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XI.

Tagebuchblätter des Thomas Truck

Diese Blätter schreibe ich für dich, Bettina, in der Morgenluft Einsamkeit.

In mir ist Ruhe und Frieden. Ich bin ein Wanderer, der für kurze Zeit rastet. Ich bin ein Wanderer, der den Weg zurückschaut, den er gegangen ist – den langen Weg! Ich fühle keine Müdigkeit. Nur zuweilen durchdringt mich ein fröhliches Todesahnen, denn ich fürchte den Tod nicht, obwohl ich das Leben umfasse, in dessen selige Tiefen ich blicken durfte. In jedem Falle sind meine Aufzeichnungen im Leben und im Tode für dich bestimmt, für dich, Bettina!

In der Stille und Andacht meiner Einsamkeit bin ich bei dir! Ich sehe den Frühling, ich blicke in die Sonne – ich sehe dich! Über mich kommt tiefe Sammlung! Ich fühle mich frei.

Ich lese in den uralten Büchern, die die uralten, ewigen Wahrheiten bergen. In mir ist Frieden. Und ich lese diejenigen, die die Wahrheiten zu deuten wußten, die auch meine Wahrheit ist. Ist es nicht ein Trost, daß gerade in unseren zerklüfteten Tagen reiner denn je das Bild des Heilands, befreit von dunklen Hüllen, uns entgegentritt! Von allen Seiten kommen die Seher ... sie sehen den Frühling. Sie stellen alle die gleiche Frage: Was lehrte Jesus? – – –

Vor mir liegt ein gedrucktes Blatt.

Eine Frau ohne Makel hat in wenigen Sätzen das Leben Jesu und seine Lehre zu erzählen versucht. Lies, was sie sagt:

»Ein junger Mensch aus Bethlehem, von schwachem Körper, aber gewaltigem Geiste, versammelt einige Proletarier um sich, zu denen er mild und einfach von ihrem großen Elend spricht. Diese fassen zu ihm heftige Freundschaft und verlassen alles, um ihm zu folgen, wie er seine Wanderung in Palästina antritt. Sie sind ohne Arbeit, wie unsere Obdachlosen; sie veranstalten Manifestationen auf den Gräbern, wie wir es auch tun; sie halten Versammlungen unter freiem Himmel, auf allen geeigneten Plätzen, die sie vorfinden.

Sie waren ihrer zwölf, sie sind hundert – morgen werden es tausend sein. Wie der Schneeball, der zur Lawine wird, wächst die Schar bei ihrem Vorwärtsschreiten an. Alles, was das Land an verlorenen Existenzen zählt, folgt diesem jungen Mann, der die Gleichheit predigt.

Da man leben muß, kommt es vor, daß geplündert wird, man nimmt das Notwendige, wo man es findet, und die Bürger schließen vor Schrecken ihre Häuser vor diesem Heer, das aus den Ausgestoßenen der Menschheit zusammengesetzt ist.

Die Provinz ist in Aufruhr, die Regierung kommt in Bewegung. Jesus wird wegen Aufforderung zum Raub und wegen Aufreizung zum Klassenhaß verhaftet.

Er kommt zur selben Zeit vor Gericht, wie ein gewöhnlicher Dieb; der Dieb wird begnadigt. Darauf wendet sich Barrabas mit Abscheu von seinem Mitangeklagten ab und sagt: Führt diesen Übeltäter hinweg von hier. Jesus wird hingerichtet; die Zuschauer lachen, höhnen, speien ihn an; sein Todeskampf ist ein erfreulicher Augenblick für betrunkene Soldaten; er haucht seinen letzten Seufzer zwischen zwei Schachern am schmachvollen Galgen, an dessen Fuß eine alte Arbeiterfrau, die seine Mutter ist, und ein armes Mädchen, das ihn liebte, weinen ...

Dieser Übeltäter kehrt wieder ins Leben zurück – und seit neunzehn Jahrhunderten herrscht er jetzt auf Erden.

