Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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Zweiter Teil

I

Der grüne Zeisig blickte, das Köpfchen etwas auf die Seite geneigt, mit schwarzen Glasperlenaugen und versuchte nachzuzwitschern, was Sonja, die in ihrem schwarzen Kleid noch kleiner erschien, sang. Ihre blauen Augen wirkten verblichen, und das schwarze Haar war glatt und schlicht gescheitelt.

Jossif trat ins Zimmer und sagte:

»Ich wußte gar nicht, daß du singst, Sonja.«

»Ich singe auch nicht.«

»Was machst du denn?«

»Nichts. Was soll ich machen? Ich warte auf das Frühstück.«

Sie ließ ihre Handarbeit in den Schoß sinken und blickte Jossif an, der nach der Krankheit abgemagert war.

»Bald werde ich wohl schon ausfahren dürfen.«

»Ich glaube, daß es in der Woche nach Ostern gehen wird.«

»Waren gestern wenig Leute auf dem Friedhof?«

»Sehr wenig; außer uns war fast niemand da.«

Das Zimmer war groß, hell und ungemütlich. Aus dem Fenster sah man unendliche Brennholzstapel und den Teich vor der bergauf führenden Straße.

»Jekaterina Petrowna ist so gut; sie hat mich mit solcher Hingebung gepflegt, als ich krank war.«

»Ja, sie hat dich gepflegt«, versetzte Sonja zurückhaltend.

»Du stehst doch ihrem Kreise nahe?«

»Es sind gute und schlechte Menschen dabei; ich kann doch nicht mit allen gleich gut stehen, nur weil sie alle dem gleichen Kreis angehören.«

»Ich kenne sie nicht alle, aber die ich kenne, gefallen mir nicht.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Iwan Pawlowitsch.«

»Der gefällt auch mir nicht.«

»Langweilst du dich denn nicht hier?«

»Ich? Ich wohne ja hier ständig. Wie soll ich mich langweilen? Dieser Winter war ja entsetzlich, und ich danke Gott, daß er endlich vorüber ist. Das Unglück mit Tantchen, deine Krankheit, die Krankheit Ljoljas – das alles ließ mir gar keine Zeit zum Nachdenken, ob ich mich langweile oder nicht.«

»Wie wird nun Tante Anja die Geschäfte entwirren!«

»Die Geschäfte sind, glaube ich, nicht sehr kompliziert, machen aber viel Arbeit. Die Schuldner der Verstorbenen sind zum Teil schon tot. Und wer hat auch Lust, Gott weiß wann gemachte Schulden zu bezahlen!«

»Es sind doch ehrliche Menschen darunter.«

»Es gilt nicht als sehr ehrenrührig, seine alten Schulden nicht zu zahlen.«

»Wie dieser Zeisig auf die Nerven fällt!«

»Man muß das Bauer verhängen. Wenn wir sprechen, schreit er immer. Du bist nervös geworden.« Sonja nahm das gestrickte Tuch von den Schultern und verhängte das Bauer.

»Willst du, daß ich dir etwas vorspiele?« fragte sie, ins Nebenzimmer gehend, das ebenso groß und ungemütlich, aber dunkler war.

»Ja bitte, ich habe es gern, wie du spielst.«

»Na, was Besonderes ist es nicht, seit meinem vierzehnten Jahr habe ich die Musik arg vernachlässigt, und wenn ich seitdem vom Fleck gekommen bin, so doch jedenfalls nicht voran.«

»Ich meine nicht die Technik.«

»Ach so, das Gefühl!« Die Bucklige zuckte die Achseln, setzte sich auf den hohen Stuhl und begann ernst und etwas trocken zu spielen.

»Wo steckt Jekaterina Petrowna?«

Sonja spielte das Stück zu Ende, wandte sich auf dem Drehstuhl zu Jossif um und antwortete:

»Wo Katja ist? Ich weiß es nicht. Gleich wird der Pfiff ertönen, und alle versammeln sich sowieso zum Frühstück.«

»Auch Iwan Pawlowitsch?«

»Auch Iwan Pawlowitsch.«

»Ich liebe ihn nicht.«

»Das habe ich mehr als einmal gehört.« Sie blickte auf ihre Füße, die den Boden nicht berührten, und fügte lächelnd hinzu:

»Ich sah heute auf dem Berg ein Schneeglöckchen.«

»Auch ich werde bald welche sehen.«

Marja Matwejewna übergab dem Neffen beim Frühstück einen geöffneten Brief und sagte:

»Lies selbst, was Anna von deinen Geschäften schreibt. Ich glaube, sie verwirrt sie nur. Hat deine Mutter einmal eine Schwester gehabt?«

»Ich weiß nicht; ich glaube, sie hat eine gehabt.«

»Nun, diese Schwester soll irgendwo gestorben sein, und du hast Aussicht, irgendwelches Kapital zu bekommen. Die Gerichte und die Banken werden natürlich alle möglichen Gemeinheiten anstellen, aber du darfst immerhin Luftschlösser bauen.«

Jekaterina Petrowna legte Jossif seine Lieblingsstücke auf den Teller und hörte lächelnd und aufmerksam zu. Als sie allein mit Herrn Jegerew geblieben war und die Tassen wegräumte, schwieg sie noch immer.

