Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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VI

Jossif stand im Waldesdickicht und wußte nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Er schien zum erstenmal in seinem Leben an diese Stelle geraten zu sein. Kein Weg, kein Steg war zu sehen; nichts als Fichten auf den runden, an zarte Brüste gemahnenden Hügeln und versteckte, mit Heidekraut und Preiselbeeren bewachsene Lichtungen. Es war so still, daß es seltsam erschienen wäre, hätte er zu singen oder zu sprechen angefangen; selbst der Klang seiner Schritte beleidigte irgendwie das Schweigen ringsum. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, nahm den Hut ab und sah zu, wie die Sonne sich gen Westen neigte, den blauen, unbewaldeten Gipfel des hohen Hügels mit tiefrotem Licht übergießend. Aus dem Dickicht trat ein Mann mit einem Korb auf dem Rücken und einem langen Stecken in der Hand; er beugte sich jeden Augenblick, wie wenn er etwas auf dem Boden suchte, blieb manchmal stehen und ging dann wieder langsam weiter. Sein weißer zottiger Hund bellte den regungslos sitzenden Jossif an. Der Alte blickte auf und sagte:

»Junger Herr, guten Tag!«

»Ach, du bist es, Parfen? Guten Tag!«

»Wie sind Sie in unsere Gegend gekommen? Etwa zu Fuß?«

»Ist denn Ihr Dorf in der Nähe?«

»Bis zu unserem Dorf sind es an die drei Werst, von der Fabrik aber haben Sie sich zehn Werst und vielleicht noch weiter entfernt. Haben Sie sich verirrt?«

»Nein, ich ging einfach immer weiter, und so bin ich hergekommen. Was machst du, sammelst du Pilze?«

»Ja, Pilze. Zum Abendbrot; das Erntefest steht ja vor der Tür, also ist Fastenzeit; Marina wird eine Suppe kochen.«

»Ist denn Marina wieder hier?«

»Ja, sie ist für kurze Zeit hergekommen. An eine herrliche Stelle hat Sie Gott gebracht; schön ist es hier, still; hier wäre es gut, eine Klause zu errichten; keine einzige Menschenwohnung in der Nähe, nichts als Wald und Gott.«

»Ja, ein wohlbereitetes Gemach!«

»Darf ich Sie zu uns bitten, wollen Sie nicht von unseren Pilzen kosten, und abends fahre ich Sie auf die Fabrik.«

»Sehr gern. Sind Sie denn mit dem Pilzsammeln fertig?«

»Ich habe schon genug, habe keinen Platz mehr, um noch welche hinzutun; alles nur Hüte, die Stiele lasse ich stehen.« So stolz wie ein glücklicher Jäger zeigte er Jossif seinen Korb, in dem lauter Steinpilzhüte mit grünlichen und weißen Unterseiten dicht beieinander lagen. Der Hund legte sich zu ihren Füßen nieder und ließ die Zunge heraushängen; die Sonne, die schon ganz tief stand, leuchtete durch die Zweige.

»Ist hier nicht ein Waldsee in der Nähe?«

»Ja, eine halbe Werst von hier, wir kommen an ihm vorbei.«

»Wohin sind Sie damals im Sommer mit Fonwisin im Boot gefahren? Sie wissen doch noch, wie wir Ihnen begegneten?«

»Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich bin ja mit ihm so oft gefahren; wahrscheinlich auf seine Imkerei.«

»Ist denn sein Gut hier in der Nähe?«

»Gewiß. Es liegt am See.«

»Ist er ein guter Mensch?«

»Ein sehr braver und guter Herr.«

»Man erzählt doch von ihm viel Schlechtes.«

»Von wem erzählt man das nicht? Wenn man so in die Welt hinaushorcht, bekommt man wenig Schönes zu hören. Andrej Iwanowitsch ist gut und führt ein gottgefälliges Leben. Über seine Sünden ist Gott der Richter, er tut aber niemand etwas Böses und ist immer bereit, Gutes zu tun.«

»Was hat er denn für Sünden?«

»Wer kennt sie? Ich bin nicht sein Beichtvater und habe seine Beichte nicht gehört.«