Die ganze Kraft dieser Religion ist aus der Schande der Hinrichtung hervorgegangen, aus der Niedrigkeit der Lage des Hingerichteten, aus seiner innigen Berührung mit den Armen, aus seiner Solidarität mit den Schuldigen. Er war von den Pharisäern gerichtet und von den Aposteln verleugnet worden; und er hat sein Volk von Unwissenden und Verworfenen so sehr geliebt, daß er sein Glück darin fand, alle Verleumdungen auf sich zu nehmen und zu sterben wie der letzte unter den Bettlern.« – – –

Der innigste Gedanke dieser Sätze ist der: Christus lebte seine Erkenntnis, wie Buddha sie lebte. Beide stellen für uns die großen Lebensführungen dar und deshalb die Erlösung, die Erfüllung. Lebensführung bedeutet nichts anderes als Erkenntnis und Leben in Einklang zu bringen.

Der eine verläßt als Fürstensohn seinen Palast, sein Weib, sein Kind, seinen Vater, und tauscht dafür Armut, Elend und Seligkeit ein. Als ein Bettelmönch zieht er durch die Wüste und die Wälder.

Der andere, eines armen, jüdischen Zimmermannes Sohn, hält die Treue bis zur Todesstunde. Mit seinem schwachen Körper deckt er die Schwachen. Mit seinem Geiste tritt er den Mächtigen entgegen und kündet ohne Furcht sein Bekenntnis.

Und da gibt es Leute, die bei solcher Stärke von Sklavenmoral reden!

Welches ist der tiefe Unterschied zwischen dem Buddha und dem Christus? Beide empfangen den Zusammenhang von Ich und All. Aber wenn Christus das Leben lehrt, lehrte Buddha die Flucht aus dem Leben.

Das Ich des Menschen ist ein Ich, das in den anderen Leben vom eigenen Leben sieht; aber nicht, um wie die Inder in dieser Gemeinschaft die Persönlichkeit zu verlieren, sondern sie zu erhalten und zu den Höhen zu führen.

Jeder einzelne ist geistiges Bewußtsein. Was den Menschen zum Menschen macht, ist erst sein Verschmelzen mit der Allheit.

Von diesem Gedanken muß man ausgehen, will man die Lehre Christi verstehen. – – –

Christus' Lehre ist eine Lehre des All-Ichs, des Lebens und des Lichtes.

Er weiß das Urwesen der Welt, den Vater, eines mit sich. »Ich und der Vater sind eins«, sagt er.

»Ich bin des Menschen Sohn«, heißt nichts anderes, als ich bin der Mensch. Und wenn Christus sagt: »Der Vater ist in mir, und ich bin in ihm« und an einer anderen Stelle: »Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren«, so drückt er damit nur den großen Einheitsgedanken, das Verwobensein des Ichs mit dem All aus.

Und im Zusammenhang damit begreifen wir die Worte: »Was ihr dem Geringsten unter euren Brüdern getan, das habt ihr mir getan.« Darum kann der Heiland auch nicht richten, gegen niemand den Stein erheben, nicht als Klageanwalt vor den Vater hintreten; denn wie er sich mit dem Vater eines fühlt, so auch mit dem Edelsten und Schuldbeladensten; auch in diesem schlummert der Gottmensch, das ewige Licht, mögen die Quellen seines Handelns noch so trübe sein. Auch auf ihn erstreckt sich sein neues Gebot: »Liebet untereinander, weil ich euch geliebt habe, auf daß ihr einander liebt.«

Und wenn er neben diese höchste Forderung werktätiger gegenseitiger Liebe die der Wahrheit stellt, so ergibt sich daraus, daß für ihn die Liebe und die Wahrheit zum Ausschöpfen des Lebens führen, zum Bewußtsein des Ichs und Alls, die eines sind.

Solche Erkenntnis spiegelt dann sein ganzes Leben wider. Er ist der reinste Träger dieser Liebe und dieser Wahrheit bis in den Tod hinein. Alle Schuld und alle Sünde der Welt nimmt er auf sich. Er gibt das höchste Beispiel dessen, wozu ein Mensch fähig ist.

