Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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X

»Es gibt Zimmer, wo man an ein Verbrechen denken muß oder eines vorausahnt. Ich stelle mir vor, daß in Alexandra Matwejewnas Schlafzimmer einst eine junge Frau ihren alten Gatten ermordet hat, oder daß das noch einmal geschehen wird. Ich sehe sie barfuß mit aufgelösten Zöpfen, er aber ist dick und grauhaarig; die ewigen Lämpchen brennen, das Zimmer ist überheizt, durch das eisbedeckte Fenster blickt der Mond herein«, sagte Sonja, mit seltsamer Ruhe den Weg zu Tantchens Schlafzimmer einschlagend.

»Es ist auch jetzt überheizt, und durch eisüberzogene Fenster blickt der Mond herein«, wiederholte Jossif, willig der Buckligen folgend. Sie gingen leise durch den finsteren Korridor. Endlich blieb Sonja vor einer halboffenen Tür, aus der das rosa Licht eines ewigen Lämpchens drang, stehen und sagte:

»Ich glaube, es ist hier.«

»Wo führst du mich hin, Sonja?«

Sonja antwortete nicht, und Jossif merkte, daß es das Schlafzimmer Tante Saschas war; er sah plötzlich alles mit seltsamer süßer und schrecklicher Klarheit, und vor seinen Augen stoben unerträglich grelle Funken. Sonja schien etwas davon zu spüren und fragte:

»Was hast du, Joseph?«

»Nichts«, erwiderte er, um Atem ringend.

»Ich glaube, sie ist hier. Tantchen wird doch nicht erschrecken, wenn wir so plötzlich erscheinen? Ruf sie aber bitte nicht an.«

Das junge Mädchen sprach vollkommen ruhig und vernünftig. Sie machten die Tür auf und sahen im Schein des ewigen Lämpchens das Schlafzimmer Tante Saschas und Ljolja, die mitten im Zimmer stand. Auf dem Bett lag niemand, das Zimmer war überheizt, und durch das eisbedeckte Fenster fiel Mondlicht herein. Jossif rief erschrocken aus:

»Ljolja, wo ist denn Tantchen? Wo ist sie um diese nachtschlafene Stunde? Ljolja!«

»Still, Joseph, weck sie nicht . . .«, flüsterte Sonja, doch Ljolja holte schon tief Atem und fiel weich auf den Boden neben einen Sessel hin. Die Bucklige stürzte zu ihr und knöpfte ihr aus irgendeinem Grunde das Mieder auf, Jossif hingegen wiederholte immer wieder: »Wo ist Tantchen?« und ließ seine Blicke unruhig durch das Zimmer schweifen. Ljolja seufzte, schloß die Augen, wie wenn sie wieder einschliefe, und weinte.

»Warum bist du hier?« schrie Jossif plötzlich auf, in die Ecke am Ofen starrend.

»Mit wem sprichst du, Joseph?« flüsterte Sonja, die Kranke stützend, ohne den Kopf nach ihm zu wenden. »Du wirst die Tante wecken, die im Sessel vor dem Toilettentisch schläft; ich kann sie von hier aus sehen.«

»Im Sessel vor dem Toilettentisch?« fragte Jossif. Er machte zwei Schritte, taumelte plötzlich zurück und stammelte: »Wer hat das getan? Du? Was für ein dummer Scherz!«

»Joseph, was hast du? Du machst mir Angst, ich kann aber Ljolja nicht allein lassen. Was hast du entdeckt?«

»Tantchen hat wieder das Kostüm der Giselle an, ihre Hände sind ganz blutig, auch das weiße Gewand ist voller Blutflecken.«

»Im Spiegel kann ich nichts sehen, aufstehen kann ich aber nicht wegen Ljolja.«

Jossif kam ganz nahe an den Sessel heran, in dem Alexandra Matwejewna schlummerte, und schrie plötzlich entsetzt auf: »Sonja, schau, wie schrecklich: die Tante ist ermordet, ihr Hals ist durchschnitten, und der ganze Sessel ist voller Blut! Wer hat das tun können?«

Sonja lief schnell herbei und flüsterte:

»Schweig, schweig! Das kann sie gewesen sein.«

»Ljolja? Wie schrecklich!«

»Ich glaube es aber nicht; ihr Kleid ist vollkommen rein.«

Jossif rang um Atem; mit brennenden Augen betastete er etwas Unsichtbares mit den Händen und röchelte. Endlich sagte er:

