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XX.

In dieser ganzen Nacht lag sie mit starren, aufgerissenen Augen in ihren Kissen. Sie fror, und in kurzen Pausen schlugen ihre Zähne aufeinander. Sie lag nicht ausgestreckt da, sondern hatte die Knie fest an den Körper gepreßt. Sie war von der langen Reise wie zerschlagen, aber das fühlte sie nicht. Sie stöhnte, ohne einen Ton von sich zu geben. Niemals war sie in der großen, fremden Stadt Paris so einsam gewesen, so trostlos, so verlassen, so entwurzelt, wie hier. Immer hatte sie ihre Sehnsucht gehabt und ihre Träume, an die sie sich geklammert wie ein elendes, schwächliches Kind an seine Mutter. »Das ist nun alles zu Ende«, flüsterte sie einmal vor sich hin und erschrak vor dem Klang ihrer eigenen Stimme.

Von den alten wurmstichigen Tapeten knisterte und knatterte es in die Stille hinein, vielleicht waren es hungernde Mäuse, die unter dem einsamen Schweigen der Dunkelheit hervorkrochen und mit ihren scharfen, weißen Zähnchen beknabberten, was ihnen in den Weg kam.

Sie hielt es nicht aus, und in ihrem dünnen Hemdchen stieg sie aus dem Bett und tastete nach den Streichhölzern. Sie entzündete eins und nahm von der Lampe Glocke und Zylinder. Um ein Haar wären sie ihren Händen entfallen, die so kraftlos waren wie ihre Seele. Und wieder legte sie sich. Dann richtete sie sich halb auf und stierte dumpf und besinnungslos vor sich hin. So verharrte sie eine geraume Weile. Als sie wieder in sich wach wurde, begann sie, sich zu martern und darüber zu grübeln, wie es gekommen sei. Sie begriff alles. Sie begriff sein Schweigen und seine kalten Briefe, die jedesmal ein Frösteln in ihr hervorgerufen hatten. Hätte man mich nur bei ihm gelassen, so wäre es anders geworden ... Nein, das ist nicht wahr, daran liegt es nicht. Er hat mich nie lieb gehabt, es war nichts weiter als Mitleid. Sie bekam einen Haß auf dieses Mitleid, das sie belogen und hinterlistig überfallen hatte. Durch dieses Mitleid war sie in sein Garn gegangen und flatterte darin wie ein verängstigter, hilfloser Vogel.

Was war das für eine Unglücksstimme gewesen, die sie all die Monate vor ihrer Reise gewarnt hatte? Sie dachte an die schmutzige, kleine Blechbüchse, in die sie ihre erhungerten Groschen getan hatte. Sie dachte an die kindische Freude, wenn ein Frank zum andern sich gesellt hatte. Sie dachte an die zärtlichen Blicke und Empfindungen, die sie für die harten Geldstücke gehabt hatte. Und wie sie sich alles vorgestellt hatte ... und die lange endlos dünkende Fahrt; die Minuten hatte sie gezählt! Es war ein Glücksstrom gewesen, der ihre Poren erweitert und sie rein und empfänglich gestimmt hatte. Wie gläubig war sie gewesen in ihrer Freude und in ihren zauberhaften Vorstellungen von diesem Wiedersehen!

Sie biß sich die Zähne in die Unterlippe, daß das Blut herausdrang und ein paar Tropfen auf den weißen Überzug fielen.

Was wird nun jetzt? Irgend etwas muß werden, das stand ihr fest und klar. Das ganze Leben würde sich anders gestalten – fremdartig und kalt, wie sie es sich niemals hätte ausmalen können ... das war also das Leben – das Leben und das Schicksal der Bettina!

Sie faltete plötzlich die Hände. Lieber Gott, schließe meine Augen für immer, betete sie. Sie stellte sich vor, daß er dann an ihrem Lager knien und sie nicht nur auf die Stirn küssen würde.