Er wahrt die Treue gegen sich selbst. Er hält an der Wahrheit furchtlos fest und nimmt den Tod auf sich. Er stirbt, damit die Lebenden durch ihn zur Erkenntnis ihres Gottesbewußtseins, ihres Menschentums gelangen. Sein Leben soll für sie zur Auferstehung werden.

Und nun fassen wir sein tiefsinniges Wort: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich.«

Wahrheit und Leben sind ihm eins, wie er und Gott eins ist. Anders ausgedrückt: Ihr werdet den großen Identitätsgedanken erst fassen, begreifen, wenn ihr den Weg geht, den ich gegangen bin.

Das ist die Lehre vom höchsten Leben, vom Geiste der Wahrheit, die sich an keinen Jenseitswahn knüpft.

Sein Wort: »Ich werde bei euch sein bis ans Ende der Welt«, ich, das göttliche Bewußtsein in euch, ich, der ich euch den Menschen gezeigt, ist ein Ruf des Lebens.

Ich lehrte euch den Gottmenschen, ich lehrte euch den Auferstandenen, den ihr in euch, nicht im Grabe suchen sollt.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben.« Lasset die Toten ihre Toten begraben, Gott ist ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten. Nehmt teil an meinem Reichtum, den ich für euch erworben habe.

»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.«

»Ihr seid das Licht der Welt.«

So ist Christus ein Künder des Lebens und des Lichts. So spricht er von dem »Lebenswasser«, von der Quelle, die ins ewige Leben springt. Er nimmt den Tod auf sich, aber er verkündet das Leben. Aus dem tiefsten Leide wächst die Blume der Seligkeit empor.

So kommt er zuerst als Fremder, als Unverstandener zu den Menschen, dann als milder Gärtner, der die armen Pflänzchen begießt. Dann als heilender Arzt, der die Blinden sehend und erkennend macht. Dann als der fromme Hirte, der diejenigen, die sich vom Wege verloren, zur Heimstätte ihres Geistes zurückführt, zum Bewußtsein ihrer eigenen, unendlichen, alle Bergesgipfel überragenden Höhe – ihres allumfassenden Lebens.

Wenn Christus die Auferstehung kündet, so kündet er seinen unverbrüchlichen Glauben an das Ewig-Gute, Ewig-Sich-Erneuernde im Menschen. Das Wort: »Zu uns komme dein Reich« ist ein Gebet, von dessen Erfüllung durch den Menschen Christus durchdrungen ist trotz Zöllnern, Sündern, Schriftgelehrten und Pharisäern. Wie anders klingen uns jetzt die berühmten Worte an Nikodemus in den Ohren: »Was vom Fleische geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geiste geboren wird, das ist Geist. Laß dich's nicht wundern, daß ich gesagt habe: Ihr müßt von neuem geboren werden.«

Keine metaphysischen Hintergedanken und verzwickte Grübeleien legte er in diese Worte, denn an der nämlichen Stelle sagt er zu dem Frager, der ein Pharisäer und Oberster unter den Juden war: »Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Also ein Jeglicher, der aus dem Geiste geboren ist.«

So zu lesen im Evangelium Johannis Kap. 3, Vers 8.

Und als Nikodemus ihn weiter mit Fragen quält, da antwortet Christus ernst und bestimmt: »Ich sage dir, wir werden, das wir wissen, zeugen, das wir gesehen haben; und ihr nehmet unser Zeugnis nicht an.«

Auf das Leben, auf das Sehen, auf das Schauen weist Christus hin. Das Leben will er erklären, nicht grübeln, was hinter dem Leben liegt. Und im Gleichnis fährt er fort: »Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«

Was sagt hier der Christus anders als: Ihr müßt Euch an ein irdisches Dasein halten, hier schauen, sehen, wissen. Des Menschen Sohn, die Menschheit – muß die Höhen und Gipfel erklimmen, um zur Reinheit, die in ihm ist, sich durchzuringen.

