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VI.

Es war gegen zwei Uhr mittags, als die Liers die Treppen einer Mietskaserne des Nordens hinabstieg. Sie war abgearbeitet und erschöpft. Über dem rechten Arm trug sie ihre schwarze Ledertasche. An dem Geländer hielt sie sich zuweilen fest und schien angestrengt über irgend etwas nachzudenken, das ihr Sorgen machte. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und ging von Stufe zu Stufe langsamer.

Der graue Rock, der schmucklos ihren starken Körper umschloß, schleppte nach. Im Hausflur blieb sie noch einen Augenblick sinnend stehen, bevor sie auf die Straße trat.

Die Maisonne brannte wie im Juli.

Die Liers kam kaum vorwärts, so schwer und abgeschlagen waren ihr die Glieder.

Die Omnibusse, die vorbeifuhren, waren überfüllt. Müde lehnte sie sich an eine Litfaßsäule. Aber plötzlich kam Bewegung in ihren Körper.

Die starke Person stürzte wie besessen einem jungen Mädchen nach, das auf der anderen Seite der Straße an ihr vorübergeschritten war. »Fräulein ... Fräulein!« rief sie keuchend.

»Ah, Sie sind's!« sagte die Verfolgte, sich ein wenig erschreckt umdrehend und stehenbleibend.

Die Liers nickte. Sie atmete erst mehrere Male tief auf, ehe sie antworten konnte. »Was das für 'ne Hundshitze ist«, begann sie alsdann. »Na, ich habe meine Arbeit hinter mir; ich gehe schlafen.«

Die Josefa betrachtete sie von der Seite. »Haben Sie wieder so ein unglückliches Wurm zur Welt fördern helfen?« frage sie bissig.

»Ja«, entgegnete die Liers zerstreut. »Um halb fünf haben sie mich bereits aus den Federn geholt; um ein Uhr war ich erst reingekommen. Das ist 'n Leben, Fräulein, haben Sie Ahnung!«

»Bei der Hitze Modell stehen, ist auch kein Vergnügen!«

Sie schritten ein paar Minuten stumm nebeneinander.

»Fräulein Gerving!«

Die Angeredete konnte ein trübseliges Lächeln nicht unterdrücken.

»Na, dann ist es ja gut, wenn Sie schon wissen, wovon ich reden will. Ich habe Sie immer mal besuchen wollen, aber man kommt ja nicht dazu. Man kommt ja zu nichts bei so einem ... na, es geht am Ende auch so. Ich liebe keine Vorreden. Ich gehe immer gleich aufs Ganze. Das liegt so in meinem Beruf, da hat man zum Überlegen keine Zeit. Ich wollte Sie man fragen: Haben Sie was mit meinem Mann?«

Die Gerving verschränkte die Arme; sie war offenbar belustigt. »Darüber können Sie ganz unbesorgt sein. Mir wird so leicht keiner gefährlich, und Sie wissen ja, ich bin versagt.« Bei den letzten Worten zog sie finster die Augenbrauen zusammen.

»Ich dachte man so! Es ist nämlich mit dem meinigen nicht mehr auszuhalten! Der hat einen kleinen ...« – sie zeigte auf die Stirn – »es kann ja auch in der Luft liegen«, setzte sie trocken hinzu. Sie nahm vertraulich den Arm der Josefa.

»Ach, Kind«, sagte sie, »man macht mit den Männern schon was durch. Ich bin ja eigentlich aus dem Alter. Aber wenn man einen hat, dann hat man ihn und klammert sich an ihn fest, mehr als einem gut ist. Verdienen tut's die Gesellschaft nicht, Sie können mir's glauben. Notabene, vergafft ist er in Sie – das steht fest! Begreife ich auch vollkommen. So 'n Mensch ist jung und Künstler außerdem noch! Die haben von vornherein 'n kleinen Sparren, darauf muß man Rücksicht nehmen! Das Pech für mich ist nur, daß er der meinige ist. Übrigens, wenn ich er wäre, ich würde mich ja auch in Sie vergucken.«

Die Josefa lachte. »Das sagen Sie jetzt, weil sie wissen, daß er bei mir abgeblitzt ist!« Sie gab der Liers die Hand. »Seien Sie schönstens bedankt für das Kompliment!«

