Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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VIII

Sonja kam aus ihrem Zimmer, schloß hinter sich leise die Tür und sagte:

»Ljolja ist eingeschlafen.«

»Ist sie müde von der Reise?« fragte Jossif, der am Fenster stand, durch das die schon schrägen Sonnenstrahlen hereinfielen.

»Ich fürchte, daß sie krank ist.«

»Was hat sie denn?«

»Sie ist oft krank. Es ist nicht gefährlich, aber schrecklich.«

»Warum schrecklich?«

»Bloß so.«

Sonja stellte sich neben Jossif und begann mit dem Finger auf der angelaufenen Fensterscheibe Kreise zu zeichnen; sie reichte ihrem Nachbarn gerade bis an den Ellenbogen.

»Wer ist denn jetzt bei Ljolja?«

»Niemand, sie schläft. Sag es keinem, vielleicht wird auch nichts daraus.«

»Warum bist du mit ihr so befreundet? Ihr seht euch ja so selten.«

»Ich liebe sie sehr. Auch dich, Joseph, liebe ich, obwohl ich dich selten sehe.«

»Du bist sehr gut, Sonja.«

»Ich bin nicht gut, ich liebe nur wenige Menschen: Ljolja, dich, Viktor.«

»Und die Tante Mascha?«

»Mama? Natürlich liebe ich auch sie, aber nicht so, sie ist anders – nicht so zärtlich.«

»Ist denn Vitja zärtlich? Ich glaube, er ist ein ausgelassener Bengel.«

»Es ist möglich; ich weiß es nicht; er ist sehr böse, aber zärtlich.«

»Du sprichst ganz wie eine Erwachsene; das ist komisch.«

»Es kommt davon, daß ich ein Krüppel bin.«

»Wer hat dir das gesagt? Denk niemals daran, sprich niemals so! Wer hat dir das gesagt? Die Tante, Katerina Petrowna?«

»Niemand, weil sie alle Angst haben, aber ich habe keine und weiß es. Mich kann niemand liebhaben.«

»Sonja, schweig um Gottes willen! Liebe ich dich denn nicht?«

Sie wandte sich mit ihrem Buckel zum Fenster, lachte leise auf und sagte:

»Wie dumm bist du doch, Joseph! Spreche ich denn davon? Und dann noch etwas: Kennst du Adventow? Du solltest mit ihm reden: er kann für dich viel mehr tun als ich, viel mehr als alle. Und für dich muß man jetzt etwas tun. Sprich doch mit ihm; willst du es mir versprechen?«

»Gut, ich verspreche es. Wozu brauch ich es aber?«

»Bloß so, hör auf mich und hör auf ihn, obwohl ich ihn nicht liebe.«

»Sonja, ich glaube, du willst mich nur irreführen.«

»Nein, nein. Jemand kommt.«

»Ich höre nichts.«

»Du wirst es schon hören«, sagte die Bucklige etwas gereizt.

»Ich will jetzt gehen; ich bin den ganzen Tag noch nicht aus gewesen, der Abend ist so wunderschön, ich will ein wenig durchs Dorf gehen.«

»Ich gehe mit.«

»Nein, nein, Adventow kommt eben her, sprich mit ihm.«

»Warum glaubst du, daß er es ist? Du hast ihn vom Fenster aus gesehen.«

»Ja, gewiß, ich habe ihn mit meinem Buckel gesehen. Wenn Ljolja nach mir verlangt, ruf mich herauf, ich werde ganz in der Nähe auf und ab gehen.«

Sie ging hinaus, um den Pelzmantel und das warme Tuch anzuziehen. Nach wenigen Augenblicken hörte Jossif tatsächlich leichte schnelle Schritte, und aus den inneren Zimmern kam jemand, in dem er Adventow mehr ahnte als erkannte.

