Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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II

Viktor ging in seinem kleinen Zimmer auf und ab, während Sonja und Jossif im Halbdunkel, das schon nach zwei Uhr das Zimmer füllte, am Fenster saßen. Der Junge hatte den Wuchs seines Stiefvaters noch nicht erreicht, war aber schon sehr groß und ungelenk. Sonja schwieg, und nur Jossifs Stimme allein klang vom Fenster herüber. Er sprach langsam, mit klagender Stimme davon, daß seine Frau die Freundschaft zwischen ihm und ihrem Sohn nicht gern sehe, ihm nicht erlaube, nach eigenem Gutdünken auszugehen, und ihm sogar verbiete, seine Lieblingslieder zu singen.

»Sie sagt, sie müsse sich vor den Dienstboten schämen, ich benehme mich wie ein Küster oder wie ein Zimmermaler.«

»Und ist dabei selbst eine Popentochter!« rief Viktor aus, sich auf den Absätzen umwendend. »Der Teufel hat dich geritten, Jossif, daß du dich mit ihr eingelassen hast!«

»Nun, Gott mit ihr. Dafür hab ich dich und Sonja«, sagte der Stiefvater versöhnlich.

»Ich meine, dafür hättest du nicht unbedingt Katja zu heiraten brauchen«, versetzte Sonja auflachend.

»Ich will dich mit Senka dem Schnittwarenkommis bekannt machen, ja? Ein reizender, lustiger Mensch!«

»Ein Schnittwarenkommis?« fragte Sonja.

»Ja. Was ist denn dabei?«

»Nichts. Es ist natürlich kein Unglück, daß er Kommis ist, ich glaube aber, er ist ein übler Rowdy.«

»Woher weißt du das?«

»Nur aus deinen eigenen Berichten. Woher denn sonst?«

Jekaterina Petrowna stürzte geräuschvoll ins Zimmer und begann sofort zu schreien:

»Ich habe es dir schon gesagt, Viktor, daß du, wenn du mit uns wohnen willst, dich von deinen lieben Freunden lossagen mußt oder es wenigstens so einrichten, daß sie nicht herkommen. Es sind ja Gott weiß was für Menschen: sie können einen ermorden oder ausrauben. Dieser Verkehr kann auch der Polizei auffallen. Glaubst du vielleicht, daß sie nicht unter Beobachtung stehen?«

»Iwan Pawlowitsch besucht uns ja auch.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nur, daß man wohl auch ihn beobachtet.«

»Das ist was ganz anderes: er ist ja kein Gassenjunge und kein Dieb.«

»Vielleicht noch was Schlimmeres.«

»Nun, darüber wollen wir später sprechen. Ich hab dir meine Meinung gesagt. Tu, was du willst.« Mit diesen Worten ließ sie sich geräuschvoll in einen Stuhl sinken.

»Katja, warum bist du eigentlich überzeugt, daß alle Leute, die zu Viktor kommen, Rowdys, Diebe und dergleichen sind?«

»Weil sie ärmlich gekleidet sind und durch die Küche kommen«, mischte sich Sonja ein, die bis dahin geschwiegen hatte.

Katja blickte sie an und sagte durch die Zähne: »Du bist eine heilige Seele, Sonja, und verstehst nichts davon.«

»Es ist wahr, daß ich nichts verstehe; ich meine aber, das kommt nicht von meiner Heiligkeit, sondern von was anderem. Außerdem glaube ich, daß es in erster Linie Joseph angeht.«

»Joseph ist mit mir gleicher Ansicht«, entgegnete Jekaterina Petrowna schnell, ergriff die Hand des auf und ab gehenden Gatten und drückte sie leise.

»Ja, Katja, gewiß«, sagte dieser, stehenbleibend.

»Wenn ihr nur wüßtet, wie ich euch alle satt habe!« schrie der Stiefsohn aufspringend.

»Wo willst du hin?« fragte Sonja.

