Ludwig Huna
Die Kardinäle
Ludwig Huna

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Achtes Kapitel

Auf dem östlichen Hang des Monte Mario, wo sich soeben der Kardinal Giulio de Medici sein Landhaus nach den Zeichnungen Raffaels bauen ließ, lebte in einer von Efeu umsponnenen Hausruine, wo verwitterte Heiligenfresken an eine ehemalige Kapelle erinnerten, ein ehrwürdiger Sonderling, Fabio Calvo da Ravenna, der Kommentator des Hippokrates, zugleich der ehrliche Verteidiger des Nazareners, ein herrliches Gemisch aus Christen- und Heidentum, ein echtes Kind der brausenden, gärenden Zeit. Wie die Pythagoräer nährte er sich von Kräutern und Wurzeln. Das geringe Jahrgeld, das ihm Papst Leo, der ihm mehrfach verbunden war, gab, schenkte er geduldig hungernd den noch weit ärmeren Leuten in der Gegend. Er war schon steinalt, aber beweglichen Geistes, geführt von der Weisheit Gottes in jeglicher Form.

Man holte sich oft Rat bei ihm oder erquickte sich an seinen Lebenslehren. Sogar die weisesten Gelehrten wie Sadoleto und Bembo machten ab und zu dem Efeuhaus einen Besuch, und Raffael verehrte den Bergalten wie einen Patriarchen der Weisheit, und man sagte, daß er manche Bildidee dem Rate und dem Wissen Fabios verdanke.

An diesem Frühlingsabend kauerte nun ein liebliches Geschöpf zu seinen Füßen, das schon 106 oft den steinigen Weg zu seiner Eremitage gewandelt war, um das Herz von irgend einer Last zu befreien. Lucia Impaggi hatte schon als Kind mit seinem weißen Bart gespielt, wenn Fabio Calvo mit Sadoleto im Zimmer der Mutter den Lautenklängen lauschte, die die schöne Kurtisane ihrem Instrument so wundersam zu entlocken wußte. Damals hatte er noch keine Einsiedlergedanken gehegt, er stand noch lebensgerüstet da, weltverbunden und im Geschehen der Zeit fest verwurzelt.

Fabio Calvo hatte viel erlebt. Er hatte den Franzoseneinfall unter dem achten Karl über sich ergehen lassen müssen, er war dabei, wie dieser König in Neapel das Fläschchen mit dem Blut des heiligen Gennaro berührt hatte, wobei das getrocknete Blut zu sieden begann, weshalb man ihm als einem gerechten König zujubelte. Er mußte die Verfolgung durch Papst Alexander erdulden, weil er seine warnende Stimme gegen das unheilige Papstscheusal erhoben hatte. Er mußte nach Venedig fliehen und durfte erst unter Julius II. zurückkehren. Er sah Savonarola auf dem Scheiterhaufen enden und hörte die Liebesbeichte der Lukrezia Borgia in Ferrara. Unter dem kriegerischen Papst wurde sein eigenes Herz stahlhart. Er sah Julius in Perugia einziehen und dort ein Strafgericht halten. Er entging mit knapper Not dem Massenmorden, das der Neffe 107 des Papstes Francesco Maria della Rovere in Brisinghella angerichtet hatte. Er sah den Soldatenpapst mit dem Schwert in der Hand an der Spitze der Belagerer von Mirandola die Bresche erstürmen. Er war dabei, als das empörte Volk von Bologna die Bildsäule Julius' von Michelangelo in Stücke schlug, da ihnen der Papst ihren geliebten Tyrannen Bentivoglio verjagt hatte. Er hatte mit ansehen müssen, wie der Herzog von Urbino in Ravenna seinen Feind, den Kardinal von Pavia Alidosio auf offener Straße erdolchte. Er sah, wie der jetzige Papst Leo noch als Kardinal nach der Schlacht von Ravenna von den Franzosen gefangengenommen und dem feindlichen Kardinal Sanseverino ausgeliefert worden war. Er hatte Leo aus dieser Gefangenschaft zur Flucht verholfen, nachdem er ihn schon einmal vor vielen Jahren, als er aus Florenz als Franziskaner verkleidet fliehen mußte, nächtlich heimliche Pfade in den Apennin gewiesen hatte. Und so war seine Erinnerung voll von blutschweren Bildern, und sie trieb ihn endlich heraus aus der toll gewordenen Menschheit und hinein in die Besinnlichkeit des durch Erfahrung seelisch reif Gewordenen, hinein in die Gottessehnsucht, in die heilige Erkenntnis ohne kirchliche Belastung, im Weben der Naturkräfte die Hilfe für seine tastende Gottsuche findend.

