Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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VI

Nach einigen Tagen erhielt Jekaterina Petrowna durch einen geheimnisvollen Boten einen nicht weniger geheimnisvollen Zettel, auf dem nur drei Worte standen: ›Stets mit Dir‹, worauf sie ebenso lakonisch antwortete: ›In einer Woche‹. Den Schreibern beider Zettel waren nicht nur diese Worte gleichermaßen verständlich, auch die Gefühle, die sie während des Schreibens beseelten, glichen sich wohl, denn auf ihren breiten und gar nicht dummen Gesichtern spielte das gleiche Lächeln von Menschen, die an einer geschickt eingefädelten und riskanten Sache beteiligt sind. Keiner von beiden hielt sich für betrogen, sogar ganz im Gegenteil, und diese Gewißheit brachte sie einander noch näher.

Viktor wunderte sich nicht, als Broskin anfing, noch freundlicher zu werden, öfter zu ihm ins Zimmer zu kommen und ihn zärtlich, gleichsam betastend, zu umarmen. Da Jossif ganze Tage bei seinem Stiefsohn verbrachte, erstreckte sich diese Zärtlichkeit auch auf ihn, wenngleich in etwas anderer Form. Sascha starrte den Gast lange mit vor Trunksucht wahnsinnig scheinenden Augen an, ohne zu zwinkern, sagte etwas leise mit heiserer Stimme, dann plötzlich schüttelte er seine noch nicht schütteren Locken, stand auf und ging hinaus. Einem Unbeteiligten mußten diese drei Gesichter, die durch irgend etwas Gemeinsames verbunden waren, höchst seltsam erscheinen: das Gesicht mit der Stupsnase und den grünen Schielaugen unter dem rotblonden Schopf, das sonnige Antlitz eines nicht mehr jungen Zarenpagen und die gutmütige, verwirrte, rassige Physiognomie des dritten.

Sascha sagte eines Tages:

»Viktor Michailowitsch, wollen Sie mir einen großen Gefallen erweisen?«

»Sehr gern; was soll ich tun?«

»Könnten Sie nicht zu den Sykows gehen, eine gewisse Ikone anschauen und, falls sie gut ist, kaufen? Das Geld dazu gebe ich Ihnen mit.«

Viktor antwortete lächelnd:

»Ich bin gewohnt, Sie für einen vernünftig denkenden Menschen zu halten, Alexander Alexejewitsch; was verstehe ich von Ikonen? Ich weiß, daß Sie selbst nicht gut zu den Sykows gehen können, wollen Sie aber nicht jemand hinschicken, der von der Sache etwas versteht?«

»Damit er das Bild sieht und mir das Geschäft verdirbt, nicht wahr? Ich bin durchaus nicht so unvernünftig, wie Sie glauben. Das Bild befindet sich nicht im Laden – was sie im Laden haben, ist Dreck –, sondern in der Wohnung, und ich kenne es gut: es ist ein ›Brennender Dornbusch‹. Sie haben aber zwei Bilder mit dieser Darstellung: das eine ist acht und das andere sechs WerschokEin Werschok sind 4,4 cm. hoch, kaufen Sie mir das kleinere, das größere ist gar nichts wert. Des Anstands wegen schauen Sie aber alle Bilder an und verhandeln Sie ruhig, ohne Übereilung, als ob Sie das Bild gar nicht so dringend brauchten. Bis fünfhundert Rubel können Sie gehen. Sie wissen wohl, wie so ein ›Brennender Dornbusch‹ aussieht? Der ›Brennende‹ – das ist der mit dem Leiterchen.«Die Muttergottes auf dieser Ikone wurde oft mit einer Leiter auf dem rechten Arm dargestellt.

»Ich kenne es, Tantchen hatte auch so ein Bild. Willst du, daß ich mit dir gehe?« schlug Jossif vor.

»Das ist ja prachtvoll! Was könnte besser sein?« rief Sascha erfreut aus.

