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VI.

Thomas hatte nicht Abbitte geleistet.

Frau Tamara war in die Schule gegangen und hatte es ihm zu ersparen gewußt. Sie hatte dort schweigend all die bösen Dinge vernommen, die in dem Schuldkonto ihres Jungen gebucht waren.

Dem Ordinarius wurde während seines langatmigen Vortrages ganz beklommen. Die Wortlosigkeit und Würde der jungen Frau, über die man in der Stadt so Seltsames sprach, verwirrte ihn, und schließlich kam es ihm so vor, als ob er sich selber entschuldigen müßte. Er machte dem Verklagten besonders zum Vorwurf, daß er auch den anderen Schülern sein aufrührerisches Wesen mitteilte und sich als ihr Anwalt aufspielte. »Mit einem gewissen geistigen Hochmut hat er sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, in die Rolle des Klassenretters hineingespielt und den Jungen die Köpfe verdreht. Er hat etwas von einem Volksaufwiegler«, fügte er gezwungen lächelnd hinzu. »Und dazu einen eisernen Trotz. Ist er denn zu Hause ebenso?«

Tamara schüttelte statt aller Antwort den Kopf. Sie sah nachdenklich in das faltenreiche Gesicht des Lehrers, der Thomas so schlecht begriff.

Der Ordinarius sprach dann noch etwas von Rechtsfanatismus, einer gefährlichen Anlage, die man beizeiten ausroden müßte, ehe sie zu üppig ins Kraut schösse. Und um mit etwas Gutem zu schließen, setzte er hinzu: »Man könnte an den geistigen Fähigkeiten des Jungen seine Freude haben, wenn die Lehrer nicht durch seine Charakteranlage stutzig würden.« Damit verabschiedete er verbindlich lächelnd die zarte Frau.

Langsam trat Tamara den Heimweg an. Sie erwiderte verlegen die Grüße der Vorübergehenden, sah gedankenlos auf die grünen Fensterläden der kleinen Häuser, bis sie auf den Markt kam, wo das Rathaus und die alte Kirche standen. Sie ging rasch über den Platz, bog um die Ecke und atmete erleichtert auf, als sie die Tür des alten Hauses öffnete und die steinernen Fliesen des Vorraumes unter ihren Tritten hallten.

Sie legte ihre Sachen ab und war gerade im Begriff, einen breitkrempigen Gartenhut aufzusetzen, als aus dem Nebenzimmer laute Stimmen zu ihr drangen. Sie hörte wider ihren Willen von einer Frauenstimme die Worte: »Du bist also spätestens um acht draußen?« und die Antwort ihres Mannes: »Gewiß, mein Schatz!«

Die Hutbänder entglitten ihren Fingern, und sie jagte zum Garten. Ein Ausdruck von Übelkeit lag auf ihrem Gesicht. Erst als sie das Tor hinter sich geschlossen hatte, glätteten sich ihre Züge. Sie strich mit der Hand über ihr Gesicht, als wollte sie etwas Unangenehmes verscheuchen, und ging langsam durch die Kieswege, um die Kinder zu suchen. Die aber waren nirgends zu finden. Da setzte sie sich auf eine niedrige Rasenbank, stützte die Ellbogen auf und träumte vor sich hin.

Alles um sie lag in tiefer Stille; nur in ihrem eigenen Innern hörte sie ein schmerzliches Hämmern und wehes Schlagen.

Sie hatte den Hut vom Kopfe genommen und das feine Haar gelöst, als müßte sie sich wärmen und schützen vor der inneren Kälte, die sie durchdrang. Sie blickte sehnsüchtig in den blauen Himmel, der sich wolkenlos über ihr wölbte, und plötzlich kam sie sich weit entrückt vor, abgeschieden, leicht und frei.

Und dann kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und sah sich ruhig und schön auf dem Totenbette liegen, und der innere Friede, den sie sich mühsam erkämpft hatte, lag auf ihren reinen Zügen, und die Kinder knieten am Bettrand und hielten ihre Hände und weinten nicht – denn Tamaras Totenruhe war ihnen heilig.

Da lächelte sie halb verzückt und blickte großäugig in die Sonne, die mit ihren letzten Strahlen ihr Madonnengesicht vergoldete.


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