»Was sagen aber die Leute?«

»Dummheiten. Ich will nicht fremdes Gerede weitergeben und höre niemals darauf. Mir erzählen die Leute Gott sei Dank auch nichts.«

»Er ist sehr schön.«

Parfen seufzte auf und sagte:

»Das ist unwichtig; die Schönheit ist natürlich eine Gabe Gottes, kann aber den Menschen auch zu Bösem verleiten.«

»Ach nein, sein Gesicht drückt nichts als Güte aus!«

»Er hat ja kein Gesicht, sondern ein Antlitz.«

Die Stube war nur von einem Öllämpchen und einer Kerze, die vor dem Bilde des Erzengels brannten, erleuchtet. Im Dämmerlicht konnte man Marina, die vor den Heiligenbildern stand und ab und zu lautlos niederkniete, kaum erkennen.

»Marina!« rief der Vater leise. Sie verneigte sich, ohne ihm zu antworten, noch einigemal vor den Heiligenbildern und ging auf die beiden zu.

»Wen hast du hergebracht?«

»Pawel!!« schrie sie plötzlich auf und taumelte zurück.

»Was hast du, Marina? Gott sei mit dir! Es ist ja der junge Herr, Jossif Grigorjewitsch.«

Marina stand bestürzt da, die linke Hand mit dem Rosenkranz vorgestreckt.

»Zünde die Lampe an und koche uns die Pilze, die ich gebracht habe; der junge Herr wird mit uns essen: hole eine neue Schüssel.«

»Mein Gott, mein Gott!« flüsterte Marina, in die andere Stube gehend.

»Was hat sie?« fragte Jossif, der sich in der Dämmerung ans Fenster setzte, aus dem er das trübe Abendrot über dem See sehen konnte.

»Sie hat Sie für ihren verstorbenen Mann gehalten: Sie sehen ihm ja auch wirklich ähnlich. Nehmen Sie es ihr nicht übel.«

»Fühlt Sie sich nicht mehr so unglücklich?«

»Sie nimmt sich zusammen und betet. Der Heiland weiß am besten, wie sie zu heilen ist.«

Marina kam mit der Lampe. Sie sah weder abgemagert noch bleicher aus, nur ihre Augen brannten stärker als früher, schienen aber ab und zu ganz zu erlöschen.

»Marina, guten Tag! Hast du mich nicht erkannt?« fragte Jossif.

»Ich hatte mich im Finstern geirrt«, sagte die junge Frau mit niedergeschlagenen Augen.

Parfen ging hinaus, den Wagen anzuspannen, Jossif aß schweigend seine Pilze. Marina legte ihren Löffel auf den Tisch und starrte ohne zu blinzeln in die Lampenflamme. Der Gast fragte schließlich:

»Nun, wie ist es dir in Piter ergangen?«

»Wie es mir gegangen ist? Ist es denn nicht gleich, ob ich hier oder dort zu Gott bete?«

»Gehst du also nicht mehr zurück?«

»Doch, sobald mich Vater abreisen läßt.«

»Es ist dir also doch nicht ganz gleich.«

»Ja, dort ist es vielleicht etwas ruhiger.«

»Gewöhnst du dich allmählich?«

»Woran denn?« fragte sie mit einem Blick auf den Frager.

»Hast du ihn schon ein wenig vergessen?«

Marina rief aus:

»Sie haben noch nie geliebt, Jossif Grigorjewitsch, sonst würden Sie nicht so fragen! Wie kann ich vergessen? Wie kann ich mich daran gewöhnen? Ich bete nur zu Gott, daß er mir schneller den Tod schickt.«

Sie wandte das Gesicht vom Gast weg und sagte leise:

»Ich darf Sie gar nicht ansehen, es ist Sünde.«

»Warum?«

»Diese Ähnlichkeit mit Pawel: der Blick und auch die Stimme!« Und sie erhob sich von der Bank und ging, sich an der Wand entlangtastend, hinaus. Der Wagen war schon angespannt, und Jossif kam beim Licht des aufgehenden Augustmondes nach Hause, wo man wegen seiner langen Abwesenheit unruhig geworden war. Jekaterina Petrowna saß, in ihr Tuch gehüllt, auf den Stufen vor dem Haus und rief, als sie den Wagen im Schatten der Bäume vor dem Tor halten hörte:

»Jossif Grigorjewitsch, sind Sie es?«

»Jawohl!« antwortete Parfen.

