöffel fallen ließ.


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