»Womit bist du heute so unzufrieden, Katja?« fragte Jegerew, seine Zigarette rauchend und die runden weißen Arme der Witwe betrachtend.

»Wie oft habe ich Sie schon gebeten, mich nicht zu duzen. Sie werden es sich angewöhnen und es einmal vor anderen tun – das wird höchst peinlich sein.«

»Hab ich mich denn je verschnappt?«

»Sie haben sich noch nicht verschnappt, aber Sie können es leicht tun.«

»Ihnen beliebt es heute, an mir herumzumäkeln.«

»Man muß einfach noch vorsichtiger sein.«

»Was ist denn geschehen?«

»Was geschehen mußte.«

»Was sind das für Rätsel?«

Jekaterina Petrowna räumte, ohne ihm zu antworten, das Geschirr in die Kredenz ein, und als sie wiederkam, sagte sie:

»Sie wissen doch selbst, Iwan Pawlowitsch, daß die Liebe nicht immer fruchtlos bleibt.«

»Weiß der Teufel, was Sie für abgeschmackte Worte gebrauchen! Erwarten Sie etwa eine ›heimliche Frucht unglücklicher Liebe‹?«

»Etwas in der Art.«

»Das ist zwar unangenehm, aber nicht ganz so unvermeidlich.«

»Nein, darauf gehe ich nicht ein!«

»Das ist dumm und nicht zeitgemäß!«

»Ich bin, wie ich eben bin.«

»Was beabsichtigen Sie nun zu tun?«

»Interessiert Sie denn das?«

»Gewiß, Sie sind mir ja nicht fremd.«

»Mein Gott, Sie sind sogar zu Gefühlen fähig!« Sie tippte sich mit dem Finger auf die Stirn und sagte:

»Sehen Sie diese Stirn? Unter ihr reift ein genialer Plan, den ich Ihnen noch nicht eröffnen will. Stören Sie mich nur nicht. Vertrauen Sie mir, alles wird gut werden.«

»Gedenken Sie auch meiner, wenn Sie Königin werden!«

»Oh, Sie werden mein Erster Minister sein.«

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Dasselbe, was Sie bisher getan haben, oder noch besser, nehmen Sie den Ausdruck völliger Gleichgültigkeit gegen mich an. Die Stufen, die ich gewählt habe, werden mit Neugier beobachtet.«

»Ich muß aber gestehen, daß mir jede Beobachtungsgabe fehlt, denn ich kann an Ihrer Gestalt nichts Drohendes erkennen.«

»Es ist besser später als nie.«

»Was denn?«

»Seine Fehler einzugestehen.«

»Ach so! Liebe Katja, Sie werden mich doch nicht gänzlich vernachlässigen?«

Jekaterina Petrowna zuckte die Achseln.

»Sie sind wirklich sentimental geworden; das ist ein übles Zeichen.«

»Ein Zeichen?«

»Daß Sie alt werden.«

»Jedenfalls kann ich an Ihnen keinen Überfluß von Empfindsamkeit wahrnehmen.«

»Unpassende Scherze!«

Iwan Pawlowitsch faßte die Witwe um die Taille; sie befreite sich aber geschickt aus seinen Armen und bemerkte: »Es kann jemand hereinkommen!«

»Wen haben wir zu fürchten?«

»O Gott, die Rolle eines Romeo steht Ihnen nicht. Und Sie wollen noch, daß ich Sie in meine Pläne einweihe.«

»Wenigstens teilweise. Ja, die Papiere gebe ich Ihnen morgen in Verwahrung; es ist vielleicht dumm von mir, mich so auszuliefern, und sei es in Ihre Hände.«

In Katjas Augen blitzte etwas auf; sie sagte gleichgültig:

»Die Papiere lauten ja nicht auf den Namen; nur der trägt das Risiko, bei dem sie gefunden werden.«

»Es sind auch solche dabei, die auf den Namen lauten.«

Jekaterina Petrowna küßte Jegerew auf die Stirn und sagte:

»Vertrauen gegen Vertrauen: ich will Ihnen meinen Haupttrumpf aufdecken.« Sie ging auf die Kredenz zu und schrieb mit den Fingern auf das staubige Holz: ›J. G. P.‹

»Was sind das für Buchstaben? Jesus von Nazareth, der Juden König?«

»Dumm! Jossif Grigorjewitsch Pardow.«

»Was, Joseph? Y pensez-vous? Er ist ja so dumm!«

»Zufällig heißt er Pardow und außerdem . . . Davon aber später. Jekaterina Petrowna Pardowa kann erheblich mehr erreichen als die Popentochter Katja Oserowa.«

»Du hast sogar matrimoniale Absichten?«

Die junge Witwe nickte bejahend.

»Sie müssen sich aber beeilen: das Geld wird ja bald angewiesen werden, und die Papiere dürfen nicht lange liegen.«

»Ich muß mich auch um meiner selbst willen beeilen.«

»Unsere Interessen stimmen also überein?«

»Ja, wie immer.«

Jekaterina Petrowna reichte ihm die Hand, auf die Jegerew einen ehrerbietigen Kuß drückte. Dann versetzte er ihr einen Klaps auf die Schulter und bemerkte lachend:

»Nun, du mußt dich beizeiten daran gewöhnen, Katja!«

»Ihnen möchte ich aber raten, sich manches abzugewöhnen!« sagte die Popentochter durch die Zähne.


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