»Was ist mit Ihnen los? Wo haben Sie gesteckt? Wir dachten uns Gott weiß was.«

»Der junge Herr ist heil und gesund«, erklang aus dem Dunkel wieder Parfens Stimme.

Jekaterina Petrowna kam Jossif entgegen, nahm ihn am Arm, schmiegte sich eng an ihn und sagte:

»Was war das für ein Einfall, so plötzlich zu verschwinden? Man könnte meinen, daß Sie mich und das Haus meiden wollen . . .«

»Verzeihen Sie, ich war einfach, ohne es selbst zu merken, weit in den Wald gekommen und habe Parfen getroffen, der mich nun nach Hause gebracht hat.«

»Sie haben natürlich furchtbaren Hunger?«

»Nein, ich danke, ich habe schon bei Parfen gegessen.«

»Aber etwas trinken müssen Sie unbedingt: nach der Fahrt ist es direkt notwendig.«

»Gern.«

Auf der dunklen Freitreppe küßte sie ihn und flüsterte:

»Ich habe mich so furchtbar gesehnt!«

Beim Abendessen war Jekaterina Petrowna unruhig, und als sie beide allein geblieben waren, ließ sie den Kopf wie weinend in die Hände sinken. Jossif fragte sie, indem er sich selbst Branntwein einschenkte:

»Was hast du, Katja?«

»Nichts«, sagte sie, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen.

»Wieso nichts? Du weinst doch! Hat dich jemand gekränkt?«

»Nein. Interessiert Sie denn das?«

»Es wird mich wohl interessieren, wenn ich danach frage.«

Jekaterina Petrowna nahm die Hände vom Gesicht und sagte ruhig und bestimmt:

»Jossif Grigorjewitsch, ich danke Ihnen sehr für Ihren edlen Schritt, muß Ihnen aber sagen, daß es noch nicht zu spät ist und daß Sie durch Ihr Wort keineswegs gebunden sind.«

»Was sagen Sie? Werde ich denn mein Versprechen zurücknehmen?«

»Es kommt vor, daß man sein Versprechen nicht zurücknimmt, aber zurückbekommt«, versetzte Jekaterina Petrowna gedehnt, auf die Seite blickend. »Ich liebe Sie zwar, habe aber nicht die geringste Lust, Sie mit Ihren Angehörigen und Freunden zu entzweien.«

»Mit wem können Sie mich entzweien? Sind das immer noch die alten Chimären wegen Sonja?«

»Vielleicht sind es nicht bloß Chimären, und vielleicht handelt es sich nicht um Sonja Karlowna allein!«

»Begreif doch: ich will es, und du warst auch nicht dagegen; was kann uns da im Wege stehen?«

»In jedem Fall rate ich, nichts zu übereilen und bis zum Herbst zu warten. Ich glaube, daß ich noch gut drei Monate warten kann!«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß ich noch bis zum Herbst Braut bleiben kann, ohne in Schande zu kommen.«

Jossif wollte aufstehen, ließ sich aber wieder in den Stuhl sinken und schenkte sich noch ein Glas ein.

»Und du wolltest mir erlauben, meinen Antrag zurückzunehmen? Die Fastenzeit ist bald um, und gleich am Sechzehnten wollen wir unsere Hochzeit feiern!«

Jekaterina Petrowna errötete und sagte: »So heiß ist es hier!« Und sie knöpfte ihre Bluse auf. Jossif verließ seinen Platz am Tisch, setzte sich neben seine Braut, umschlang sie mit der einen Hand und begann mit der anderen ihre Brust zu streicheln.

»Wir werden dann auch Sonja kommen lassen müssen«, sagte sie, auf die Seite blickend.

»Ja, ja«, bestätigte Jossif zerstreut, sie noch fester an sich drückend.

Jekaterina Petrowna schmiegte sich gleichsam ermattend an ihn und sagte:

»Jetzt sind Sie ein echter Mann und kein Kind mehr!«

»Erinnern Sie sich noch an Ihren Wunsch à discrétion?« fragte Jossif.

»Er ist schon in Erfüllung gegangen«, flüsterte Katja mit einem Kuß.


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