Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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Erster Teil

I

Die Feldwege waren trocken. In gelben Streifen, den auseinandergebogenen Strahlenkränzen dunkelnder IkonenmäntelDie Ikonen wurden zum Teil durch einen Mantel aus Silberblech geschützt, der Gesicht und Hände frei ließ. gleich, lag der Flachs auf der grünen Wiese, braun in der Mitte, golden schimmernd an den Rändern. Die hoch dahinziehenden Wolken verhießen keinen Regen; der Wind, der von den kristallklaren Seen kam, erfüllte den bunten Wald mit der Vorahnung winterlicher Stille. Laut dröhnten die Räder auf der morgens gefrorenen Straße, und das runde, rosige Gesicht des Fahrenden war von der noch nicht beißenden Kälte noch rosiger geworden.

Er bog um die Kapelle und hielt vor einem großen Bauernhaus. Von hier aus sah man das kalte blaue Wasser, das große Herrenhaus in der gelben Birkenallee und die weiten Wälder am Ufer.

Der Alte, der ihn durch das schmale Fenster bemerkt hatte, eilte heraus und sagte:

»Ach, junger Herr, wir hatten Sie heute gar nicht erwartet! Nun, was hat Tantchen Alexandra Matwejewna beschlossen?«

»Ich komme eben in dieser Sache zu Ihnen.« Er sprang aus dem Kabriolett und stand groß, stämmig, in dicker Joppe und hohen Stiefeln da. Sein Gesicht war rund und zart wie bei einem Kind; er nuschelte leicht.

Der Bauer fuhr fort:

»Ein großes Unglück ist uns geschehen!«

»Was ist denn los?«

»Den Paschka haben sie gestern auf der Fabrik erstochen.«

»Was?«

»Er ist tot, der Mörder hat ihn in den Bauch getroffen.«

»Wer war es denn, hat man ihn erwischt?«

»Wieso nicht! Er ist gar nicht weggelaufen, man packte ihn auf der Stelle.«

»Wird es Ihnen unangenehm sein, wenn ich zu Ihnen ins Haus komme?«

»Nein, warum denn? Geschäfte hin, Geschäfte her, wir freuen uns immer über Ihren Besuch und sind Ihnen dankbar, Ihnen und der Gnädigen. Ich habe ja noch den seligen Grigori Matwejewitsch gekannt, als er so alt war wie Sie jetzt.«

Während Jossif Grigorjewitsch die alten Stufen hinaufging, fragte er aus Höflichkeit nach den näheren Umständen der Mordtat und dachte dabei an den ermordeten Pawel, der in Gesicht und Figur Ähnlichkeit mit ihm, Jossif Grigorjewitsch Pardow, hatte.

»Was wird nun Marina anfangen?« fragte er, in die enge Stube tretend, wo ihn der Duft von blauem Weihrauch umfing.

»Ich weiß nicht; sie wird wohl vorläufig zu ihrer Tante nach Pitervolkstümliche Bezeichnung für Petersburg. ziehen.«

Parfen holte schweigend eine Tasse aus einem besonderen Schrank und deckte selbst den Tisch; aus der Stube jenseits des Hausflurs klangen gedämpfte Weiberstimmen herüber.

Sie besprachen trocken und ernst das Geschäftliche. Jossif wollte schon aufbrechen, als sich in der Tür eine nicht sehr große Frau in dunklem Kleid mit weißem Kopftuch zeigte. Ohne den Gast zu bemerken, begann sie schnell und aufgeregt zu sprechen:

»Parfen Iljitsch, laß mich gleich nach Piter fahren, ich halt's hier nicht aus. Ich bitte dich, wie Mütterchen dich gestern gebeten hat: laß mich fort; hier ist mir alles verleidet: das Haus, der See, die Wege, die Wälder, alles.«

»Auch Vater und Mutter?«

»Was quälst du mich? Du weißt doch selbst, ob ich gehorsam und freundlich bin, ob ich die Arbeit scheue, und jetzt ist auch nicht die Zeit, davon zu sprechen. Meine Seele geht zugrunde, wenn ich hier bleibe . . .« Und sie weinte, ohne mit den Augen zu zwinkern. Parfen stand schweigend da und sah zu, wie Marinas Tränen einzeln ihre Wangen herunterrollten und auf die Enden des Kopftuches fielen.

»Auf Wiedersehen, grämen Sie sich nicht zu sehr«, sagte Jossif Grigorjewitsch, nach dem Riegel fassend.

