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III.

Langsam ging er wieder die Linden entlang, kaum wissend, wo er schritt, niemanden sehend. Vom Strom ließ er sich treiben. Am alten, verwitterten Schloß kam er vorbei, betrachtete es sinnend und bewegte sich vorwärts, ohne Ziel, still vor sich hinträumend. Auf einmal stand er in dem Getriebe des Molkenmarktes und blickte sich verwirrt um. In diese Gegend war er nur selten gekommen. Er betrachtete sie aufmerksam, ehe er in eine Seitengasse lenkte.

Was war denn das? ... Das war ja gar nicht möglich ... und doch, ganz deutlich standen da auf einem Schild die beiden Worte: Am Krögel.

Beinahe ängstlich und beklommen trat er in die schmale Straße. Und nun war er wie in einer anderen Welt, die nichts mit dem übrigen Berlin zu tun hatte. Uralte Häuser mit mächtigen Mauern und Quadern aus versunkenen Jahrhunderten tauchten vor ihm auf. Und jedes Haus hatte zur Einfahrt ein rundes Tor. Eines stand weit offen. Ein großer Hof lag vor ihm, aus dem Hämmern und Schlagen zu ihm drang.

Die ganze Gegend kam ihm verzaubert vor. Er blickte in ein Erdgeschoß und sah, wie eine steinalte Frau die glanzlosen Augen über die enge Gasse schweifen ließ. An einem anderen Fenster hockte ein vertrocknetes Mädchen mit flachsgelben, dünnen Haaren und blätterte mit fleischlosen Fingern in einem vergilbten Buche. Und etwas weiter bemerkte er einen Alten mit milchig weißem Haupthaar und glatt rasiertem Gesicht. Er saß auf einem Schemel und beguckte durch eine Lupe ein Uhrwerk. Etwas von dem Geheimnisvollen der Uhrmacher, die bei ihrem Basteln über das Leben grübeln, lag auf seinen Zügen. Er gehörte offenbar noch zu jenem Schlage, den man kaum noch antrifft. Thomas trat in den Hof, von dem Hämmern zu ihm tönte ... aha, es war eine Schmiede. Ein Mann mit einem großen Schurzfell, kräftig und jung, trat ihm entgegen.

»Verzeihen Sie, wo bin ich hier hingeraten?«

Der Mann lachte derb auf.

»Ein paar Jahrhunderte zurück«, meinte er kurz. Und den Frager mit den Augen langsam messend, fügte er langsam hinzu: »Dies Haus steht an die vier Jahrhunderte. Die Besitzerin ist erst jetzt gestorben. Von Geschlecht zu Geschlecht hat es sich fortgeerbt. Nun erst ist es an die Kommune von Berlin gefallen.« Er wies auf ein Giebelfenster: »Da oben wohnt eine Frau, die neunzig Jahre alt ist, die ist hier noch geboren. Die Gegend hat ihre Geschichte, darüber wäre viel zu sagen.«

Er brach ab und ging wieder an seine Arbeit.

Thomas entfernte sich mit einsilbigem Gruß. Als er am Ende der Gasse war, stand er auf einer kleinen Brücke. Vor ihm lag die Spree. An ihren Ufern erhoben sich ihm gerade gegenüber verräucherte Speicher und Fabriken mit Schloten und Essen. Und da war auch die Waisenbrücke und aus den Spreekähnen stieg der frische Duft der Äpfel zu ihm herauf.

Hier also hauste Matthäus Lind.

Er betrachtete noch eine Weile das flüchtige Leben und ging dann in die Gasse zurück.

Vor dem Hause Nummer vier blieb er stehen. Er stieg die breiten, ausgetretenen Treppen empor. Unter seinen Füßen hallte es wider.

Eine Tür öffnete sich, und eine junge, blühende Frau, die an der offenen Brust einen Säugling hielt, kam auf ihn zu. Sie errötete und suchte mit der freien Hand die Blöße ihres Körpers zu verdecken.

»Wo wohnt hier Matthäus Lind?«

Sie wies stumm auf die nächste Tür und verschwand.