»Seht um euch, seht in euch, aber fragt nicht nach dem Woher und Wohin.« Sich den Verirrten, muß der Mensch wiederfinden, um des Lebens in seinem höchsten Inhalte teilhaftig zu werden.

Versteht ihr nun das Wort:

»Die Stunde kommt und ist schon jetzt, wo ihr nicht mehr in Tempeln und auf Bergen den Vater verehren werdet, sondern wo die wahren Verehrer den Vater mit dem Geiste und die Wahrheit verehren.«

Und wie die Sonne aus dem Meere emportaucht, so leuchtet aus unergründlicher Tiefe zu euch der letzte Sinn der Seligpreisungen.

»Selig sind die Bettler um Geist, denn ihnen in sich selbst gehört die Macht des Alls.«

So lautet nämlich in der wahren Übertragung der Spruch, nicht, wie er uns viele Jahrhunderte im Ohre gewesen: »Selig sind die Geistig-Armen, denn ihrer ist das Himmelreich.«

Werdet Bettler um Geist!

»Selig sind die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, denn sie werden in sich gesättigt sein.«

»Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden in sich selbst Erbarmen finden.«

»Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott in sich selbst schauen.«

Was wollen diese Seligpreisungen anders sagen, als daß der edle Mensch in sich selbst, im Erwachen seines Ich-Bewußtseins, seines All-Ichs seinen Lohn findet, nicht von außen her, nicht im Jenseitswahn.

Das ist der Ursinn der Evangelien, wie ihn treue Männer aus dem Kern herausgeschält haben. Haltet euch an die reinen Worte Christi.

Im Vergleich zu ihm waren Paulus, der Teppichwirker, und Petrus, der Fischer, Irrende. Haltet an Christus fest! Und alle Gegensätze heben sich auf.

Das Eine ist das Viele; das Viele ist das Eine. Haltet euch an die Summe eurer Erfahrungen, eures Schauens, eures Sehens. Denn ihr seid göttlich!

Dieses sei eure letzte und höchste Erkenntnis! – – –

Ich lese in den Evangelien die Stelle, wo Christus von den Kindern spricht:

»Was den Weisen verborgen ist, das ist den Kindern offenbart.«

Und das Wort Christi zu den Jüngern, als sie die Kindlein anfuhren, die man zu ihm brachte, auf daß er sie segnete und für sie betete:

»Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das All.«

Und nach diesen Worten legte er die Hände auf sie, segnete sie und zog von dannen.

Selig und reinen Herzens sind die Kinder, die von den Leidenschaften unberührt, klar und empfänglich gestimmt sind. Es muß der wissende Mensch den Weg zur Reinheit des Kindes wiederfinden, damit er eines mit dem All, mit dem Vater wird.

Das ist einer der innersten Gedanken Christi, daß die Reinheit des Menschen im Kinde immer wieder seine Auferstehung feiert. Das ist die große Wiedergeburt, der geheimnisvolle Erneuerungs- und Auferstehungsprozeß, daß die Kinder rein, gut und einfältig sind, auch die Kinder derer, die mit Schuld beladen sind.

Und so antwortet Christus den Jüngern auf die Frage: »Wo ist doch der Größte im All?« indem er ein Kind zu sich ruft und es mitten unter sie stellt:

»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht die Herrschaft des Alls antreten.« – – –