Und nun lag heute im weichen Gras ein schwach 108 gewordenes Kind reuzerknirscht zu seinen Füßen und bat um das Absolvo te in unkirchlicher Form, einfach hingeweht zu ihm durch den Sturm im Herzen, der es gestern so arg zerzaust hatte.

Die Sonne ließ ihrer Strahlenkraft vollen Lauf, sie umgoldete mit ihrer Pracht das ganze Rom zu Füßen des Berges, die Kuppeln blinkten im Friedeschein, vollgesogen von Duft und Glanz lag die nahe Berglandschaft da, und der Tiber blendete aus der Tiefe herauf.

Das gestrige, wie im Unterbewußtsein erlebte Schauerbild hatte Lucias Herz zerrissen. Als sie todmüde, von dem angsterfüllten Diener begleitet, auf dem Gianicolo angekommen war und sich in das Bett geworfen hatte, begann ihr Gewissen zu hämmern, bis sie in Traumqualen verfiel, die ihr das ganze Erleben noch einmal vorgaukelten, so daß sie laut aufschrie. Ghitta mußte die Wimmernde beruhigen. Die Camerista hatte gleich geahnt, daß da etwas nicht richtig war. Nach drei kurzen Schlafstunden rang sich Lucia aus den Polstern und ihr hilfesuchender Gedanke verfiel sofort auf den wunderlichen Anachoreten auf dem Monte Mario, der die Tochter seiner einstigen Freundin wie sein eigen Kind liebte.

Ohne einen Namen zu nennen, gestand sie, daß sie nächstens an einem Hexentreiben teilgenommen habe, und auf seine erstaunten, von 109 einem leisen Lächeln begleiteten Fragen zeiht sie sich der furchtbarsten Dinge.

Fabio Calvo, der gar viel in Chroniken und Diarien gelesen und dem die seelischen Geschicke der Menschen ein offenes Buch waren, wußte gleich, wie es stand. Sie war dem Hexenwahn zum Opfer gefallen und wenn sie mit ihrer Beichte in die unrichtigen Hände gekommen wäre, die sich freilich als die richtigen ausgegeben hätten, dann hätte es ihr übel bekommen können. Das heilige Tribunal, geführt von den schrecklichsten Fanatikern im Kirchengeist, hätte die Verführte ebenso erbarmungslos gefoltert und dem weltlichen Richter preisgegeben wie die Verführerin. Es mußte doch ein guter Engel schützend seine Hände über sie halten, daß sie nun den Weg zu ihm gefunden hatte.

»Vor allem wollen wir, Damigella Lucia, deine Seele in Ordnung bringen, dein Gewissen aus der Zwangsnot der Sünde befreien. Komm doch zu dir, Engelskind, deine Flügel sind wohl zerschunden vom schweren Flug in die Dunkelheit, wo du dich an harte Steine des Wahns stießest, aber sie sind nicht gebrochen. Balsam senke ich in deine Seele, heile sie mit der unversiegbaren Gnade des Herrn von der vermeintlichen Sünde. Du hast nicht gesündigt, sondern bist das Opfer fremder Sünde geworden. Die Schuld wird einst dieses Weib, dessen Namen du mir nicht zu 110 nennen brauchst, zu einer Zeit, die Gott auswählen wird, niederwerfen, und für sie wird es kein Erheben aus dem Staub mehr geben. Denn der Sünde schwerstes Gewicht ist die Bewußtheit der Sünde. Weise sie ruhig von nun an von deiner Schwelle, du wirst fortan die Kraft dazu haben.« Er legte förmlich durch seinen durchdringenden Blick ihre Seele in seinen gütigen Bann. »Die Frommheit spricht sich nie so laut in aller Leute Mund herum wie die Verworfenheit. Und so wird auf dieses Hexenweib bald mit Fingern gezeigt werden, und sie wird sich zum Überfluß selbst verraten.«

Jedes Wort löste etwas von ihrer schrecklichen Gewissensangst ab und sie fühlte bald ihr Herz freier schlagen. Ihre Augen bekamen wieder ihren frühern natürlichen Glanz, und die Lossprechung von der Schuld erklang ihr wie ein Ruf aus Gotteshöhen. »So meint Ihr, es wäre alles nur ein Gebilde des Wahns gewesen?«