»Verzeihen Sie, Herr, daß das Mädel so hereingelaufen ist: sie ist außer sich. Geh zur Mutter: glaubst du, daß es den Herrn freut, eure Weibertränen zu sehen? Die Weiber fangen ja immer gleich zu heulen an«, fügte er hinzu, an den Gast gewandt.

»Aber wieso denn, tun Sie sich keinen Zwang an, ich muß längst nach Hause, Tantchen wartet.«

Marina fing von neuem an:

»Was soll ich meine Tränen verheimlichen? Soll es die ganze Welt sehen, was schert mich das? Meine Seele war ebenso rein wie meine Liebe. Laß mich von hier fort, damit ich nicht ganz verzweifle. Woran denke ich jetzt, was wünsche ich mir? – den Tod! Klopfe, klopfe an die Tür, ersehnter Gast, lieber Tod!«

Sie setzte sich auf die Bank neben der Tür, verbarg ihr Gesicht nicht, und wieder rollten karge Tränen auf das Tuch. Plötzlich wurde dreimal hart ans Fenster geklopft. Alle fuhren zusammen, Marina bekreuzigte sich und erstarrte. Draußen stand der dicke grauhaarige Pope. Er klopfte mit dem Peitschenstiel ans Fenster und winkte zum Gruß mit der Hand. Seine laute Stimme drang durch das Glas in die Stube:

»Jossif Grigorjewitsch, erweisen Sie mir die Gnade, nehmen Sie mich bis Polischtscha mit; unsere Straßen sind großartig: ich mußte meinen Wagen in der Schmiede zurücklassen. Ich wußte nicht, wie ich weiterkommen sollte, alle sind auf der Arbeit. Da sehe ich plötzlich Ihre Stute vor Parfens Haus stehen und denke mir, vielleicht fährt er nach Hause und nimmt mich mit.«

»Gerne, gerne, Vater Pjotr!« sagte Pardow erfreut.

Die Räder rollten wieder über die hartgefrorene Erde, die Wälder flimmerten bunt, der Flachs lag einsam auf den Feldern, das Wasser blaute, am Ufer braute man Bier für das nahe Fest. Die beiden Reisenden wechselten ab und zu einige Worte. Sie waren beide etwas dick und fanden auf dem engen Wagen nebeneinander kaum Platz.

»Die Leute sind zwar Ketzer, aber menschlich tut mir der Parfen doch leid. Marina wird jetzt wohl zu ihrer Tante nach Piter in die Kolomenskaja-Vorstadt ziehen.«

»Ist sie reich, die Tante?«

»Sie sind alle reich. Hat man bei Ihnen schon das Kraut geschnitten?«

»Gestern.«

»Es gibt furchtbar viel Reizker heuer.«

»Unser Hengst hat plötzlich zu hinken angefangen.«

»Wie geht's Ihrer Tante?«

»Danke, nicht schlecht.«

»Erwarten Sie Gäste zum Namenstag?«

»Es werden wohl welche kommen.«

»Haben Sie selten Besuch?«

»Selten.«

Jossif begann mit hoher, süßer Stimme ein eintöniges Lied zu singen; der Pope hörte gerührt zu.

»Sie haben eine seltene Stimme, Jossif Grigorjewitsch, Sie sollten Geistlicher werden!«

»Ich weiß nicht, was mit dem Hengst los ist, wir haben nach dem Veterinär geschickt.«

»Kommen Sie doch einmal zu uns, wir wollen die Tauben steigen lassen«, sagte Vater Pjotr beim Abschied.

»Ja, ich komme sicher«, antwortete Pardow lächelnd.

Jossif ging durch den Flur, über die Treppe, durch den Salon, das Eckzimmer und das Kabinett und klopfte an die Tür. Alexandra Matwejewna saß am Toilettentisch und legte Rouge auf die mageren, runzligen Wangen; Jelisaweta stand hinter ihr und kämmte ihr das Haar; der Kutscher Parmen klebte, seine Ochsenaugen gesenkt, an der Schwelle und erstattete Bericht. Die Fenster waren verhängt, obwohl es fast ein Uhr mittags war; Kerzen brannten, und es roch nach Puder. Die alte Dame wandte sich um und sagte:

»Ach, du bist schon zurück, Joseph?« Und sie reichte ihm die runzlige Hand zum Kusse.


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