Alles Dogmatische ist ein Hohn auf den Menschen. Mag es sich äußern im Kirchlichen (Religion ist heute nur noch Kirche), im Staatlichen (kein Dogma wurde lähmender als das des Staates), oder in Wissenschaft und Kunst. Auch ich war ein verträumter Dogmatiker, wenn ich in tönenden Worten dem Volke die Freiheit predigte. Niemandem kann man die Freiheit aufreden; das Gefühl für sie muß in jedem einzelnen wachsen und lebendig werden. Erst durch seine Lebensführung wird man innerlich frei. Ein Ahnen davon ist in der Brust des Verstocktesten. Denn noch der primitivste Mensch ist in seinen Instinkten ein Weiser – wie überhaupt die Weisheit nicht nur eine Sache der Philosophie ist. Jeder Mensch hat Philosophie in sich, oder richtiger formuliert, die Philosophie. Er hat in sich die tiefsten Erkenntnisse, das höchste Verantwortlichkeitsgefühl und den treffsicheren Blick für die Probleme des Daseins. Aber dieses gehört zu den Tragiken, daß er den Zusammenhang mit sich selbst verliert und hilflos schnappt, wie ein ans Land geworfener Wasserbewohner. Die Philosophen, die kaltblütig Forderungen stellen, sind Menschen ohne Güte und Begreifen. Die großen Führer und Lehrer der Menschheit haben nur dadurch überzeugt und die Seelen sich willfährig gemacht, daß sie leben und Lehre in Einklang brachten. Sie wirkten durch ihre Beispiele, durch die großartige Unerschrockenheit, mit der sie alles Leid und alle Schuld in unsagbarem Verstehen auf sich luden. Mit einem Worte: Sie stellten Lebensführungen dar. Uns, den Vertretern eines edlen Mittelgutes, bleibt nichts anderes, als uns zu bescheiden – in der Einsamkeit, fern von dem Lärm der Gassen, unserem Wesentlichen zu leben und durch ein leises und persönliches Wirken, oft nur durch ein zages Berühren unserer Hände oder durch einen stummen, ruhigen Blick denen Linderung zu geben, die zerbrochen und mühselig unseren Weg kreuzen und aus tausend Wunden bluten. Vermögen wir durch solche stille Arbeit noch einen Funken von Lebensfreudigkeit aus ihnen herauszuschlagen, ihnen den Glauben an ein ewiges Sicherneuern wiederzugeben, sie für eine ferne Botschaft, die da kommen muß – empfänglich zu stimmen – so hat unser Leben einen Zweck gehabt.

»Wir ... wir sparen auf die Zeit – und den Einen, der die Erfüllung bringt. Je stärker wir an den Frühling – das Licht – und die Freude glauben – je näher sind wir dieser Erfüllung.

Wer der Eine sein wird – dieses ist eine müßige Frage! Vielleicht aber liegt es nicht außerhalb der Möglichkeitsgrenze, daß wiederum der die Erkenntnis zu uns trägt, der alle Macht und Pracht in sich vereinigt, eine Krone auf seinem Haupte trägt, und leichten Herzens dieses alles von sich wirft als etwas, das entwertet ist, seinen Glanz und seine Farbe eingebüßt hat.

Solch eines Mannes Stimme würde das entmutigte Volk am ehesten hören. Nur das Unermeßliche, das Übermenschliche, das über alle Begriffe und Vorstellungen Hinausragende könnte es in seinem Gram aufrichten. Ich spiele mit einem Gedanken, der töricht ist. Es sei ein Fürst – es sei ein Zimmermannssohn! Denn wo ist der Unterschied zwischen einem Fürsten und einem Zimmermannssohn? – –

Aus der Reinheit meiner Kindheit erscheint mein ganzes späteres Leben gerechtfertigt. Ich empfinde, daß mein ganzes Handeln niemals bestimmt war durch persönliche Verbitterung. Ich bin nicht aus Kränkungen, die ich am eigenen Leibe erfahren, durch persönliches Mißgeschick ein Kämpfer für das freiheitliche Denken geworden: sondern aus innerer Notwendigkeit. Wie ich zur Erhaltung meines Daseins atmen muß, so muß ich kämpfen. Die ganze Geistesrichtung eines Menschen liegt angedeutet in seiner Kindheit. Ich lehnte mich als Knabe gegen Zwang und Autorität auf, weil ich bei denen, die mich erzogen und leiteten, bei meinem Vater und meinen Lehrern, die Rechtfertigung für ihr Handeln nicht finden konnte. Ich wartete auf ihre Liebe, ihr Verstehen, und sie standen mir als strenge Herren und Richter gegenüber; als drohende Büttel, die auf ihre Gewalt und überlegene Stärke pochten.