»Also nachgestellt hat er Ihnen?«

Die Gerving nickte. »Ach, wissen Sie, das ist nicht ernst zu nehmen. Die Redensarten höre ich jeden Tag zehnmal. Macht auf mich gar keinen Eindruck mehr! ... Die Männer quasseln alle dasselbe Zeug ... direkt dumm kommen sie einem vor! So einer braucht bloß 'n Mund auf zutun – und ich weiß genau, was kommt!« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ach Gott, das ist ja so egal ... so gleichgültig!«

»Warum ist man eigentlich so dumm und hängt sich an einen?« fragte nach einer Pause die Liers. »Sie begreife ich nun schon gar nicht. Offen gestanden, was ist an dem Menschen ... nee, wie der Sie behandelt! ... Der Mensch treibt Sie ja ordentlich dazu, einem anderen in die Arme zu laufen.«

Um die Lippen der Josefa zuckte es. »Das wird ihm gelingen, verlassen Sie sich darauf!« Und indem ihre Augen vor schmerzhafter Schadenfreude aufleuchteten: »Denken Sie, ich weiß nicht, daß ich ihm damit den größten Gefallen tun würde? Aber so dumm bin ich denn doch nicht.« Und mit einem niederträchtigen Gesichtsausdruck fügte sie hinzu: »Der kann auf meine Treue schwören! Und beiseite werfen lasse ich mich auch nicht, eher ...« Sie brach ab und schloß den Mund fest zu, als habe sie bereits zuviel gesagt.

»Man sieht ihn jetzt öfter mit der Ingolf«, meinte die Liers, jede Silbe auseinanderziehend.

Josefas Miene vergrämte sich. »Wenn etwas passiert«, brachte sie leise hervor, »ich bin nicht schuld daran – ich nicht!«

»Warum geben Sie ihm nicht einfach 'n Tritt? Gott sei Dank, Sie sind ja mit dem Menschen nicht verheiratet!« Und derb lachend, setzte sie hinzu: »Sie brauchen doch bloß die Hände auszustrecken, und an jedem Finger hängen zehn!« Aber als sie den zornigen Ausdruck in der Miene der Josefa wahrnahm, lenkte sie begütigend ein: »Das ist doch nur ein Scherz; Sie kennen mich doch! Ich weiß, daß Sie ein anständiges Mädchen sind, das sich ehrlich durchschlägt. Ich weiß, was Sie für ein Hundeleben führen, und wie gut Sie's haben könnten, wenn Sie leicht wären! Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, lassen Sie sich mit ihm nicht mehr ein! Seien Sie froh, daß Sie nichts von ihm haben – 'n Mädel mit 'nem Kind ist 'ne schiefe Sache. Kenne ich aus dem ff! Jeder Dummian sieht Sie mit scheelen Augen an ... jeder ... na, Sie sollten so viel 'rumkommen wie ich. Man hat seine Erfahrungen, mehr als einem lieb ist!«

Die leidenschaftlichen Züge der Josefa hatten bei den letzten Worten etwas Mütterliches angenommen. »Ich gäbe was warum, wenn ich 'n Kind von ihm besäße; man hätte dann doch etwas, woran man sich klammern könnte. Glauben Sie mir«, sagte sie tiefernst und nachdenklich, »ich würde eine gute Mutter sein! Ich bin nicht so, wie ich aussehe.«

Und mit einem lieblichen, schüchternen Lächeln setzte sie hinzu: »Ich habe Liebe in mir ... und dann ... mit einem Kinde würde ich ihn auch halten können. Darüber habe ich oft nachgedacht. So 'ne Mutter hat's gut! So 'n Kleines zu baden und zuzusehen, wie es im Wasser mit den Ärmchen und Füßchen plätschert, und es nachher so reinlich eingehüllt an die Brust zu legen – ich kann mir gar nichts Schöneres denken!«

Die Liers war perplex. »So 'ne Gefühle hätte ich Ihnen am wenigsten zugetraut! Übrigens sehen Sie die Sache ein bißchen rosig an. Wenn so 'n Wurm die ganze Nacht plärrt, daß man kein Auge zutut, oder wenn's nicht recht gedeihen will – haben Sie Ahnung, was so 'n Kind für Wirtschaft macht!«