Ein paar Tage später läuteten die beiden jungen Leute an einer Wohnung in einem bescheidenen Treppenaufgang. An der Tür war keinerlei Namensschild angebracht. Erst nach dem dritten Läuten wurden die Besucher von drinnen nach ihrem Anliegen gefragt, die Tür ging, von einer Kette zurückgehalten, ein klein wenig auf, ließ einen Schwaden von Fastenöl entweichen (es war ein Mittwoch) und wurde wieder zugeschlagen.

»Man hat anscheinend nicht die Absicht, uns hereinzulassen«, sagte Viktor ungeduldig.

»Warten wir noch ein wenig, ich glaube, jemand kommt.« Wieder näherten sich Schritte, und ein barfüßiger Bursche ließ die Gäste in ein überheiztes Vorzimmer eintreten. Ohne ihnen aus den Mänteln zu helfen, geleitete er sie ins Zimmer und sagte: »Olga Iwanowna kommt gleich, sie hat Sie erwartet.«

»Das ist ja ganz neu! Wer kann uns hier erwartet haben?« sagte Viktor, die roten Samtmöbel, die Öldrucke an den Wänden und die Läufer auf den glänzenden Dielen musternd. Zwei Türen waren fest verschlossen, und ihre geputzten Messingklinken funkelten. Im Nebenzimmer tickten laut mehrere Uhren, und schließlich ertönten in Abständen drei verschiedene Schlagwerke.

»Haben die ein Uhrengeschäft? Ich habe das langsam satt! Hören Sie, sind die Herrschaften nun zu Hause oder nicht?!«

Der Bursche von vorhin steckte seinen Kopf augenblicklich zur Tür herein, als hätte er draußen gelauert, und flüsterte:

»Warten Sie noch, sie kommt gleich.« Und er verschwand lautlos. Im gleichen Augenblick erschien durch die andere Türe eine hochgewachsene, korpulente Frau im offenen Morgenrock; sie hielt ein kleines rotes Seidentuch auf den Schultern fest, das immer herunterrutschen wollte und den Hals und einen Teil der Brust offen ließ. Sofort fing sie leise und in singendem Tonfall zu reden an:

»Guten Tag, meine Herren, Sie haben aber gestern kommen sollen; Fjokluscha hat es mir schon längst gesagt, ich habe gewartet. Heute habe ich schon gar nicht mehr gedacht, daß Sie kommen könnten, und bin ein wenig eingeschlafen. Nun, wie war die Reise? Guten Tag, Andrjuscha, mein Lieber . . . Ach!« schrie sie plötzlich auf, ganz nahe an Jossif herantretend und ihn mit ihren hervorstehenden, kurzsichtigen Augen anstarrend: »Was ist denn das? Wer sind Sie . . . Herr Jesus! Stepan! Stepan!«

Das rote Tuch fiel ganz zu Boden, und die Frau bemühte sich, mit ihren vollen Armen Hals und Brust zu schützen.

»Entschuldigen Sie, es liegt wohl eine Verwechslung vor. Wir wollten in einer geschäftlichen Angelegenheit zu Ihnen, wir möchten eine Ikone kaufen, sind aber anscheinend zur ungelegenen Zeit gekommen. Entschuldigen Sie, wir kommen ein anderes Mal, wenn Herr Sykow zu Hause ist.«

Olga Iwanowna hatte schon das Tuch vom Boden aufgehoben und befragte verzweifelt und ungeschickt den wiedererschienenen barfüßigen Burschen mit den Augen, was sie nun tun solle.

»Was für eine Ikone? . . . Das ist im Laden, bei Jakow Sacharytsch . . . Ich weiß von nichts . . .«

»Wenn Sie eine Ikone wollen, so müssen Sie sich auf den Sagorodny-Prospekt bemühen«, bestätigte der Bursche.