Da erkannte ich klar, daß sie im Unrechte waren. Ich widersetzte mich und suchte meinen Mitschülern Klarheit zu verschaffen. Ich sträubte mich als Kind gegen einen dogmatischen Glauben, weil diejenigen, die ihn verkündeten, mir nicht glaubwürdig erschienen, und weil ich die Gerechtigkeit Gottes nicht begriff. Denn ich sah diejenigen zu Unrecht leiden und wie arme Pflänzchen eingehen, die mir nahe standen und die ich am innigsten liebte. Ich wollte mich in meinem Unverstande nicht zu Christus bekennen, weil das Bild von Christus mir verschleiert war, weil diejenigen, die sich beständig auf Christus beriefen, mir Furcht und Entsetzen einflößten. Und doch war meine ganze Sehnsucht, meine Kindessehnsucht auf ihn gerichtet, der die Reinheit, die Erfüllung ist. Auf diesen meinen Kindervorstellungen baute sich mein ganzes Streben als Jüngling und Mann auf. Sie sind das reine Band, das mich an die Zukunft knüpft.

Ich fand den Christus und fand, daß niemand wie er für die Freiheit des Menschen gekämpft hat.

Ich hatte mir die Augen verhüllt und das Wort des Christus vergessen: »Wandelt im Licht, ich bin das Licht der Welt.« Nur den Gram, nur die Dunkelheit hatte ich sehen wollen.

Ich wandelte wie ein Fremder unter Menschen ohne geistiges Leben, die in dem Tempel des Belial beteten. Ich war ein Arzt, wollte heilen und helfen, aber meine Kunst war schwach. Ich war ein Hirte und wollte die Zerstreuten im Lande um mich sammeln und Weckrufe ertönen lassen; meine Stimme war dünn und verhallte.

Aber in all den Lebenskämpfen versank ich nicht. Oft drang mir die Flut bis hoch an den Hals, es schlugen die Wogen über mir zusammen, und dennoch – ich versank nicht.

Ich trete die Kelter von nun an allein.

Ich will leben im Lichte der Welt. Ich will den Frühling schauen, ich will den Duft der Syringen und der dunklen Rosen einziehen.

Ich will schauen, schauen um mich, in mich. Ich will den Menschen im Sinne des Christus empfinden. Ich will mich in seine Größe und Ewigkeit senken. Mit meinen Augen will ich die Pracht und Herrlichkeit um mich aufnehmen. Ich will die Ohren weit öffnen, um den Klängen der Musik zu lauschen. Die Worte der Dichter will ich hören, denn all die Pracht ist ja nur die Offenbarung des göttlichen Ich, des Lebens des Lichtes.

Ich will versuchen, zu leben nach der Lehre des Christen – in Einsamkeit, ohne die Gemeinschaft zu vergessen.

Alles eitle Fürchten und Hoffen – es liegt weit hinter mir. Ich bin auf die Tragik des Lebens gestimmt.

In den Anfängen seines Daseinskampfes geht der persönliche Mensch unbewußt von dem Gedanken aus, er könne seinen Nachen durch alle Dunkelheiten treiben, er könne das Leben als ein Beherrscher meistern in seinen Höhen und Tiefen, über Klüfte und reißende Ströme Brücken schlagen, auf Bergesgipfeln tanzen.

In dieser Epoche hat er einen Bärenhunger, haut mit scharfen Zähnen ein, ist raubtiermutig und verwegen. Er lacht der Gefahren. Auf der Höhe ist er frei von Schwindel.