Fabio nickte. »Die alte Teufelsmetze hatte nur die Mittel in der Hand, dich gefügig zu machen und den Wahn in Szene zu setzen. Und zwar teils durch böse Einflüsterungen, teils durch natürliche Kräfte, die sie als Sukkus aus den Körpern der Pflanzenwelt hervorzuholen weiß. Es gibt da berauschende Gifte, andere, die nur betäuben, endlich solche, die heilen. Aber auch Übergänge von einem zum andern findest du. 111 Auch für dein arg mitgenommenes Gemüt werde ich die ordnenden Kräfte zu finden wissen.« Er zeigte auf ein Regal, wo in Schächtelchen unzählige Kräuter verwahrt waren, jedes sorglich beschrieben. »Siehst du, ich wandle giftige Kräuter durch die Dosierung zum Arcanum. Aus Bäumen, Sträuchern, Blumen, Gräsern und Wurzeln, aus des Minerals festem Gefüge lockere ich durch langjähriges Probieren die Kräfte, die darin gefangen sind. Es ist nichts Wertloses in der Natur und selbst der Staub übt Wirkung. Nur mißbrauche der Mensch nimmer das Gegebene. Wer sich mit Milch volltrinkt, leidet an dem Mißbrauch des edelsten Getränks. Und so mißbrauchte auch dieses Unweib die edelsten Kräfte und unterstützte das fluchwürdige Treiben durch den bösen Blick, kramte in der Vorratskammer ihrer Teufelei herum, schwätzte dir etwas von der Hierarchie böser Geister vor, von der Vereinigung mit dem Satan selbst und wühlte deine Phantasie auf, weil du alles glaubtest, was ihre Bosheit ersann. Du flatterst in ihrem Netz wie ein gefangnes Vöglein hin und her. Aber nun bist du durch meine Aufklärung entsündigt und dein Herz wird dir wieder zum Freigarten, in dem sich deine Seele ergeht, die rein geblieben, da sie unbewußt sündigte.«

»O mein Vater, laß mich dich so nennen – wie milde fließt dein Trost in meine Brust, die 112 Schlacken lösen sich, mein Blut strömt unbeschwert durch die Adern.« Sie schmiegt sich wie ein Kätzchen an seine Knie und küßt ehrfürchtig sein Kleid.

»Sieh, wie schön nun die Landschaft um dich leuchtet, ja, das Licht leuchtet in die Finsternis, aber deine Seele hat das Licht begriffen. Sieh um dich! Da unten liegt das schöne Rom auf seinen sieben Hügeln, beschirmt von Gott und Göttern, drüben leuchten die Kastelle, die Villen und Städte der Campagna, und dort im Hintergrund schimmert Ostia herüber. Alles dies gehört deinen, meinen Augen. Mögen noch so böse Menschen zwischen diesen Mauern wohnen, sie vermögen die Zukunft der Stadt nicht nach ihrem Willen zu lenken. Die Menschen vergehen, die Menschheit bleibt, und mit ihr Rom, die jetzt unheilige Stadt, deren Antlitz Gott einmal verändern wird nach seinem heiligen Willen, und die Menschen werden selig sein, ohne Papst, ohne Kirche, ohne Zeremonie, aber mit Gott lebendig im Herzen.«

»O ehrwürdiger Vater Fabio,« erschrickt Lucia. »Was redet Ihr da? Ohne Papst, ohne Kirche? Ja gibt es dann überhaupt noch Frommheit und Demut aus und in Gott?«

»Bemerkst du denn nicht, Kind, daß die Diener Gottes und ihre sogenannte Kirche diese selbst zugrunde richten und durch ihre Verderbtheit die Frommheit der andern in den Kot zerren? 113 Christi reine Lehre ist durch päpstliche Dekretalien und menschliche Satzungen in den Schlamm gezogen worden. Die Menschen loben die Sünder und verdammen die Wahrheitssucher. Glaube mir, ich sitze auf der Bank der Gottlosen, aber sie wollen nichts von mir wissen, denn ich habe meine Stimme dagegen erhoben, daß sie ihre Fittiche über ihre eigenen Schandtaten breiten. Ich wollte eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Dazu braucht man Freiheit des Gedankens, den aber knechten sie. Die Schwächlichen, Gefügigen, die Lauen heben sie auf den Thron ihrer sogenannten Gerechtigkeit. Es sind teuflische Rotten, die wider die wahren Fundamente der Religion Sturm laufen. Sieh dir diese üppig schwelgenden Kardinäle an. Lebt ein einziger unter ihnen in der Nachfolge Christi? Sie bespiegeln sich im blendenden Bilderspiegel des Papsthofes, lassen sich von dem geistigen Wein dieser Wirtschaft umnebeln.«

Lucia mußte ja dazu sagen. Sie dachte an die Nachstellungen des liebesüchtigen Petrucci, an die vielen gleich ihm im Reichtum eines Hofstaats lebenden Kardinäle und Prälaten, an ihre Verschwendungssucht, an ihren Hochmut, ihre heidnische Entartung, Prunksucht und Weltlichkeit, an alle ihre stadtbekannten Untugenden und Laster, die dem Geiste des wahren Christentums Hohn sprachen, und sie sah mit erschreckten 114 Augen vor sich hin ins blühende Gras und konnte aus ihrer Hilflosigkeit keinen Ausweg finden. Endlich floß auch da ihr Herz über und sie gestand dem ehrwürdigen Greis von den Verfolgungen des Kardinals. Nur verschwieg sie den Namen.