Auf die Stirn hatte er sie geküßt – so kalt und gönnerhaft! Nein, dazu war sie zu stolz. Er durfte sie nicht im Tode küssen. Ein weißer Zettel mit schwarzen Buchstaben würde ihm überreicht werden, auf dem stünde: Ich liebe dich. Küsse mich nicht. Bettina.

Sie wollte in ihrer Liebe keine Gnade ... aber Gott schloß ihre Augen nicht ... Gott war hart und ohne Erbarmen. Von klein auf hatte Gott sie herumgestoßen. Der einzige Mensch, der ihr nahestand, sorgte kaum für ihren kargen Unterhalt und kümmerte sich nicht um sie.

Sie sah ihn wieder in dem roten Jackett mit den wilden, wirren Haaren, und die fremden Damen, die aus und eingingen, sah sie. Sie fand ihn jetzt gar nicht mehr komisch. Er war ein Fürst in seinem roten Jackett, streng unnahbar. Er hatte den Ruhm und hatte die Liebe! Er kam ihr auf einmal wie ein Kardinal vor. Sie wußte selbst nicht, wie diese Idee sich ihr aufzwang ... Wenn Gott sich nicht dazu entschloß, ihre Augen für immer zu schließen, so konnte er es doch zum mindesten so einrichten, daß sie mit dem grauen Morgen einschlief und, wenn sie erwachte, am ganzen Körper gelähmt dalag. Gelähmt für immer! Dann mußte man sie irgendwohin schaffen und für ihren Unterhalt aufkommen. Sie würde mit niemandem mehr sprechen, nur ihre Geige würde neben ihr auf dem Stuhle liegen, und sie würde sie zuweilen an sich drücken und streicheln ... aber nie mehr würde sie spielen!

Und auf einmal erfüllte sie eine unsinnige Furcht – würde sie überhaupt noch spielen können? Würde sie nach diesem Erlebnis noch spielen können? Vielleicht hatte sie es verlernt und konnte dem Instrument keinen Ton mehr entlocken. Und während der Gedanke in ihr aufstieg, glaubte sie es felsenfest.

Wieder wollte sie herausspringen, um auf der Stelle sich zu überzeugen, aber ihr fiel ein, daß ihre Geige ... die unselige Geige in seinem Zimmer lag. Es fiel ihr ein, daß sie irgendwo gelesen hatte, daß jemand durch die Erschütterung seiner Seele mit einem Schlage seine Sprache verloren hatte. Er konnte kein Wort mehr sprechen. Nur ein paar Lieder konnte er singen; ein paar armselige Lieder, die er beständig vor sich hinplärrte.

Konnte es ihr mit dem Geigen nicht ebenso gegangen sein? Konnte sie nicht den Sinn dafür verloren haben? Man würde sie nach Paris bringen, und ein Medizinprofessor würde sie den Studenten vorstellen. Man stellte ja die Kranken den Studenten vor, das wußte sie. Der Professor würde ihre Geschichte erzählen, und sie würde ganz teilnahmslos und stumpf zuhören. Der Professor würde sagen: »Versuchen Sie doch einmal zu spielen, Fräulein!« Sie würde die Geige an das Kinn pressen, den Bogen aufdrücken, mit aller Gewalt aufdrücken, dann würde ein entsetzlicher, harter Ton entstehen, sie würde den Kopf schütteln und die Arme sinken lassen. »Sehen Sie«, würde der Professor sagen und einen lateinischen Namen für ihre Krankheit nennen. Und bei alledem würde nur ein Vorstellungsbild sich ihr aufdrängen, ihr ganzes Leben hindurch; wo sie ging und wo sie stand, wachend und träumend – dieses Bild trug die Züge des Thomas Truck. Er war in sie hineingewachsen, und nie konnte sie ihn aus ihrem Inneren reißen!

Es gab noch eines. Und aller Gram und jedes Elend war zu Ende ... von ihr aus zu Ende ... Mit einem Sprung stand sie am Fenster und sah in die Tiefe hinab. Sie riß die Flügel auf und ließ die Nachtluft herein. Sie starrte hinunter auf die Straße, die einsam und menschenleer dalag.

Wenn ich jetzt hinunterspränge ... in einer Minute ist es aus, für immer aus.