Das ist der Dämmerzustand, den man Kindheit nennt, wo wir heiter sind und voll Zuversicht. Es kommt die Stunde, wo wir sehend werden, und diese Stunde bringt uns die schmerzhafteste Erkenntnis, die uns einsam und weltfremd macht und eine Wunde schlägt, daran viele von uns langsam verbluten. Wir fühlen plötzlich unsere Gebundenheit. Wir erkennen, daß wir der Tragik des Lebens gegenüber ohne Macht und Wehr sind, daß aus dem Leben die Tragik nicht herauszubugsieren ist, daß sie wohl für ein Kleines verborgen im Dunkel kauert, um hervorzubrechen, wenn wir uns am sichersten wähnen. Das ist der tragische Riß, der durch unser Dasein geht. Wer ihn verkitten und verkleistern will, gleich dem Kinde, das mit seinen Händchen das Meer ausschöpfen möchte. Und dennoch wächst aus tiefstem Weh die höchste Lust. Unsere Nachdenklichkeit ist erwacht, wir prüfen jedwedes Ding auf seine Fruchtbarkeit hin, wir werfen alles schwere Gepäck von uns, wir werden noch einmal leicht und beweglich. Wir stehen dem Leben kühler gegenüber und umschlingen es doch fester. Wir lachen aller Moralitäten und aller Gesetze, die Menschen schufen. Aber unser Lachen ist silbern und ohne Hohn.

In den Augen unserer Mitmenschen sind wir von nun an verschwenderischer, waghalsiger und verwegener denn je. In unseren eigenen, gerechter, bescheidener, ehrfürchtiger. Denn unser Reichtum ist nicht ihr Reichtum, und ihre Gefahren sind nicht unsere Gefahren. Wir zertrümmern, was ihnen heilig ist, weil wir von der Stunde an um unserer selbst willen elender Rücksichten und erbärmlicher Zugeständnisse entbunden, von Freund und Bruder gesondert sind – entbunden und gesondert um höherer Einheit willen.

Denn nun, wo die Tragik des Daseins uns erleuchtet – leben wir über sie hinaus. – – – – –

Ich lösche mein Mitleiden um Katharina Dirckens nicht aus.

Ich leide mit ihr. Aber mein Mitleiden ist hart und leuchtend wie ein Diamant. Ich lasse sie nicht liegen. Aber ihr Weg liegt weit von dem Weg, den ich gehen muß. Es kommt auf das Müssen an. Wer an seinem Müssen vorübergeht, trägt sich selbst die Muttererde ab.

Ich werde meine Augen über ihr halten. Ich werde bei ihr sein, wenn sie mich ruft. Nur den dritten Bissen Brots werde ich zu mir nehmen. Wenn ihre Füße wund sind, so werde ich Balsam und Oel darauf legen.

Aber ich will den Weg gehen, den ich gehen muß. Ich will in mein Licht – in meine Freude tauchen. Lassest du mich nicht, Katharina Dirckens, so schreite ich über dich hinweg und achte nicht der Hände, die du drohend gegen mich hebst, und höre nicht die Worte und Verwünschungen, die du in Weh und Bitterkeit über mich ausgießest. Hier fängt mein Böses an, das mein Gutes ist. Es wuchs und wächst an den Wurzeln meiner Kraft. Was will noch aus mir wachsen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines, daß ich auf mein Wachstum lauschen werde, wie ich als Arzt auf die Herztöne des Kindes lausche, das aus dem Mutterleibe drängt.

Eine weite Wanderung liegt hinter mir. Ich raste für eine Weile.

Ich bin ein Acker, der seine Frucht getragen. Wann werde ich die schwarze Scholle wieder auf- und umschütten, damit sie neuer Saat empfänglich wird? Wann? ...

In dunkelen Ängsten leben die meisten an sich vorbei und glauben so über sich hinwegkommen zu können.

Die mit feinen Ohren vernehmen den leisen Klang ihrer Glocken und tönten sie inmitten nächtlichen Schlafs – sie sind nicht nur auf die Tragik, sie sind auf die Mysterien des Daseins gestimmt, die über die Tragik hinausgehen. Sie hören plötzlich die zartesten Nebentöne und Nebenschwingungen. Und wiewohl sie dafür weder Formel noch Ausdruck zu finden vermögen, erscheint es ihnen doch als das Wesentliche, in Vergleich zu dem geringfügig ist, was sie mit ihren äußeren Sinnen wahrnehmen.

In ihren Tanz und in ihre Andacht dringt kein Lärm der Gasse ...


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