Dieser rief beim Eintreten:

»Hier ist jemand; sind Sie es, Serjoscha?«

»Nein, das bin ich, Jossif.«

»Was machen Sie im Dunkeln? Und warum ist es hier so leer? Wo sind alle Leute hin? Oder schlafen schon alle? Ich kenne die hiesigen Sitten nicht.«

»Ich weiß selbst nicht, wo alle sind, ich habe nur Sonja gesehen.«

»Ach, Sonja Dreistück? Ein seltsames Kind.«

»Sie ist ja bald achtzehn.«

»Ihr Körperfehler macht sie zu einem Kind, und zugleich ist sie mehr als eine Erwachsene.«

Jossif zündete die Lampe an, sah auf Adventows braunes, recht gewöhnliches Gesicht und überlegte, wie er die versprochene Unterredung beginnen sollte.

»Wie gefällt es Ihnen im Winter auf dem Lande?«

»Was die Natur betrifft, so kann man darüber nur einer Ansicht sein, von einer so unwahrscheinlichen Märchenpracht ist sie im Winter. Und sonst lebe ich ganz nach meinem Geschmack: arbeite viel, habe gute Freunde und kann, wenn ich will, immer verreisen.«

»Ich glaube, Sie sind mit den Dmitrewskis sehr intim?«

»Ja, zum Teil auch mit den Dmitrewskis.«

»Sie sind auch mit Sergej Pawlowitsch eng befreundet – ich glaube es bemerkt zu haben.«

Adventow lächelte.

»Sie beobachten gut.«

»Adelaïda Platonowna hat es auch gesagt.«

»So, auch Adelaïda Platonowna?«

»Sergej Pawlowitsch ist ja sehr nett.«

»Sehr nett.«

Sonja kam leise in Pelz und Kopftuch herein und sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Joseph, du mußt mit mir kommen.«

»Darf ich mich vielleicht auch anschließen?« mischte sich Adventow ein.

Sonja schwieg eine Weile und sagte:

»Nein, Sie müssen bleiben.«

»Wie Sie befehlen. Können Sie mir aber vielleicht sagen, wo alle stecken? Es ist hier wirklich wie in Dornröschens Schloß.«

»Nur Ljolja schläft; Sergej Pawlowitsch spielt mit Viktor Dame, Vater Pjotr schaut ihnen zu, und Herr Jegerew unterhält mit seiner Beredsamkeit alle Damen.«

»Ich danke Ihnen, Sie sind gut unterrichtet.«

»Ich bin immer gut unterrichtet, das ist meine Spezialität.«

»Die für Sie wohl verschiedene Vorteile hat.«

»Wie ich sehe, nicht nur für mich allein. Gehen wir doch!« sagte sie zu Jossif, der sich schon fertiggemacht hatte.

Sonja ging schnell voraus und schleppte Jossif über die schneeverwehte, noch holprige Straße mit. Sie stieß eine Gartenpforte auf, blieb vor dem erleuchteten Fenster eines der Bauernhäuser stehen und flüsterte Jossif zu: »Schau!« In der Stube standen vor dem brennenden ewigen Lämpchen Parmen, Arina und Fomka.

»Kennst du diese Leute?« fragte Sonja, am ganzen Leibe zitternd.

»Ist dir kalt? Natürlich kenne ich sie.«

»Warum brennt bei ihnen Licht?«

»Ich weiß es nicht. Morgen ist Tantchens Namenstag.«

»In den andern Häusern ist es dunkel! Kennst du sie gut?«

»Und ob!«

»Schau nur, was sie tun.«

Parmen legte vor die Heiligenbilder irgendeinen Gegenstand hin, und alle drei verneigten sich dreimal bis zur Erde. Arina nahm eines der Heiligenbilder vom Bord, alle küßten es der Reihe nach, stellten es wieder zurück und verneigten sich voreinander bis zur Erde. Sonja zitterte wie im Fieber.

»Es ist schrecklich, Joseph! Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich fürchte.«

»Ich verstehe gar nichts; was fürchtest du so, Sonja?«

Sie rannten fast über die nun dunkle Straße nach Hause, schweigend. Ein vermummtes weibliches Wesen rief sie an:

»Gnädiger Herr, Jossif Grigorjewitsch, sind Sie es?«

»Wer bist du?«

»Das bin ich, Domna. Gnädiger Herr, lassen Sie mich Ihnen zwei Worte sagen.«

»Jetzt nicht, jetzt nicht.«

»Joseph, hör sie an, ich bitte dich!«

»Nein, nein!«

»Sonderbar.«

»Gnädiger Herr, haben Sie doch die Gnade, bleiben Sie einen Augenblick stehen«, flehte das Mädel.

