Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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Dritter Teil

I

In der Fabrikgegend war es bedeutend stiller geworden, als die jungen Pardows und Sonja sich nach Petersburg begeben hatten, wohin auch Andrej Fonwisin abgereist war; auch Iwan Pawlowitsch Jegerew verließ die Gegend. Der Oktober beraubte die Bäume der letzten Blätter, und alles war wieder demutsvoll still und heiter. Tante Mascha wanderte allein durch die Zimmer und erfuhr aus den nicht allzu häufigen Briefen allerlei Neuigkeiten aus der Hauptstadt: daß die Erbschaft kein Märchen sei, daß die Banken und Gerichte wider jegliches Erwarten nicht die Absicht hätten, unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg zu legen, und daß Tante Anja hoffe, die ganze Angelegenheit noch vor Ostern zum Abschluß bringen zu können, daß alle gesund seien, daß Jekaterina Petrowna sich eine, nach Ansicht der Fabrikbewohnerin etwas zu teure, Wohnung in der Furschtatskaja-Straße gemietet habe, daß Viktor bei dem jungen Paar wohne und seiner Mutter durch sein Benehmen nach wie vor großen Kummer und Ärger mache. Sonja käme oft und mit Vergnügen zu Besuch. Marja Matwejewna versuchte auf Grund dieser Mitteilungen vergebens das zu ergründen, was sie am meisten interessierte – ob das in den Norden entflogene junge Paar glücklich war oder nicht.

Das junge Paar hatte sich in der Furschtatskaja tatsächlich auf etwas größerem Fuß eingerichtet, als es ihm seine jetzigen Verhältnisse erlaubten; das hatte seinen Grund in der weisen Voraussicht Jekaterina Petrownas, die nicht nur an den morgigen Tag dachte. Jossif Grigorjewitsch aber kümmerte sich nicht allzuviel darum, wenn man ihn nur in Ruhe ließ, ihm gestattete, mit seinen Freunden zusammenzukommen, durch die noch nicht eingerichteten Zimmer, wo offene Koffer und noch nicht ausgepackte Möbelstücke herumstanden, auf und ab zu gehen und seine Lieder zu singen. Sonja kam ebenso oft wie früher, sie war ebenso freundlich und geschäftig und trug die gleiche Pelerine, den gleichen Hut und in der Hand ihr Ridikül. Jekaterina Petrowna widmete sich ihrer Garderobe und konferierte täglich stundenlang mit der Schneiderin. Zum zwanzigstenmal wurde die Frage erörtert, wie die junge Frau Pardowa am passendsten zu kleiden sei. Auch an diesem Mittag standen sie vor dem Spiegel, die Schneiderin kauerte, den Mund voller Stecknadeln, ihr zu Füßen und ordnete irgendwelche Falten.

»Sie meinen also, Madame, daß wir ein Tailleurkostüm machen sollen? Es ist natürlich am zurückhaltendsten, kann aber die Figur allzu sehr unterstreichen.«

»Dann nehmen wir einfach eine englische Bluse mit Krawatte.«

»Ja, ob das aber zu Ihrer Figur paßt, Madame? Die Farbe sollte nicht lebhaft sein.«

»Gewiß, aber heute sind die blassen Töne nicht mehr mode, jetzt sind alle Farben möglich.«

Bei dieser Beschäftigung traf sie Sonja an, die sich im Hut auf den Stuhl neben der Tür setzte.

»Hast du noch immer damit zu tun?« fragte die Bucklige, auf den Haufen der Modejournale zeigend.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig. Und was treibst du? Immer beschäftigt?«

»Ja, hier bin ich nicht auf der Fabrik, wo ich genug Zeit zum Spazierengehen, zum Schlafen und Träumen hatte.«

»Und ich kann immer noch nicht mit der Wohnung und den Plünnen fertig werden. Machen Sie diese Falte tiefer«, wandte sie sich an das auf dem Boden kniende Mädchen. »Hast du Tante Nelli lange nicht gesehen?«

»Ich habe sie soeben getroffen, sie wollte dich besuchen.«

»Heute?«

»Ja, und zwar sehr bald; sie ist ganz in der Nähe: bei den Dmitrewskis.«

»Beeilen Sie sich, meine Liebe!«

»Sofort, Madame.«

Die von einer energischen Hand gezogene Klingel schrillte aber schon durch den ganzen Korridor.