Er klopfte an. Unmittelbar darauf wurde ihm geöffnet.

Ohne das geringste Zeichen des Erstaunens bat ihn sein Bekannter, näher zu treten.

Es war ein kahler, schmuckloser Raum. Auf der Erde lag eine Feldmatratze, mit einem zerlumpten Fell bekleidet. Den armseligen, wackeligen Tisch bedeckten ein paar Bücher. In der geöffneten Schublade sah Thomas Äpfel und getrocknetes Obst. Hinter einem dunklen Vorhang mochten Waschutensilien aufgestellt sein. Und in einem altmodischen Kamin knatterte und knisterte ein frohes Feuer.

»Hier ist gutes Wohnen«, sagte Thomas, »hier ist es still und einsam.«

»Ja«, wiederholte mit sonderbarer Betonung Matthäus, »hier ist es still und einsam.«

Eine kleine Pause.

»Ich bin zu Ihnen gekommen durch einen seltsamen Zufall. Nun ich da bin, möchte ich mehr vom Prinzen Siddhârta Gautama erfahren.«

Matthäus Lind hatte ihm mit einem sanften Lächeln zugehört. Dann wies er schweigend auf den einzigen hölzernen Stuhl, der sich in der Kammer befand.

Thomas nahm Platz.

Sein Wirt durchmaß mehrere Male das Zimmer, lehnte sich an die Wand und begann: »Ich war bei dem Punkt angelangt« – er schloß wie damals die Augen – »wo Siddhârta zu Gayâ unter dem Schatten des Bodbibaumes zum Buddha, zum Erleuchteten geworden war.« Er dämpfte die Stimme und sprach: »Von da zog der Buddha weiter und verkündete in der großen Stille des Abends seine Lehre. Der Abend, sagen unsere Bücher, glich einer lieblichen Maid. Die Sterne waren die Perlen auf ihrem Nacken, die dunklen Wolken ihr geflochtenes Haar; der verfinsterte Raum ihr wallendes Gewand. Gleich einer Krone trug sie den Himmel, ihre Augen waren die weißen Lotosblumen, die sich vor dem aufgehenden Mond öffnen, und ihre Stirne glich dem Summen der Bienen. Es kam diese liebliche Maid, um den Buddha zu verehren und der ersten Verkündigung des Wortes zu lauschen.«

Er hielt inne.

Seine Züge nahmen etwas Visionäres und Schwärmerisches an. »Was verkündete der Buddha? Der Buddha verkündete, daß die Begierde des gedankenlosen Mannes wie eine Schlingpflanze wächst. Er rennt von Leben zu Leben wie ein Affe, der im Walde nach Früchten sucht. Wen die wilde Gier bewältigt, die giftartige, dessen Leiden mehren sich wie wuchernder Taumellolch. Wer sie bewältigt, die Gier, dem fallen ab die Leiden wie Wassertropfen von einem Lotosblatt.«

Er richtete jetzt sein Auge durchdringend auf Thomas.

»Wodurch entsteht die Gier?« fragte der leise.

»Hören Sie es, und graben Sie es in Ihr Innerstes ein«, seine Stimme bekam etwas Predigerhaftes, »die Gier entsteht durch den Wahn vom Ich. Er erzeugt die Begierde nach dem Leben. Er ist die Quelle der Sinnlichkeit, der Sehnsucht nach zukünftigem Leben, oder der Liebe zur gegenwärtigen Welt. Er ist der Ursprung alles Leidens ... ›die Ketzerei der Individualität‹ nennen ihn unsere Bücher. Alles ist feuerentbrannt, sagt der Buddha. Es ist entbrannt vom Feuer der Lust, Leidenschaft, der Unwissenheit, entbrannt aus Furcht vor Geburt, vor dem Tod aller, aus Kummer, Klage, Elend und Verzweiflung ... Nur der sinnliche, unwissende Mensch klammert sich wie ein Ertrinkender an die Begriffe: ›Ich bin‹ – ›dies Ich besteht‹ – ›ich werde sein‹ – ›ich werde nicht sein‹ ... Wer Weisheit erworben, dem steigen so unsinnige Ideen nicht mehr auf. Darum sagt der Buddha: Werdet teilhaftig des vierfachen, edlen Pfades, der zur Weisheit, zur Heiligkeit, zur Erfüllung, zum Nirwana führt. – Werdet euch eurer Freiheit bewußt und wirket dahin, daß für euch die Wiedergeburt und Wiederkehr in dieser Welt erschöpft sei ... Den heimatlos, wunschlos Wandernden, den nenne ich einen Heiligen! ... Werdet selbstlos, sagt der Buddha, denn der Glaube an das Selbst führt zum Leiden, zum Schmerz, zur Verzweiflung. Geht den edlen Pfad eines tugendhaften und gedankenvollen Lebens; denn der Bekehrte ist frei von Zweifeln und Täuschungen des Ich.«