Die Josefa lachte, daß man ihre weißen Zähne sehen konnte. »Das würde mir nichts ausmachen, je mehr, desto besser! Ich bin kinderlieb, kindernärrisch!« Ganz ohne Zusammenhang fragte sie plötzlich: »Finden Sie eigentlich die Ingolf hübsch?«

»Kann ich nicht gerade behaupten. Höchstens was Apartes hat sie!«

»Was Apartes? Ich möchte wohl wissen, wo das steckt! Vom ersten Moment an hab' ich die Person nicht leiden können. Glauben Sie mir, das ist 'ne falsche Katze. Die hat's in sich! Das ist die Sorte mit den Taubenaugen! Die tun, als wenn sie aus der Hand fressen!«

Sie war zornrot geworden und hatte die Hände geballt. Sie blieb stehen, und die Liers fest ansehend, brachte sie mit seltsamer Betonung hervor: »So einer könnte ich kalten Blutes 'n Liter Vitriol ins Gesicht gießen, ohne mir ein Gewissen daraus zu machen ... im Gegenteil – gut würde es mir tun!«

Die Hebamme wich erschreckt zurück. »Machen Sie man nich so was! Sie werden sich doch nich unglücklich ...«

»Das bin ich ja schon!«

»Ne, ne, Fräuleinchen, so was dürfen Sie gar nicht reden! So 'n junges Blut wie Sie!«

Die Josefa wurde blaß. Sie schien noch etwas erwidern zu wollen, dann aber besann sie sich, und wortlos, flüchtig mit dem Kopf nickend, eilte sie rasch davon.

Ganz verdutzt blickte ihr die Liers nach. Aber bevor sie noch zur rechten Besinnung kam, wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Knäuel von Menschen gelenkt, die lebhaft gestikulierten und um einen Hundewagen sich gruppiert hatten.

In instinktiver Neugier trat sie näher.

Der Führer des Hundewagens, ein vierschrötiger Kerl, war ganz in Schweiß gebadet. »Wenn Se jetzt nich de Fresse halten«, kreischte er, »so schlage ich Ihnen die Knochen zusammen!«

Seine kleinen Augen waren geschwollen. Sie schillerten in allen Farben. Von dem fetten Gesicht perlte der Schweiß tropfenweise herab.

Vor ihm stand der Volksschullehrer Heinsius – in seiner Elendigkeit das gerade Gegenbild zu dem robusten Mann. Seine kleine Gestalt schien aber zu wachsen. Die Backenknochen traten aus dem eingefallenen Gesicht heraus; die knabenhaften Hände fuchtelten nervös in der Luft umher, und sein fanatischer Blick schien sich in seinen Gegner einzubohren.

»Rühren Sie mich einmal an, Sie Hundeschinder!« rief er wuterstickt. Und einen Schritt näher tretend, schrie er, während seine Stimme beinahe überschlug: »Sie Wicht Sie, wie können Sie ein hilfloses Tier so peinigen?«

Die Umstehenden begannen ihren Spaß zu haben. Es bildeten sich bereits Parteien.

»Was jeht denn Sie die Sache an?« Mit diesen Worten mischte sich ein neunzehnjähriger Bengel in den Streit.

Heinsius drehte sich spöttisch nach dem Sprecher um; aber in dem Augenblick packte ihn sein Gegner blaurot vor Wut, an den Schultern.

»Jetzt nich ausjekniffen, Jungeken. Dir werd ick's besorjen!«

Der Volksschullehrer lachte schrill auf, so daß der andere einen Augenblick verdutzt schien.

Diesen Moment benutzte die Liers, die ganz erschreckt Heinsius erkannt hatte. Mit ihren breiten Ellenbogen schuf sie sich Platz, und die großen, derben Fäuste erhebend, sagte sie: »Sie sollte man mit der Hundeknute traktieren ... jetzt wollen Sie sich wohl gar noch an dem Menschen vergreifen. Na, Sie soll ja gleich ...«

Ein paar Männer hatten die robuste Frau, die in dem Stadtviertel wie ein roter Hund bekannt war, bemerkt. Sie traten schützend ihr zur Seite.