»Nein, man sagte uns, das Bild befinde sich in der Wohnung und nicht im Laden.«

»Gestatten Sie die Frage: wer hat es Ihnen gesagt?«

»Das ist ja ganz gleich, jedenfalls wurde es uns gesagt.«

Hinter der anderen Tür ertönte ein Zischen, diesmal war es aber keine Uhr. Olga Iwanowna horchte und fragte:

»Hat Sacharytsch dir etwas gesagt? Ich weiß von nichts . . . Wer sind Sie eigentlich? Ich kann es gar nicht fassen . . . Wer hat Sie hergeschickt?«

»Wir heißen Viktor Michailowitsch Oserow und Jossif Grigorjewitsch Pardow«, sagte Jossif.

Die Frau wiederholte, wie wenn sie sich an etwas erinnern wollte.

»Pardow . . . Pardow . . . Mein Gott, wo habe ich den Namen gehört?« Sie hob den Blick und fragte unsicher: »Entschuldigen Sie, hat man nicht im vergangenen Jahr Ihr Tantchen ermordet?«

»Ja, dieses Unglück hat sich bei uns ereignet.«

Die Frau fing plötzlich unpassenderweise zu strahlen an und rief aus:

»Das ist ja herrlich! Das ist ja wunderschön! Ich kenne Sie also, ich habe viel von Ihnen gehört.«

»Von wem denn?«

»Von Parfens Marina, Sie erinnern sich doch noch an sie? Wie froh wäre sie, Sie zu sehen, mit Ihnen zu sprechen! Sie sind ja aus der gleichen Gegend, auch ihr ist dort ein Unglück zugestoßen . . .«

»Wo ist sie denn? Ich würde sie auch gern wiedersehen.«

Olga Iwanowna lächelte fröhlich und sagte:

»Wo sie ist? Marina! Marinuschka! Komm her: es ist ein Bekannter da!« Sie wandte sich an Jossif und fuhr fort: »Sie wohnt bei uns, Parfen ist mein Bruder und Marina meine Nichte, so sind wir also miteinander bekannt. Trinken Sie eine Tasse Tee mit uns, warten Sie; wenn die Burschen zum Mittagessen kommen, will ich ihnen sagen, daß sie Jakow Sacharytsch benachrichtigen: er wird sofort erscheinen, und Sie können mit ihm vom Geschäft sprechen. Inzwischen können wir uns doch ein wenig unterhalten. Ja, wo ist denn Marina? Stepan, mach schnell Tee!«

»Sofort!« tönte Stepans Stimme aus der Küche.

Durch die Tür kam hüpfend und trippelnd ein kleines Wesen in grellem Kleid und einem Tuch über der kokett zerzausten Frisur. Das Wesen zischte, fuchtelte grüßend mit den kleinen Händen, tänzelte und knickste.

›Hat sich denn Marina so verändert?‹ fragte, sich Pardow, die Hausfrau unterbrach aber seine Gedanken und erklärte:

»Das ist Fjokluscha, unsere Verwandte, habe die Ehre vorzustellen. Geh, meine Liebe, bereite etwas zum Tee vor, die Gäste bleiben da. Vergiß nicht, Madeira zu holen.«

Fjokluscha zeigte die Zähne und zischte etwas, worauf Olga Iwanowna erwiderte:

»Das hat Zeit, es macht nichts.«

»Ist sie stumm?« fragte Jossif, als Fjokluscha hinausgegangen war.

»Stumm? Nein; sie hat irgendwie ein Loch im Gaumen, darum zischt sie so und kann die meisten Buchstaben nicht aussprechen; wir verstehen sie aber. Der Arzt sagt, daß man sie heilen kann, dann verheiraten wir sie sofort nach Moskau: wir haben dort schon einen Bräutigam bereit.«

Viktor fing laut zu lachen an; der Stiefvater sah ihn streng an, aber auch die Hausfrau selbst lachte mit hoher Stimme mit und sagte:

»Ja, lachen Sie nur! Versuchen Sie nur nicht, sie dem Bräutigam abspenstig zu machen; das geht leicht, und Fjokluscha ist eine reiche Partie!« Und sie fing wieder zu lachen an. Dann verstummte sie, erhob sich, verneigte sich artig und sagte: »Ich bitte recht schön zum Tee!«

»Wir wollen Ihnen doch keine Umstände machen«, begann Jossif, aber sie verbeugte sich erneut und wiederholte: »Wir bitten recht schön, schlagen Sie es uns nicht ab!«

