Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Der Schnee, der am Zweiten gefallen war, blieb zum allgemeinen Erstaunen liegen, und in den Zimmern herrschte auf einmal winterliche Beleuchtung und Abgeschiedenheit. Tantchen im warmen Morgenrock legte am Fenster zerstreut eine Patience und sah, wie ein großer Mann in Pelzmütze mit Ohrenklappen über den weißen Schnee auf das Haus zuging.

Sie klingelte aufgeregt der Lisaweta und fragte sie:

»Wer ist eben gekommen?«

»Niemand, wen wollen Sie denn?«

»Nein, eben ist jemand gekommen: ein großer blonder junger Mann.«

»Sie haben geträumt«, brummte die Freundin.

»Du hältst mich wohl für dumm?«

»Vielleicht war es der Schreiber von Trebuschenko, der manchmal unsere Pferde leiht. Ich glaube, er ist groß; ob er aber blond ist oder rothaarig, interessiert mich wirklich nicht. Sie haben viel zu scharfe Augen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Woher soll ich wissen, ob er noch hier oder schon fort ist.«

»Gehen Sie hinaus und erkundigen Sie sich, ich muß ihn sprechen.«

»Hat Feuer gefangen!« brummte Lisaweta, ging aber hinaus, um sich zu erkundigen. Alexandra Matwejewna folgte ihr eine Minute später, von Ungeduld getrieben, mit leichten, schwankenden Schritten. Nach etwa vierzig Minuten kehrten die beiden zurück, in ein lebhaftes Gespräch vertieft, das sich anhörte, als wenn sie stritten. Jossif hatte Tantchen selten in diesem Zustand gesehen: man konnte selbst durch die Schminke sehen, wie ihr Gesicht vor Zorn oder Begierde glühte. Sie sagte zu Lisaweta ›du‹:

»Du redest Unsinn, Lisaweta; er ist viel hübscher als Jean Pogrebin, du siehst ja nie etwas: dieses liebe Lächeln, diese Bescheidenheit, dieses freundliche Wesen. Reizend ist er!«

»Von mir aus können Sie ihn abküssen, diesen Schreiber! Was geht's mich an? Ich will es gar nicht sehen.«

Tantchen erbleichte plötzlich, so daß ihr Gesicht nur noch von der Schminke allein rot war, und sagte leise:

»Das hängt ganz von Ihnen ab.«

»Was hängt von mir ab?«

»Daß Sie es nicht sehen«, sagte Tantchen noch leiser.

»Sie meinen, Sie wollen mich vor die Tür setzen?«

»Sie können es auffassen, wie Sie wollen.«

Lisaweta Petrowna ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, Tantchen wandte sich nicht einmal um. Jossif sagte leise:

»Was regen Sie sich so auf, ma tante? Soll ich Lisaweta Petrowna zurückrufen?«

»Bemühe dich nicht, mein Freund!« Sie beugte sich zu ihm vor und sagte: »Diese Lisaweta ist schlecht und neidisch; man lernt die Menschen doch niemals kennen, man muß immer auf Gemeinheiten gefaßt sein. Ist es denn meine Schuld, daß ich noch Glück habe? Du verstehst! Schau nicht auf mein Gesicht – sind meine Arme nicht die gleichen wie einst?« Sie streifte mit einem schnellen Ruck die weiten Ärmel zurück und zeigte ihr mageres, gelbes Fleisch, das wie die Haut einer Truthenne von kleinen Pickeln übersät war. Jossif schlug die Augen nieder und sagte:

»Gewiß, ma tante, Sie haben recht.« – Er konnte aber nicht wissen, wie diese Arme einst ausgesehen hatten.

»Die Arme und alles«, bekräftigte Tante Sascha und versuchte ihren Morgenrock oben am Hals aufzuknöpfen.

Durch die Tür, die diesmal von keiner Lisaweta bewacht war, stürzte plötzlich Arina herein und begann mit einer Energie, die man von ihr nicht erwartet hätte:

»Ich komme zu Euer Gnaden!«

»Geh zu Lisaweta Petrowna!« erwiderte Tantchen, mit den Händen fuchtelnd, aber Arina wiederholte sehr bestimmt:

»Zu Euer Gnaden!« Ohne auf die Erlaubnis zu warten, begann sie überstürzt und entschlossen, mit wilden Blicken um sich schauend, zu reden:

»Was soll das werden? Domna ist ja noch ein Kind. Geht denn das? Sagen Sie doch dem Jossif Grigorjewitsch, daß er sie in Ruhe läßt! Sie kann ja noch heiraten. Die Leute laufen ihr nach, alle lachen über sie!«

»Was spricht sie, Kind? Was hast du damit zu tun? Ich verstehe gar nichts!« stammelte Tantchen.