»Na, nu zieh man Leine«, knurrte einer dem Besitzer des Hundewagens zu, »und mach keene Sachen, sonst jeht's dir mau!«

Und ein anderer versetzte ihm einen gelinden Stoß und fügte hinzu: »'n bißken dalli, wenn de nich noch 'n paar Knochensplitter uff de hohe Kante lejen willst!«

Die Männer schüttelten der Liers die Hände, die Neugierigen stoben enttäuscht auseinander, die Passage wurde wieder frei, und eine Minute später standen an der Stelle nur noch Heinsius und die Liers.

»Wie können Sie sich nur mit so 'nem Pack einlassen«, meinte die Liers gutmütig. »Bei so 'nem Gesindel seine Haut riskieren, ist doch leichtsinnig.«

Der Volksschullehrer pfiff ein paar Töne vor sich hin. »Ist nicht so gefährlich, mit der Gesellschaft wird man noch fertig; und wenn einem wirklich was passiert – pah, was liegt daran!«

Die Liers erwiderte nichts.

»Wissen Sie schon das Neueste?«

»Ne!«

»Ich sitze auf dem Trockenen! Sie haben mich an die frische Luft gesetzt. Sie haben eingesehen, daß das Unterrichten meinen Lungen nicht gut tut.«

»Uff«, machte die Liers und schlug die Hände zusammen. »Weswegen denn?« fragte sie nach einer Weile völlig fassungslos.

»Weswegen?«

»Doch nicht wegen der Rede im Konz –«

»Stimmt! Abgekürzte Methode hat man angewandt. Disziplinarverfahren, das innerhalb von acht Tagen beendigt war. Sie sehen, man arbeitet fix bei uns. Na, ich war quietschvergnügt! Wenn einer unschuldig in Untersuchungshaft kommt, kann es ihm passieren, daß er anderthalb Jahre sitzen muß, bevor die Verhandlung beginnt; bei mir hat man sich gesputet, wofür ich den Herrschaften dankbar bin. Die Gesichter vom Rektor und den Kollegen hätten Sie sehen sollen! Wie 'n räudigen Hund haben Sie mich betrachtet. Niemand hatte es mir zugetraut, so gut kannten sie mich. Zuerst hatte mir der Rektor den Rat gegeben, ich sollte von wegen der Pension mich auf meinen geistigen Zustand untersuchen lassen. Das ist nämlich 'n Philanthrop, der es gut mit mir meinte. Na, ich habe ihm den Star gestochen. Ich hätt Ihnen den Anblick des spindeldürren Menschen gewünscht; er glaubte auf einmal den Teufel in leibhaftiger Gestalt zu sehen. Dinge habe ich ihm gesagt ...« Das Gesicht von Heinsius leuchtete in der Erinnerung froh und freudig auf, es sah in diesem Augenblicke beinahe gütig und milde aus. »Liers«, begann er wieder, »es war die schönste Stunde meines Lebens! Die ganze geknechtete Menschheit, mit allen Sklaveninstinkten ausgerüstet, sah ich in diesem Jammerkreis verkörpert. Dies Gelichter, das sich nicht auf den Beinen halten kann, wenn ein freiheitlicher Hauch ihre dumpfen Schädel ... wie der Mensch sich an den Tisch klammerte und mit verglasten Augen mich anstarrte ... ich sah ordentlich, wie sein kleines Hirn schwitzte, und wie er mit welken Lippen sein Gottseibeiuns murmelte. Liers, es war possierlich!«

»Und nun sitzen Sie auf dem Pfropfen«, entgegnete die Liers trocken, ohne auf seine Auseinandersetzungen näher einzugehen.

»Vollkommen!«

»Hm, was soll nun daraus werden?« Ihr gutes Gesicht wurde bekümmert.

»Wissen Sie, man hat mir das Gehalt für das nächste Quartal bezahlt. Da ich sowieso an Geschäftsauflösung denke, so hoffe ich, bis dahin zu reichen.«

»Geschäftsauflösung?« Sie hob erstaunt die Achseln ein wenig empor.