Im Eßzimmer war noch nicht alles fertig, Fjokla und Stepan rannten hin und her und brachten Flaschen und Teller mit Hering, Pilzen, Fruchtkonfekt und Pfefferkuchen herbei. Olga Iwanowna warf einen Blick auf den Tisch, forderte die Gäste auf, Platz zu nehmen, und schickte Stepan hinaus, damit er Marina rufe. Sie aßen und tranken, die Hausfrau schenkte den Gästen und Fjokluscha immer wieder Wein ein, vergaß auch sich selbst nicht, schwatzte und lachte. Sie war um die fünfunddreißig Jahre alt; die Züge ihres sehr blassen, blutleeren Gesichts waren unregelmäßig, aber angenehm; drei kleine Leberflecke, die dunklen, feuchten Augen, der rote Mund und die pechschwarzen Haare ließen ihr Gesicht noch blasser erscheinen, und weder der getrunkene Madeira noch die Hitze, die in der Stube herrschte, vermochten dieser Blässe etwas anzuhaben. Alle paar Minuten zupfte sie mit ihren weißen, dicklichen Händen das rote Tuch zurecht, das herunterrutschen wollte. Das unartikulierte Zischen Fjokluschas wurde den Gästen allmählich verständlicher. Die beiden Frauen lachten und sprachen von irgendwelchen Personen, Ereignissen, Abenteuern, Zufällen und Streichen, ohne sich darum zu kümmern, daß die näheren Umstände, in denen die Komik des Erzählten bestand, den Gästen unbekannt waren. Fast blieb unbemerkt, wie Marina ins Zimmer trat; sie streifte den Tisch mit einem Blick, ging direkt auf Jossif und Viktor zu und sagte:

»Sie hätte ich wirklich nicht erwartet! Gott selbst hat Sie hergeführt.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Wie geht es Ihrer Gemahlin Jekaterina Petrowna, dem Tantchen und Fräulein Sofja Karlowna?«

»Ich danke, nicht schlecht«, erwiderte Jossif und blickte Marina, die sich wenig verändert hatte, ohne zu lächeln an. Marina beteiligte sich nicht an der allgemeinen Unterhaltung und trank eine Tasse Tee mit Eingemachtem nach der andern; sonst nahm sie nichts zu sich. Bald kam der Hausherr mit seinem Schwager heim und war etwas erstaunt, eine so lustige Gesellschaft vorzufinden. Sykow war rothaarig, schielte auf einem Auge und war geschäftig und liebenswürdig; in dem Bruder Olga Iwanownas, der sich schweigend ins Innere der Wohnung zurückzog, erkannte Jossif den schlanken Greis wieder, der in jener Nacht Marina begleitet hatte. Vom Geschäft sprach man nur nebenbei; Jossif und Viktor sahen sich die Ikonen an und versprachen wiederzukommen. Die Sykows luden sie herzlich ein, Marina schwieg, begleitete aber die Gäste hinaus und sagte zu Jossif:

»Sie haben es nicht leicht, Täubchen!« Als er darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Leugnen Sie es nicht! Ich habe es ja auch schwer, kommen Sie recht oft zu uns, dann werden wir es beide leichter haben.« Nach einer Pause sagte sie noch: »Der Heiland selbst wird uns heilen, ich aber werde bald sterben. Kommen Sie wieder, Pawel Grigorjewitsch.«

Ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck waren ruhig, sie hatte sich wenig verändert. Aber in ihrer Rede klang eine Überzeugungskraft, die nicht vom Sinn der Worte abzuhängen schien.

Als sie Broskin von ihrem Besuch erzählten und Viktor sich lobend über die Frau Sykowa äußerte, sagte Sascha:

»Sie ist wohl nicht übel, aber ihren Mann hat sie doch ins Jenseits befördert.«

»Sie wurde ja freigesprochen, vielleicht war es nur ein Verdacht.«

Sascha hob die Augen und sagte gedehnt: »Glauben Sie es nur.«


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