Er wischte sich den Schweiß von dem blassen Gesicht, ehe er ganz langsam fortfuhr: »Unser Tun, unser Handeln ist unser Karma.«

Dieses Wort sprach Matthäus geheimnisvoll und flüsternd aus. Und nach einer langen Pause: »Es sagt, daß unsere Gegenwart die Frucht unserer Vergangenheit ist. Wir selber machen unser Schicksal, wir selber bestimmen unsere Endlichkeit ... Unser Körper stirbt, aber unser Karma bleibt übrig, um in einer neuen Wiedergeburt auf Erden neue Leiden und neue Schmerzen zu erzeugen ... Wir tragen an dem Kummer, den wir in einem früheren Leben uns selbst bereitet haben. Diejenigen aber, welche den vierten edlen Pfad durchschritten haben, sind frei von allem Karma ... Ihr altes Karma ist erschöpft, kein neues vermag mehr zu entstehen ... Sie haben das Nirwana auf Erden, und wenn ihr Körper zerfällt, tritt keine Wiedergeburt an sie heran ... Sie sind untergetaucht in das große, heilige All, in das Einzige, das allein Gott, Welt, Mensch, Ich und Du ist.«

Wieder brach er ab. Sein Antlitz war von der höchsten Freude erfüllt. Die wasserblauen Augen leuchteten in einem übersinnlichen Glanz.

Thomas hatte alles um sich vergessen. Dieser Mensch hatte in seiner Sprache, und in seinem Wesen etwas, das ihn hypnotisierte. Er hing an seinen Lippen.

Plötzlich faßte Matthäus seine Hand, die er unmerklich drückte. Kaum hörbar nahm er seine Rede wieder auf. »Das Sein ist eine Lug- und Trugvorstellung, voll Leid und Qual, ein böser, schwerer Traum! ... Das Nichtsein ist die Erlösung! ... Darum schreitet durch die enge Pforte, die zur Einheit führt, entrinnt dem Scheinleben! ... Unterdrückt alles Begehren, das uns an das Rad der Tode und Geburten fesselt ... Habt den Willen zur Weisheit, und ihr werdet Erkennende! ... Ihr seid Wissende! Die Unwissenheit, sagt der Buddha, ist die Ursache des Elends. Werdet selbstlos! ... Erkennt, daß wir eins mit dem All sind, und ihr werdet den edlen Pfad betreten! ... Aus der großen Symphonie des Alls bist du ein losgelöster Ton. Du willst zusammenklingen mit dem großen All ... aber nicht eher klingst du zusammen, bis du dich selbst rein und frei gestimmt hast! ... Hier in der Wirklichkeit mußt du deine Ewigkeit durchleben! ... Kämpfe mit dem Leben, um das Leben und das Leiden zu überwinden ... Opfere dich selbst, und du wirst frei werden von Neid, von Eifersucht und allem Gefühl des Hasses ...«

Er ließ Thomas' Hand los und atmete schwer auf.

