Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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III

Die Uhr ließ zwölf zischende dumpfe Töne erklingen, als Jossif, nachdem er an die zwei Minuten vor dem Heiligenbild gestanden hatte, sich in seinem Zimmer beim Scheine des ewigen Lämpchens auszuziehen begann. Er bekreuzigte sich noch einigemal sehr schnell, schlüpfte ins Bett, das unter ihm knarrte, und die zarten Daunen der Kissen waren schon bereit, ihn mit süßem Schlummer zu umfangen, aber in dem überheizten kleinen Zimmer schlief es sich schlecht, und er begann, wie er es oft nachts tat, den Geräuschen, die durch die dünne Trennwand aus Tantchens Schlafzimmer klangen, zu lauschen. Er sah jenes Schlafzimmer deutlich vor sich: Neben seinem Bett steht eine Truhe, neben der Truhe – Tantchens Nähtischchen, zwischen den Fenstern – der Toilettentisch, in der Ecke – die Heiligenbilder, ferner die Kommode, der Tisch und in der anderen Ecke – Tantchens Bett. Er stellte sich sogar vor, was Tantchen jetzt macht: sie steht im bloßen Hemd vor der Kerze und sucht vor dem Zubettgehen nach Flöhen.

Lisawetas Stimme fragte: »Werden Sie heute die Schminke abwaschen?«

»Nein . . .«, gestand die andere etwas zaghaft.

»Warum verheimlichen Sie es bloß immer noch? Alle wissen es ja; ich glaube, auch die Arina weiß es längst.«

»Glaubst du? Woher soll sie es wissen? Woher soll sie es wissen?« Tante Sascha wurde auf einmal unruhig.

»Ich hab's nur so gesagt; vielleicht weiß sie auch nichts.«

Tantchen schwieg eine Weile, ließ irgendein Geschirr erklirren und begann von neuem:

»Das Gesicht altert früher als der Körper, warum eigentlich?«

»Damit der Mensch sich demütigt«, erwiderte die Baßstimme.

»Weißt du«, schwatzte Alexandra Matwejewna weiter, »was die Ärzte sagen, ist Unsinn, sie sagen es nur, um uns Angst zu machen, sie stecken mit den Popen unter einer Decke. Und dann sagen sie auch alle zehn Jahre etwas anderes: bald soll man trinken, bald soll man nicht trinken; heute soll man nach dem Essen spazierengehen, morgen soll man liegen. Marie Senkina schminkte sich immer und blieb doch bis zu sechzig Jahren bezaubernd, weißt du noch?«

»Ist eben die gleiche Fratze geblieben, die sie war.«

»Ach, was redest du, sie war gar nicht übel, sogar pikant. Bind mir mal das da auf . . .«

Bei solchen nächtlichen, intimen Gesprächen pflegte Tantchen sogar ›du‹ zu Lisaweta Petrowna zu sagen.

»Und weißt du, diese Marie hatte weder in den Achseln noch sonst irgendwo Haare, verstehst du, nirgends; sie ist sogar zum Arzt gegangen, aber der sagte ihr: ›Aber erlauben Sie, so ist es ja viel interessanter, im Gegenteil, viele Damen wollen, daß ich ihnen die Haare entferne.‹«

»Sieh an!« sagte Lisaweta aus Höflichkeit.

Sie hörten, wie Jossif sich auf seinem Bett umdrehte, und klopften an die Wand. Tantchens zittrige Stimme fragte:

»Schläfst du, Kind?« Jossif meldete sich nicht, und sie gab sich selbst Antwort.