»Glaubst du an die seelische Geborgenheit in Gott? Dann habe keine Angst. Nimmer wird dich die Vorsehung fallen lassen. Dieser wilde Jäger, der, wie du sagst, mit seiner dich bedräuenden Liebe hinter dir her ist, wird sich selbst die Falle legen, aus der ihn weder Gott noch Teufel retten werden. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher.«

Lucia erhob sich. »Seid Ihr nicht unbetreut, armer reicher Mann? Kann ich Euch nicht irgendwie helfen?«

»Die Armut ist mein Reichtum, die Genügsamkeit mein Schutzengel. Um meine Klause blüht die Natur in tausend Wundern, in deren Schönheit sich mein Geist versenkt. Alles um mich herum wird zum Garten, der ja mir gehört, da meine Augen sich daran erquicken dürfen. Und selbst die Tiere kommen zu mir, als wäre ich der Heilige von Assisi, sie reden zu mir durch ihre sanften Augen und öffnen mir ihr Herz, das nur dem Naturtrieb folgt und keine bösen Gedanken kennt. Selbst die verachtete Schlange faucht mich nicht an, sondern bleibt zutraulich vor mir 115 geringelt liegen und äugt mich fragend an: tust du mir Böses, Eremit? So wird mir die ganze Natur zum Altar, an dem ich Gott in Gedanken opfere, halb Christ, halb Heide, wenn du willst. Gott gehört beiden, sie können sich von ihm nicht loslösen. Und auf die Form kommt es Gott nicht an, die haben sich nur die Menschen ausgedacht und daraus nur Schaden gewonnen. Denn die Form tötet den Geist. Und zu mir kommen die Menschen und wandeln sich, werfen das Böse ab und ziehen das Gute an. Ich lehre sie, durch die Kraft des Göttlichen in ihnen ihr eigener freier Bildner und Überwinder zu werden. So hat es Pico de Mirandola gesagt. Und er hat recht. Und so wirst auch du wieder gewandelt werden, du süße colomba, wirst aufblühen mitten im Sumpf seiner Not und wirst aus den Schlingen des Teufels befreit werden und das Antlitz Gottes schauen, leiderlöst, Himmel und Erde zugleich in dir tragend. Sieh, wenn ich dich so betrachte – du gleichst einer Jugendfreundschaft von mir. Als ich als Jüngling in Viterbo war, mußte ich in der Fronleichnamsprozession den Erzengel Michael darstellen im Kampf mit den Dämonen. Und meine Freundin, die dir auf ein Haar glich, schwebte als Gottesmutter nach dem Hochamt auf dem Domplatz ins Paradies empor, das auf einem Gerüst durch einen trefflichen Baumeister errichtet ward. Immer wenn ich dich sehe, taucht 116 meine Jugend aus dem Meer meiner Erinnerungen auf. Geh nun ruhig heim, Lucia. Fürchte dich nicht. Was wir fürchten, ziehen wir gedanklich an uns und es wird Ereignis. Aber auch was wir lieben, ziehen wir an uns und es tritt segnend in unser Leben. Kannst du nun zweifeln, ob du zwischen Furcht und Liebe wählen sollst?«

»So bin ich meinem Gott zurückgegeben?« erstrahlen Lucias Augen im Hoffnungsschein.

»Gott trennt sich nicht von dir, wenn du dich nicht von ihm trennst. Du bist ein Teil seiner Kindschaft, alles was atmet und ist, ist sein, die ganze Welt von ihm aus Liebe geschaffen. Wie könntest du aus dieser Liebe herausfallen?«

Seine Herzenswärme beflügelte ihren Willen zur Liebe alles Guten. Sie schritt von ihm weg, einer Blume gleich, die nach langer Trockenheit vom Regen erfrischt wird. Noch einmal sah sie sich um. Fabio Calvo stand wie eine Erzstatue da, umrankt vom Efeugrün. Die Sonne tauchte das silberbärtige Patriarchengesicht in ihr hehres Licht.

 


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