»Ich jage dich ja nicht hinaus, ich verlange nur, daß zu uns keine verdächtigen Individuen kommen.«

»Ich weiß, ich weiß! Macht es unter euch aus: so bald seht ihr mich nicht wieder!«

»Wie nervös ihr alle geworden seid«, sagte Sonja, auf die Tür blickend, die Viktor hinter sich zugeschlagen hatte. »Die Petersburger Luft ist euch nicht zuträglich.«

Jekaterina Petrowna erwiderte nichts. Sie saß ruhig da und drückte zärtlich die Hand ihres Mannes, die in der ihrigen geblieben war. Die frühe Abenddämmerung begann die Winkel des Zimmers mit Schatten zu füllen. Die Stille erschien nach dem Geschrei von vorhin noch tiefer. Endlich erhob sich Sonja von ihrem Platz und sagte:

»Nun, es ist Zeit, ich gehe. Wir sehen uns doch am Abend wieder?«

»Wo?« klang die Stimme der Frau Pardowa wie aus tiefem Wasser.

»Auf der Moika; heute ist doch eine Versammlung. Bemüht euch bitte nicht, mich hinauszubegleiten: ich gehöre doch zur Familie. Ich bitte dich, Katja, setz dem Viktor nicht so zu!«

»Wer setzt ihm zu? Auf Wiedersehen!«

Sonja küßte die sitzende Jekaterina Petrowna und Joseph, der neben ihr stand.

»Mach Licht!« flüsterte Katja, als ihr Mann sich über sie beugte und ihr Gesicht und Hals mit flüchtigen, leichten Küssen bedeckte.

»Warum? Es ist doch so schön!« erwiderte Jossif ebenso leise und küßte sie weiter.

»Liebster, mach Licht. Heute nicht, jetzt nicht!« sagte sie, schmiegte sich aber selbst an ihn.

»Aber Katja: gestern hieß es ›heute nicht‹, heute heißt es ›heute nicht‹ und morgen wieder: ›heute nicht‹! Wann denn?«

»Sei mir nicht böse, Joseph; du weißt wie ich dich liebe, aber ich bitte dich: nicht heute! Ich werde dir schon sagen, wann. Du liebst mich nicht auf die rechte Art.«

»Ich liebe dich, wie ich kann. Mich betrübt und verwundert das.«

»Alles wird gut, alles wird herrlich sein, Liebster, du vertraust mir doch?«

»Ja, ich vertraue dir.«

»Also ist alles gut.«

Joseph seufzte im Dunkeln. Katja schmiegte sich an ihn, den Knienden, küßte ihn langsam, stand auf, drehte das Licht an und brachte Kleid und Frisur in Ordnung.

»Und wie ist es mit deinen Befürchtungen, Katja?«

»Mit was für Befürchtungen?«

»Wegen des Kindes.«

»Ich war gestern beim Arzt; er sagt, es wäre blinder Alarm und käme nur von den Nerven.«

»So? Schade!«

»Natürlich ist es schade, was soll ich aber machen? Es ist nicht meine Schuld.«

»Ich beschuldige dich auch gar nicht.«

Jekaterina Petrowna fuhr nach dem Essen in bescheidener dunkler Toilette, von Jossif begleitet, durch den Nebel und Sprühregen. In dem langen Saal waren schon an die fünfzehn unbekannte und wenig bekannte Personen versammelt. Jossif, der durch seine große, massive Figur von den andern abstach, ging, nach rechts und links grüßend, auf den Hausherrn zu, einen kleinen, ausgemergelten Mann mit mächtigem Schädel und grauer Gesichtsfarbe, und sagte:

»Pjotr Pawlowitsch, das ist also meine Frau Jekaterina Petrowna, von der Ihnen die Tante schon erzählt hat.«

»Es war schon so lange mein Wunsch!« stammelte Frau Pardowa, die mumienhafte, magere Hand ergreifend.