»Man kann das Ding nennen, wie man will!«

»Heinsius!«

»Denke ja auch vorläufig nicht daran! Zunächst warte ich ab; und außerdem hat der eigene Wille verdammt wenig damit zu tun. Die meisten Geschäfte lösen sich von selber auf!«

Sie waren vor dem Hause der Hebamme angelangt.

»Kommen Sie doch noch zu einer Tasse Kaffee mit hinauf«, bat die Liers. »Er freut sich und Sie haben schließlich jetzt nichts zu versäumen.«

»Meinethalben!«

Die Liers schloß die Entreetür auf und öffnete das Wohnzimmer.

Es war behaglich bürgerlich eingerichtet. Ein schwarzledernes Sofa, das übliche kleine Büffet im geschmacklosen Renaissancestil, der runde Tisch, ein paar Familienbilder, eine Mahagonikommode und so weiter.

»Ganz nett hier!«

Die Liers drehte sich mit breit lachendem Gesicht nach ihm um. »Das müssen Sie ihm sagen! Was, meinen Sie, hat er sich schon über das Zimmer lustig gemacht!«

Sie riß die Tür zum Schlafzimmer auf. »Sehen Sie, da liegt er noch und schnarcht. Der hat's gut«, seufzte sie, »wenn man doch auch mal ausschlafen könnte, 'ne Hebamme kann nicht einmal vom Sonnabend zum Sonntag ausschlafen. Er schwärmt fürs Schlafen; und ich finde, er hat recht! Er ist überhaupt ein Philosoph!« Sie rüttelte ihn an dem Arm. »Mann«, schrie sie, »es ist Besuch da, und außerdem geht es auf drei Uhr!«

Heinsius hörte ein paar knurrende Laute, die einem widerwilligen Fluchen ähnlich klangen. Dann ertönte ein zweistimmiges Lachen, darauf eine erderschütternde Bewegung, aus der man schließen konnte, daß der Dichter in einem ungeahnten Entschluß die Lagerstätte verlassen hatte. Und etwas später kam er in einem saloppen Schlafrock ins Wohnzimmer und begrüßte mit unschuldiger, naiver Miene den Volksschullehrer.

Bald brodelte eine Kaffeemaschine, und der Dichter kam allmählich aus einem ständigen, müden Gähnen in den Zustand des Erwachtseins.

»Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag?« fragte Heinsius.

Liers blickte ihn seelenruhig und spöttisch an. »Soll das eine Anklage sein?«

»Nicht im mindesten! Im Gegenteil, ich bewundere die freiheitliche Art ihres Lebens. Ich wünschte, die anderen wären auch schon so weit wie Sie. Sie sind der einzige unter meinen Bekannten, der ein menschenwürdiges Dasein führt! Aber gerade darum wollte ich mich genauer informieren und fragte nach der Einteilung Ihrer Tätigkeit.«

Liers kreuzte die Arme übereinander. »Sie denken sich mein Leben leichter, als es in Wahrheit ist. Meinen Sie, es ist keine Anstrengung, aufzustehen, sich zu waschen, sich anzuziehen, zu essen, zu trinken und die übrigen Funktionen seines Körpers auszuüben? Wenn Sie wüßten, wie ich darunter leide! Und kaum ist man damit fertig, so ist's wieder Nacht und man muß den ganzen Krempel ausziehen, die richtige Lage im Bett zu finden suchen und für Schlaf sorgen. Mir kommt nämlich der Schlaf nicht so angeflogen wie anderen Menschen. All die Phantasien und Ideen, die mich so bewegen, muß ich ordnen und einschläfern, ehe ich selbst an die Reihe komme. Denn Sie mögen es mir glauben, erst im Bett habe ich Zeit, mich mit meinen Ideen zu beschäftigen. Der Tag reicht bei mir nicht!« Er sagte alles das vollkommen ernsthaft, und Heinsius blickte mit einer gewissen neidvollen Bewunderung zu ihm empor.