»Er schläft!«

Jossif schlief auch schon wirklich unter den leisen Geräuschen ein, die zu ihm herüberklangen. Wie durch eine Wasserschicht hindurch hörte er noch die Worte: »Soll ich ihn herschicken?« – »Ja!«

Er träumte von Marie Senkina und Schurotschka Pardowa, beide sind geschminkt und tanzen mit hochgerafften Röcken, und er kann sehen, daß die erstere wirklich nirgends, überhaupt nirgends Haare hat, Schurotschka aber schreit: »Schläfst du? Ich schlafe. Soll ich ihn herschicken? Ja!« Da tritt ein langer, hagerer Erzpriester ein und fragt: »Welche von euch ist das Schlachtopfer?« Beide fallen zu Boden, und der Kutscher Pannen steht mit dem Messer in der Hand dabei und meldet: »Eben habe ich ein Kalb geschlachtet, Eminenz!«

Er erwachte voller Angst und wußte nicht, ob es Nacht oder Tag oder Abend war; aus Tantchens Schlafzimmer klang Seufzen und schweres Keuchen herüber. Eine Männerstimme flüsterte: »Befehlen Gnädige noch?«, und Tantchen antwortete viel zu laut: »Ja, zum Abschied.« Durch den Korridor schlürften Schritte. Jossif graute es, noch länger im warmen, vom ewigen Lämpchen erleuchteten Zimmer zu bleiben, er warf sich den Schlafrock um und trat in den Korridor. Tastend schlich er sich durch die Finsternis, als seine Hand plötzlich auf etwas Weiches und Warmes stieß.

»Wer ist da?« schrie er auf.

»Ich!« antwortete eine Flüsterstimme.

»Wer, ich?«

»Arina«, klang es noch leiser.

»Was machst du hier?«

»Ich bin wegen der Wäsche gekommen. In aller Frühe wird gewaschen, ich hab am Abend vergessen, sie zu holen.«

»Warum machst du kein Licht?«

»Ich wollte nicht, daß Lisaweta Petrowna mich sieht, sonst schimpft sie, daß ich die Wäsche nicht gestern geholt habe.«

Jossif konnte Arina, die er noch immer festhielt, nicht sehen, aber etwas in ihrem Flüstern erschreckte ihn so, daß er ein Zündholz anriß und es ihr vors Gesicht hielt. Sie war blaß und lächelte still wie immer, wenn sie Wäsche wusch, Äpfel einlegte oder der Tante Meldung erstattete.

Jossif zündete in der Wäschekammer eine Kerze an und fragte:

»Und was macht dein Mann Parmen?«

»Parmen schläft«, antwortete Arina lächelnd, aber ihre Augen funkelten unruhig.

»Und du willst Wäsche waschen?«

»Und ich will Wäsche waschen.«

Schritte ließen die beiden verstummen.

Lisaweta Petrowna trat in Unterrock und Nachtjacke in die Wäschekammer und fragte:

»Was ist hier für eine Versammlung? Warum schlafen Sie nicht, Jossif Grigorjewitsch? Schämen Sie sich nicht: nachts mit Weibern in der Wäschekammer! Und was hast du hier zu suchen?« wandte sie sich an Arina.

Arina schwieg, und Jossif antwortete:

»Sie ist die Wäsche holen gekommen.«

Lisaweta Petrowna pfiff durch die Zähne und sagte:

»Ich kenne diese Wäsche! Mach, daß du fortkommst, du Diebin! Marsch, hinaus!«

»Was macht Tantchen?« fragte Jossif.

»Was soll Tantchen machen? Der Kerl ist halbtot, und Tantchen schläft.«

Die Schlafzimmertür knarrte; Lisaweta blies augenblicklich die Kerze aus. Alle drei hielten den Atem an und sahen Parmen, ohne Stiefel, die Ochsenaugen zu Boden gesenkt, aus dem Schlafzimmer kommen. Tantchen stand im bloßen Hemd an der Schwelle, hielt die Kerze hoch über dem Kopf und reckte sich auf die Zehenspitzen, um den Kutscher auf die Stirne zu küssen. Die Schminke floß ihr übers Gesicht. Parmen schlich sich, leise und schwerfällig auftretend, davon. Die Tür wurde zugemacht, das Licht verschwand.

Arina sagte:

»Parmen schläft, Tantchen schläft.«

»Warte nur, du sollst was erleben!« brummte Lisaweta.


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