»Ich freue mich, daß der Herr an Ihr Herz geklopft hat«, erwiderte der Hausherr mit fremdländischem Akzent, vor die Wand tretend, an der in gleichmäßigen Abständen auf dicke Pappe aufgezogene Texte aus dem Evangelium in russischer und deutscher Sprache hingen. Sie sahen wie die Verbotstafeln an einem Amtslokal aus, und ein Neuling würde glauben, daß die Inschriften ›Nicht ausspucken!‹, ›Bitte nicht rauchen!‹, ›Den Rasen nicht betreten!‹, ›Trinkt kein unabgekochtes Wasser!‹ lauteten; es waren aber Bibeltexte. Jekaterina Petrowna sah sich um und steuerte erfreut auf Sonja zu, die einsam und mit gelangweiltem Ausdruck am Pianino stand und weder mit Ljolja noch mit Adventow und Bessakatny, die in ihrer Nähe waren, sprach.

»Endlich habe ich dich gefunden!« begann die Neuangekommene.

»Ich glaube, ich stehe sichtbar genug da.«

»Ja, ja. Wirst du begleiten?«

»Wahrscheinlich.«

»Ach, das wird ja herrlich sein!«

»Warum? Hier werden gewöhnlich sehr schlechte und unpassende Sachen gesungen.«

Sonja kniff die blauen Augen etwas zusammen und blickte über die Köpfe der sich in der Tür Drängenden hinweg.

»Ich will neben dir sitzen, ja?« sagte die Dame.

»Ich glaube, Ljolja wollte hier sitzen. Frage sie.«

»Sie wird mir den Platz abtreten.«

»Nein, nein! . . .« rief Fräulein Dmitrewskaja erregt.

»Wir finden hier alle Platz: Jelena Iwanowna neben Sofja Karlowna, ich neben Jossif Grigorjewitsch, und Ihnen wird Sergej Pawlowitsch die notwendigen Aufklärungen geben«, schlug Adventow vor.

Ein schlanker Herr im langen Gehrock, mit glattrasiertem Gesicht, streckte die Hand nach Sonja aus. Diese setzte sich vors Pianino, spielte eine an eine Mendelssohnsche Romanze erinnernde Melodie an und begann mit Ljolja zu singen; die andern fielen mit Gefühl ein:

»O Herr, der Du Dich selbst verkündigt,
Du bist uns gnädig, bist uns gut:
Wenn Du befiehlst, sind wir entsündigt,
Uns rettete Dein Heilig Blut!«

Der glattrasierte Herr holte ein Evangelium aus der Tasche, schlug es auf, las englisch einige Texte vor, klappte das Buch wieder zu und hielt eine englische Rede, einzelne Worte laut betonend. Ein junges Mädchen mit Brille, das neben ihm saß, übersetzte seine Worte aus dem Stegreif ins Russische, ohne sich im geringsten um den Satzbau zu kümmern. Die Predigt handelte vom verlorenen Sohn und davon, daß jeder, der an die heilbringende Kraft der Passion Christi glaube, jeden Augenblick gerettet werden könne. Dann wurde wieder gesungen. Jekaterina Petrowna litt unter der Hitze und langweilte sich ein wenig. Bessakatny, der neben ihr saß, flüsterte:

»Schaun Sie: Tante Nelli wird gleich einschlafen.«

Die dicke Dame nickte wirklich selig mit dem Kopf, reckte die korsettgepanzerte Brust und hielt den Mund halb geöffnet. Der Hausherr erhob sich von seinem Platz, was für die andern ein Signal war, dasselbe zu tun.

»Was kommt jetzt?« wandte sich Katja an Bessakatny.

»Sie werden es gleich hören.«

Pjotr Pawlowitsch kniete neben dem Stuhl, auf dem er eben gesessen hatte, nieder, steckte die Nase in die gefalteten Hände und sagte laut: »Herr, erleuchte diejenigen, die die äußere Gewalt über uns haben, mit Deiner Gnade und Deinem Segen, auf daß Dein Licht sie berühre und sie Deine treuen Diener nicht mehr verfolgen.«

Die Brüder sagten: »Amen.« Nun knieten alle der Reihe nach vor ihren Stühlen nieder und verkündeten ihr Anliegen. Eine junge Dame im Hut, mit naivem und lustigem Gesicht, stammelte errötend: »Herr, verlängere die Dienstreise meines Mannes!« Der Student lächelte. Ljolja strafte ihn mit einem strengen Blick und flüsterte Jekaterina Petrowna zu:

»Lassen Sie sich nicht irreführen: diese Frau ist auf dem rechten Wege. Ihr Mann ist ein äußerlicher, noch nicht erleuchteter Mensch; sie ist schwach und in Herzensaffären verstrickt; wenn der Mann zurückkommt, ehe sie alles in Ordnung gebracht hat, kann ein großes Unglück geschehen. Amen!« schloß sie plötzlich mit ernstem Gesicht, das Amen galt dem Gebet Adventows, das sie überhört hatte.