Und indem er ihn in unsagbarem Mitleiden ansah, wandte er sich direkt mit den Worten an ihn: »Geben Sie den Wahn vom Ich auf – und in wesenloser Ferne liegt Fürchten wie Hoffen. Die Außenwelt vermag Sie nicht zu quälen. Sie wissen, daß sie nur Ihre Vorstellung, Ihre Einbildung, Ihr Traum ist. Sie allein schaffen und bewegen, was ist! ... Sie reden nicht mehr von Gott und Seele! – Sie werden der Erleuchtete! Sie sind der Wissende! ... Sie sind das All! ... Vor Ihnen liegt Nirwana, in Ihnen ist Weisheit, Güte und Frieden!«

Es war jetzt todesstill. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

Thomas war wie benommen. Aber dann erhob er sich, und indem er Matthäus Lind fest ins Auge faßte, fragte er: »Sind Sie wunschlos?«

»Ich bin es!«

»Und können Sie so leben?«

»Ich lebe ohne Furcht und Hoffnung!«

»Und das ertragen Sie? Das Leben ohne Hoffnung?«

»Es ist das Leben ohne Haß! Es ist das Leben der Stille! Über Gerechte und Ungerechte scheint die Sonne! Ich sehe keinen Schuldigen, ich sehe keinen Sünder! Ich fand mein Ich, indem ich mich von seinem Wahn befreite. Ich bin ein Mendikant! Bettelmönch Ich habe den Buddha begriffen! Und jetzt gehen Sie, gehen Sie«, stieß er hastig hervor, »es ist genug für heute!«

Thomas wäre gern noch länger geblieben, aber der Mendikant, wie er sich selbst nannte, wurde unruhig, und wieder trat jener krankhafte Zug auf sein Gesicht, den Thomas schon in der vegetarischen Speisehalle an ihm wahrgenommen hatte.

»Sie leiden! Ich bin Arzt«, sagte er schüchtern.

»Nein, nein, gehen Sie«, drängte Matthäus.

Und Thomas ging, obwohl er klar und deutlich sah, daß dieser gebrechliche Mensch des Schutzes bedurfte, daß er dem Zusammenbrechen nahe war.

Er ging, den Kopf schwer beladen von dem, was er gehört hatte.

Unten auf der Straße flüsterte er vor sich hin: Was ist das für eine sonderbare Lehre? Das ist die Lehre von der Güte und Barmherzigkeit um der Sünden der Eltern willen, an denen die Kinder bis ins siebente Glied bluten. Das ist die Lehre, die das Leben leugnet, das Blühen, die Freude, das Wachstum! ... Was bleibt von mir, wenn mein Ich erst Ich wird, nachdem es alle Lebenskraft in sich wie in einem Mörser zerstampft hat ...?

Es überlief ihn kalt.

Am Ende, sagte er zu sich selbst, ist mein ganzer Zustand, mein ganzes Leiden nichts anderes als alte Schuld ... Und am Ende ist alle meine Lebensmüdigkeit und Trauer nichts anderes als eine Brücke, die über den geheimnisvollen Strom des Nirwana führt.

Diese Gedanken beunruhigten ihn und ließen ihn nicht mehr los.

Wie kann ich als naturwissenschaftlich geschulter Mensch mich mit solchen Dingen überhaupt abgeben? fragte er sich. Und ist denn das eine Lösung der Dinge? Sind das nicht alles Trugschlüsse? Ich und das All ... gut! ... aber weshalb muß ich mich auflösen, um zu dem All zu gelangen?

Er wollte nicht mehr daran denken ... das ist ja alles nichts weiter als das Kausalitätsgesetz ... überall muß ein zureichender Grund sein ... alles ist gesetzmäßig ... nun ja – nun ja! ... Was habe ich damit gewonnen?

Er sah plötzlich das übersinnliche Lächeln des Matthäus.

Die Seligkeit des reinen Herzens, sagte eine Stimme in ihm. Und in dem Augenblicke stand die Bettina vor ihm und blickte ihn mit großen, kummervollen Augen traurig an. Aber gleich darauf war sie wieder verschwunden.

Er zog den Rock fest an sich.

Ich bekomme wieder Halluzinationen, dachte er.

In beschleunigtem Tempo schritt er weiter.


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