»Sei so gut, Sonja, empfange die Tante, entschuldige mich bei ihr und unterhalte sie, bis ich mit der Anprobe fertig bin.«

»Gern!« erwiderte Sonja und ging einer korpulenten Dame mit grauen Locken entgegen, die sofort zu reden anfing:

»Ach, du bist hier, Sophie! Guten Tag, noch einmal! Und wo ist unsere Popentochter?«

»Sie läßt sich entschuldigen, sie hat noch einen Augenblick zu tun und kommt sofort heraus.«

»Weißt du, vor dem Besuch bei Adelaïda war ich in der Kirche und sah aus dem Fenster Gräfin Lisa mit wunderbaren Trabern vorbeifahren, die sie vor kurzem gekauft hat. Und ich komme immer nicht dazu, meiner Nastja Pferde zu verschaffen; Iwan Grigorjewitsch aber ist so eine Schlafmütze, er allein kann gar nichts erreichen. Diese sündhaften Gedanken lenkten mich vom Gottesdienst ab, plötzlich höre ich aber, wie der Diakon liest: ›Trachtet nach dem Reich Gottes, so wird euch solches alles zufallen.‹ Es war wie eine Prophezeiung. Ich trachte nach deinem Reich, Herr, und die Pferde werden mir zufallen.«

Sonja lächelte und fragte: »Worin liegt denn die Prophezeiung?«

»Warte, du wirst es gleich hören. Ich komme nach Hause und denke daran, daß mir heute etwas Unangenehmes bevorsteht. Endlich fällt es mir ein: eine große Wechselschuld ist heute fällig. Ich suche den Wechsel im ›Hilf mir, Herr‹ . . .«

»Warten Sie: was ist das für ein ›Hilf mir, Herr‹?«

»Ach, du weißt es ja nicht! Ich habe je eine Schachtel für die bezahlten und die nicht bezahlten Rechnungen, auf der einen steht: ›Hilf mir, Herr‹ und auf der andern: ›Ich danke dir, Herr‹. Vater Alexej hat mir diesen Rat gegeben. Es ist doch nett, nicht?«

»Ich weiß wirklich nicht . . .«

»Ich schaue also im ›Hilf mir, Herr‹ nach, der Wechsel liegt aber nicht da. Überall suche ich ihn und finde ihn schließlich im ›Ich danke dir, Herr‹. Ich hatte ganz vergessen, daß ich ihn schon vor einem halben Jahr, als ich den Wald verkaufte, bezahlt hatte. Ist es nicht wunderbar?« Und sie fügte ganz unvermittelt in verändertem Tonfall hinzu: »Hast du auch luttes?«.

»Ob ich was habe?«

»Luttes, Kämpfe. Wenn ich zu der Stelle komme, ›Dein Wille geschehe‹, so beginnt bei mir immer ein Kampf: ich will, daß mein Wille geschehe. Wo bleibt aber unsere Popentochter?«

Die Popentochter trat in diesem Augenblick ins Zimmer, Tante Nelli fiel über sie her und schwatzte bereits von anderen Dingen. Sonja stand auf und sagte: »Ich muß jetzt gehen, Katja, ich wünsche dir Erfolg. Wo steckt Joseph?«

»Bei sich oder bei Viktor. Willst du zu ihm?«

»Jetzt nicht. Ich esse bei euch zu Mittag, weißt du es noch?«

»Und ob! Also auf baldiges Wiedersehen!«

Die beiden Damen küßten sich zum Abschied. Als Sonja fort war, fragte Tante Nelli: »Nun, wie steht es? Haben Sie es sich nicht anders überlegt?«

»Ach nein, wieso denn! Im Gegenteil, ich lechze danach, aufgenommen zu werden.«

»Sie werden aufgenommen, wie es geschrieben steht: ›Wer da anklopfet, dem wird aufgetan.‹«

Als der Besuch fort war, schrieb Jekaterina Petrowna auf einen schon fertigen Brief ›Herrn Iwan Pawlowitsch Jegerew‹; und wanderte dann bis zum Essen durch die Zimmer, vor den noch nicht angebrachten, an die Wände gelehnten Spiegeln stehenbleibend und sich etwas überlegend.

Aus den inneren Räumen klang schwach Jossifs Gesang. Katja runzelte die Stirn, schloß die Tür ganz zu und ging weiter, die Hände auf dem Rücken.


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