Nun kam die Reihe an Sonja. Sie kniete vor ihrem Schemel nieder, richtete den Blick auf die Blumen, die auf dem Pianino standen, und sagte laut: »Gott, gib Liebe und Frieden der ganzen Welt, gib Liebe und Frieden den Brüdern und allen, die ich liebe, und auch denen, die in der Finsternis wandeln; laß das Böse, das heute gesät worden, morgen umkommen; gib Ruhe meinen Brüdern Jossif und Viktor.«

Jekaterina Petrowna sah sich beunruhigt um; Sonja erhob sich aber ruhig von den Knien, während Ljolja errötend und stotternd betete, daß sie bei dem, den sie liebe, Gegenliebe finden möchte.

»Was soll denn ich sagen?« fragte Jekaterina Petrowna errötend ihren Nachbarn.

»Was Sie wollen: daß Ihr Mann Ihnen einen neuen Hut kauft.«

»Sie machen immer Spaß!«

»Wie feige Sie sind! Also sagen Sie etwas Allgemeines, was Ihnen gerade einfällt.«

Jekaterina Petrowna kniete in ihrer Erregung mit dem Rücken zum Stuhl, ließ die Arme hängen und rezitierte einen Psalm: »Gott, sei mir gnädig nach Deiner Güte«, und so weiter bis zum Schluß. Der Engländer erkundigte sich leise bei seiner Gehilfin, warum diese Dame ein so langes Anliegen habe; diese erklärte es ihm. Frau Pardowa erhob sich schließlich, über und über rot und verschwitzt, von den Knien und hörte gar nicht, wie munter Bessakatny sein Gebet herunterleierte, daß Michail Alexandrowitsch Adventow recht bald sein Geld bekommen möge. Wieder wurde gesungen. Jekaterina Petrowna konnte noch immer nicht zu sich kommen. Nun begann ein anderer Prediger, diesmal in Russisch:

»Ihr könnt sagen: ›Gott ist nicht‹, aber Er ist. Ihr sitzen in Zimmer und sagen: ›Der Regen ist nicht‹, aber der Regen ist. Niemand begreift Minute. Da ist die Tür offen, ich schließe, und sie ist zu. Der Herr klopft an eure Wohnung, und ihr empfangt Ihn. Jedes Herz ist fertige Wohnung: man muß sie fegen und Staub wischen. Also traget den Herrn in eure Wohnung und wartet auf den Stunde.«

Er verbeugte sich, und man sang wieder. Dann brach man auf. Ein Teil der Gäste wurde gebeten, zum Tee zu bleiben; Tante Nelli sagte zu Jossif, der eben fahren wollte:

»Das geht doch wirklich nicht, mein Bester, sie hätte ja den ganzen Psalter heruntergelesen! Natürlich ist das gut, es ist ein heiliges Buch; aber man darf ihn doch nicht sozusagen bis zur Bewußtlosigkeit herunterleiern! Da sieht man das Popenblut; bändige deine Frau!«

Jossif küßte ihr die Hand, verbeugte sich und hörte, wie Sonja, die Adventow am Ärmel zog, sagte:

»Man darf sie jetzt nicht aus den Augen lassen: Sie sehen ja, in welcher Verfassung sie ist.«

Tante Nelli sagte so laut, daß man es im ganzen Vorzimmer hörte:

»Unsere Mutter Sofja härmt sich um alle!« Mit diesen Worten ging sie, den einladenden Winken folgend, rasch ins Eßzimmer.


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