»Ich weiß nichts«, flüsterte Jossif kaum hörbar und errötete.

Arina kam noch einen Schritt näher und begann von neuem:

»Die Warwara sagte ihr neulich: feile Dirne; das Mädel heulte bis zum Abend, und wer ist schuld?«

»Was kommst du zu mir mit jedem Unsinn? Muß ich mich denn um eure Sachen kümmern? Wende dich an den, der Schuld hat!«

»Ich wende mich ja auch an Sie, Jossif Grigorjewitsch, daß Sie sie in Ruhe lassen!«

Tantchen versetzte erregt und erstaunt:

»Du, mein Kind? Was muß ich hören? Die Frau ist betrunken.«

»Hab ich vielleicht bei Ihnen getrunken?« schrie Arina.

»Beruhigen Sie sich, ma tante, die Frau hat recht.«

»Was denn, du? Joseph? Mein Kind, laß mich dich küssen!«

Arina schrie nun aus vollem Halse:

»Nicht genug, daß sie mir den Mann genommen haben, jetzt bandeln sie auch mit der Schwester an! Und das nennt sich eine Herrschaft!«

»Was erzählt sie da? Natürlich ist sie betrunken, ich glaube, sie wird grob. Was für einen Mann? Wer hat ihn dir genommen?«

»Arina, mach, daß du rauskommst!« sagte Jossif.

»Was für einen Mann? Meinen Parmen. Ein Narr ist er, daß er sich für Geld mit so einer Kuhhaut abgibt!«

Tantchen sprang auf, setzte sich wieder hin, schwang die klirrende Klingel und schrie:

»Hinaus! Hinaus mit euch, mit dir und Parmen, laßt euch hier nicht mehr blicken!«

Als Arina noch einen Schritt näher kam, fiel Tantchen aufs Sofa, hob zum Schutz die nackten Arme und schrie:

»Sie wird mich noch schlagen! Mein Gott!«

Jossif packte Arina, die sich wehrte und weiter krakeelte, an den Schultern, stieß sie zur Tür hinaus und eilte zu Alexandra Matwejewna, die in einer nicht erheuchelten Ohnmacht lag.

Als sie wieder zu sich kam, zog sie die offenen Ärmel herunter und flüsterte mit süßer Stimme:

»Es ist also wahr, das mit dem Mädel?«

Jossif nickte bejahend. Die Dame setzte sich halb auf und fragte noch süßer:

»Wie war es das erstemal? Das mußt du mir erzählen. Warte, ich will Lisanka rufen.«

Sie hatte aber noch nicht Zeit gehabt, die Hand nach der Klingel auszustrecken, als Lisaweta selbst mit einem Haufen Kleider in den Händen und mehreren Schachteln unter den Armen ins Zimmer kam. Ohne ein Wort schmiß sie diese Sachen Tantchen vor die Füße, und die schwarzen, blauen und grauen Jacken aus Kattun, Wolle und Satin flogen als bunter Schwarm über den Boden. Ein blaues Satinleibchen fiel Alexandra Matwejewna auf die Knie. Lisaweta hatte die schwarze Schwesterntracht mit weißer Pelerine an. Tantchen flüsterte:

»Mein Gott, sie ist ja von Sinnen!«

Lisaweta Petrowna ergötzte sich eine Weile an diesem Effekt und sagte schließlich:

»Leben Sie wohl! Wünsche Ihnen viel Glück zu Ihrem neuen Galan. Ich will nichts Fremdes haben, da haben Sie Ihre Geschenke wieder; nackt bin ich gekommen, nackt will ich gehen.«

»Sie ist wirklich von Sinnen! Mein Kind, lauf ihr nach, sprich mit ihr!«

»Wohin läufst du denn wie ein Verrückter? Hast mich beinahe umgerannt!« sagte eine dicke Dame, mit der Jossif im Korridor zusammenstieß.

»Ach, Sie sind es, Anna Matwejewna?«

»Ja, ich. Auf dem Hof ist kein Mensch, im Vorzimmer kein Mensch, seid ihr in eurem Loch ausgestorben?«

»Nein, warum?«

»Ich wollte noch zur Abendmesse herkommen, habe die Pferde müde gehetzt. Werdet ihr eine Messe haben? Geht es meiner immerseligen Schwester gut?«

»Danke, es geht ihr gut.«

»Schläft sie? Malt sie sich an?«

Anna Matwejewna stieg als erster Gast mit schweren Schritten die Treppe hinauf und ging auf das ihr angewiesene Zimmer, um sich zu waschen. Auf dem Hofe stand der schneeverwehte Schlitten, um den sich vermummte Gestalten zu schaffen machten.


 << zurück weiter >>