»Nein, nein, nicht jetzt.«

Und sie liefen weiter. Sonja hing schwer an seinem Arm und sagte immer wieder:

»Ich hab solche Angst! Warum hast du sie nicht anhören wollen?«

»Glaub mir, es ist irgendein Unsinn. Du weißt ja nichts. Parmen, Arina, Domna – das muß man alles wissen.«

»Nun, was ist mit ihnen?«

»Das kann ich dir doch nicht sagen!«

»Warum nicht?«

»Es geht ja schließlich nicht nur mich allein an.«

»Sehr gut. Wenn du es mir nicht sagen kannst, so sag es Vater Pjotr: du weißt ja, was für ein würdiger Mensch er ist. Und zwar heute noch.«

»Ja, Vater Pjotr kann ich es wohl sagen.«

»Du kannst nicht nur, du mußt.«

Sie kamen nach Hause gerade in dem Augenblick, als sich alle zu Tisch setzten. Nach dem Essen begann die Abendmesse. Alexandra Matwejewna blieb, ihre Migräne vorschützend, dem Gottesdienst fern, wie es Vater Pjotr ganz richtig vorausgesagt hatte. Die Gäste placierten sich vorn und überließen die Tiefe des Zimmers den Bauern und Dienstboten. Als Jossif Vater Pjotr das Weihrauchfaß reichte, flüsterte er ihm zu: »Nach der Messe muß ich Sie sprechen.«

Der Geistliche sah ihn erstaunt an und sagte: »Mit Vergnügen; haben Sie etwas auf dem Herzen?«

»Ja, so ist es.«

Der Geistliche gab Jossif lächelnd den Priestersegen und begann die Litanei mit ungewöhnlichem Pathos. Jossif sang mit seiner süßen Stimme mit und merkte kaum, wie Ljolja Dmitrewskaja plötzlich in Ohnmacht fiel und hinausgetragen wurde. Vater Pjotr legte den Ornat ab und begann sofort Jossif nach seinem Anliegen zu befragen, ohne erst abzuwarten, daß Parmen, der die Kerzen ausblies, sich entferne.

Jossif senkte sein errötetes Gesicht und legte sein Geständnis ab; er sah nicht, wie der Geistliche lächelte. Als er ihn angehört hatte, sagte dieser:

»Sie dürfen das alles nicht zu schwer nehmen, es sind lauter Dinge, wie sie im Leben jeden Tag vorkommen. Als Priester kann ich es nicht billigen, aber ich verstehe Ihre Schwäche, oder, wenn Sie wollen, Ihren Fehltritt sehr wohl. Wenn Sie die Kraft dazu haben, geben Sie es auf, vor allem aber nehmen Sie sich die Sache nicht zu Herzen und verzweifeln Sie nicht. Und was Ihr Tantchen betrifft, so kann ich Ihnen nur sagen, daß es Angelegenheit ihres Gewissens ist; hätte sie sich selbst an mich damit gewandt, so wüßte ich vielleicht, was ihr zu sagen wäre; Ihnen kann ich aber nur wiederholen, daß es die Sache ihres Gewissens ist und Sie sich darüber keine schweren Gedanken zu machen brauchen.«

Zu den Dingen, die Jossif in Parmens Haus gesehen hatte, sagte Vater Pjotr gar nichts. Sonja erwartete Jossif im Korridor, hörte aber seinen Bericht über das Gespräch mit Vater Pjotr seltsam zerstreut an. Sie sagte leise:

»Ich glaube, Ljolja wird bald wieder umhergehen.«

»Wieso gehen?«

Die Bucklige erwiderte nichts und ging lautlos ins Zimmer der Kranken.


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