»Sonja, ich hasse dich; wie kannst du ruhig bleiben, wo etwas so Grauenhaftes geschehen ist? Du benimmst dich wie ein Polizeibeamter.«

»Ich helfe dem, der meine Hilfe braucht; Tantchen bedarf aber ihrer nicht mehr.«

»Man kann doch nicht so von Stein sein.«

»Ach, dieser Gefühlskult!«

Die Chiffoniere, an der Jossif lehnte, krachte, und er stürzte mit Gepolter zu Boden. Er gab keinen Ton von sich, aber aus der Ecke am Ofen erklang ein gepreßtes Stöhnen, und gleich darauf kroch ein menschliches Wesen, sich in Krämpfen windend, zu der Stelle, wo Jossif hingefallen war.

»Jossif! Hast du dir weh getan? Jossif! Jossif! Warum kommt denn niemand her!«

Sonja fing laut zu weinen an. Das Wesen, das herangekrochen war, beugte sich über Jossif und stammelte leise und sehr schnell:

»Das bin ich, das bin ich, junger Herr . . . Wir haben vorher zu Gott gebetet . . . Nicht aus Haß, nicht aus Bosheit, sondern aus Mitleid mit meinem Mann Parmen habe ich es getan. Sie sagte mir: ›Arina, was leuchten deine Augen so?‹ Ich sehe mich im Spiegel: ich bin furchtbar blaß, und die Augen brennen. Sie sagt: ›Gib mir das weiße Kleid her!‹ Hinter dem Ofen hatte ich aber die Axt bereit. Sie fragt: ›Was gehst du immer hin und her?‹ Sie schrie gar nicht auf, gab keinen Ton von sich, wie ein kleines Kind sank sie um.«

»Sie also haben Alexandra Matwejewna Pardowa ermordet?« fragte laut Iwan Pawlowitsch Jegerew.

»Ja, ich. Ich leugne es nicht: ich habe es getan!« antwortete Arina, sich immer noch über den regungslos daliegenden Jossif beugend. Seine Beine waren leicht verkrümmt im Krampf, die Augen quollen hervor, und an den Mundwinkeln schäumte der Speichel in kleinen Blasen. Arina knöpfte ihm, immerfort jammernd, den Kragen auf. Das Zimmer war schon voller Menschen, man hatte bereits nach dem Arzt geschickt, Vater Pjotr hatte der Toten die Absolution erteilt, die Mörderin und ihr Kumpan waren gebunden, als vom Hof her plötzlich Schreie erklangen: »Es brennt! Es brennt!«, was die allgemeine Aufregung noch vergrößerte. Durchs Fenster fiel jetzt statt des blauen Mondlichtes ein blutroter Feuerschein herein, der von den Korndarren kam. Adventow und Bessakatny eilten mit Jekaterina Petrowna hinaus, um die immer stärker um sich greifenden Flammen zu löschen. Durch die offene Fensterluke hörte man deutlich das Knistern des fernen Feuers und die Schreie der Menschen. Jossif, der inzwischen die Besinnung wiedererlangt hatte, wurde ins Nebenzimmer geschafft.

»Er darf hier nicht allein bleiben. Ich bleibe bei ihm und werde zugleich achtgeben, daß die Leute nicht alles fortschleppen, gerade diese Lisaweta.«

»Das ist sehr schön, Tante Anja, aber ich denke, Sie bleiben hier, und Jossif kommt zu uns oder zu den Dmitrewskis«, meinte Sonja.

»Ich will Jossif Grigorjewitsch hinüberbringen«, schlug Jekaterina Petrowna vor, die eben zurückgekommen war, »mit mir ist er am sichersten.«

Schnell glitten sie in der Nacht beim Lichte des Schnees und des verhüllten Mondes über die Felder dahin; Domna lief ihnen nach und klammerte sich an die Rückwand des Schlittens; der Kutscher schlug sie mit der Peitsche, sie blieb zurück und lief weiter und glitt auf dem glattgefahrenen Schnee aus. Jossif wandte sich um und sah, wie irgendein Mann sie einholte und wie sie, von dem Mann gefolgt, dem Schlitten wieder nachlief, bis sie wieder in den Schnee fiel, von dem sie sich nicht so bald erhob. Der Schnee war im Widerschein der fernen Feuersbrunst so rosig, wie wenn man ihn mit verdünntem, mattem Blut übergossen hätte.


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