Sie fuhr zusammen und schloß hastig das Fenster; die alten Scheiben klirrten. Es war entsetzlich, nur auszudenken, daß man sie da nackt und mit zerschmettertem Körper finden würde. Er würde sie in ihrer Nacktheit mit zerschmettertem Schädel und entstelltem Körper sehen! Die Todesangst der letzten Sekunden würde ihre Züge verzerrt haben, und er würde sich schütteln und sich rasch abwenden. Das war dann die letzte Erinnerung, die er von ihr besaß. Er ... er ... er ... immer und immer wieder er ... all die Jahre hindurch er ... und das war das Ende! Es war sonnenklar, sie mußte den Verstand verlieren, wenn sie weiter nachdenken würde. Man schleppte sie dann in eine Anstalt, wo sie häßliche, zusammenhanglose Dinge reden würde. Sie wurde schamrot bei der Vorstellung von diesen Dingen. Und zuletzt würde sie immer sagen und gotteserbärmlich alle Umstehenden anblicken: Meine Damen und Herren, er war mein Bräutigam ...

Sie sah plötzlich in den Spiegel und erkannte, daß sie weißer war als das Linnen. Sie biß in das Bettzeug, damit eine körperliche Anstrengung die Flucht toller Gedankensprünge bezwänge.

Dann trat eine tiefe Erschöpfung ein, und sie saß wieder vornübergebeugt mit leerem, ausgebranntem Kopfe da; nur in ihren Zügen lag ihr ganzer Jammer.

Schließlich brach sie vor Erschlaffung zusammen. Aber es war kein Schlaf, der sie überfiel. Es war mehr eine Art von Lethargie, die abgelöst wurde durch kurze Wachzustände, in denen sie herzzerreißend schluchzte, um wieder in ein fieberiges Träumen zu versinken.

Und dieses Träumen war das furchtbarste. Sie sah schwarze Gestalten, die zu ihren Füßen kauerten und untereinander tuschelten und wisperten, bis eine schließlich auf sie zutrat und sie, die sich nicht zu rühren wagte, mit dem langen, weißen Totenhemd bekleidete. Dann tat man sie in einen häßlichen schwarzen Sarg und die vermummten Wesen ließen sie an Leitseilen in die Gruft hinab. Da wurde es ihr klar, daß sie nicht sterben wollte und nicht sterben konnte! Und sie wimmerte beständig die Worte: »Thom, gib mir meine Geige.«

Dann schrie sie aus ihrem Grabe gellend auf, denn sie war gar nicht tot, sondern man hatte sie lebendig eingescharrt.

Sie erwachte. Und von diesem Moment an schlief sie nicht mehr ein.

Den Kopf in den Ellenbogen gestützt, bangte sie in ihrer Seelenangst und Furcht dem Morgengrauen entgegen. –

Und während sie von Erniedrigung und Verzweiflung hin und her, her und hin geworfen wurde, wachte Thomas die ganze Nacht an seinem Schreibtisch. Er sagte sich beständig, daß er sie zerstört habe, und er litt darunter. Er fühlte, daß er einen wertvollen Besitz preisgegeben hatte – und trauerte. In seinem Überreichtum hatte er sie weggeworfen.

Konnte ich anders? fragte er sich beständig. Und jedesmal antwortete eine Stimme in ihm: Nein.

Aber eine Nebenstimme klagte ihn leise an, leise und traurig, voll Mitgefühl und Jammer. Er hörte deutlich, wie diese Stimme redete: Nun bist du ein armer, bettelarmer Mann. Nun hast du ein Bahrtuch über deine Kindheit und Reinheit geworfen.

Und dann sah er einen schwarzen Reiter mit einer eisernen Maske vor dem Gesicht, der auf seinem Rappen über blühende Felder sauste, und die Hufe des Rappen zerstampften alles keimende Leben, und hinter der eisernen Maske verzerrten sich des Reiters Züge zu einem Todeslächeln.

Aber neben dem Reitersmann jagte auf weißem Hengste Frau Regine. – – –


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