»Arbeiten haben Sie sich so ziemlich abgewöhnt?«

»Ich glaube, diesem Ziele nahe zu sein«, erwiderte der Dichter. »Arbeit ist ein künstlich gewordener Kulturbegriff, der mit Menschenwürde und Freiheit meiner innersten Auffassung nach nichts zu tun hat. Das tiefste Symbol dafür«, schloß er ernsthaft, »ist die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese. Erst als die Sünde, mit anderen Worten die Erkenntnis, den Menschen packte, war es mit dem unbewußten Genießen vorbei. In dem Augenblicke verschließen sich ihm die Pforten des Paradieses – er steht in der öden und einsamen Wildnis verlassen da, und die gemeinsten Empfindungen, als da sind: Hunger, Kälte, stellen sich bei ihm ein. Und aus solcher Gottverlassenheit kommt er zu dem jammervollen Selbsterhaltungstriebe, der ihn zur Arbeit zwingt. Die Geschichte haben die Juden wirklich in eines der schönsten Gleichnisse gekleidet; es könnte gar nicht tiefsinniger erzählt werden. Da ich nun ein Paradiesesmensch bin und diese gute Frau«, er wies auf die Liers hin, »das Verbrechen ihrer Urmutter, was an ihrem Teil ist, an mir sühnen will (denn die Infamie ist von einem Weibe an dem Manne begangen), so bin ich allmählich zu dem einzigen würdigen Zustande zurückgekehrt – ich lebe, soweit dies denkbar ist, unter Enthaltung jeder Arbeit, die ich für schmutzig und erniedrigend halte. Daß gewisse Dinge sich nicht vermeiden lassen, ist schmerzhaft genug. Aber über den letzten Rest, der in meinem Exempel nicht aufgehen kann, suche ich durch verlängertes Schlafen hinwegzukommen.«

»Allerhand Achtung! Sie sind in keinem Falle ein Kraftmeier und Wortedrescher. Sie sind einer der wenigen, der wirklich nach seiner Überzeugung lebt. Sie reden nicht – Sie handeln!«

Die Liers hatte bisher stumm zugehört. Jetzt goß sie den dampfenden Kaffee in die Tassen, und ganz langsam sagte sie dabei: »Wenn schlafen handeln ist, so haben Sie recht. Was dabei rausschaut, weiß ich am besten. Er wird von Tag zu Tag kraftloser.«

Der junge Mensch erhob sich. Um seine feinen, müden Lippen grub sich eine leise Falte. »Um Gottes willen«, rief er nervös, »verbittere mir nur nicht gleich den Morgen.«

Die Liers blickte resigniert auf die Uhr. Es fehlten noch fünf Minuten an vier! »Na«, meinte sie, »eigentlich hast du recht. Es kommt ja nicht darauf an, daß du in der Zeitrechnung um zwölf Stunden zurück bist. Übrigens«, fuhr sie ein wenig gereizt fort, »hab ich die Gerving getroffen! Du scheinst dem Mädchen ja nett zugesetzt zu haben! Sie bedankt sich bestens für deine Aufdringlichkeit!«

Er setzte die Tasse ab und fuhr mit der Hand durch sein reiches Haar. »Du hast wohl wieder mal spioniert?« fragte er, und in seinen mädchenhaften Zügen zuckte es unruhig.

»Ich verlange«, entgegnete die Liers ganz ruhig, »daß du mich nicht auf Schritt und Tritt zu beschwindeln suchst. Ich verlange, daß du dich wenigstens nach der Richtung gegen mich anständig benimmst!«

»Entschuldigen Sie«, sagte Heinsius, »wenn ich mich ins Gespräch mische. Ich kann mit Ihnen nicht mehr mitgehen, sobald Sie die persönliche Freiheit Ihres Mannes antasten, da hört's bei mir auf!«

Die Liers stemmte ihre Arme in die Hüften. »Kinder, ihr seid alle etwas ... na, nehmt mir's nicht übel; ihr habt euch einen Begriff von persönlicher Freiheit zusammengebraut, den ich erbärmlich finde!«

Und nun bekam ihre Miene einen verbitterten Ausdruck; das ganze Leiden der mißtrauisch wachenden Frau, die immer fürchtet, ihren Mann zu verlieren, spiegelte es wider – und dieser Ausdruck entstellte sie. Sie sah noch häßlicher und älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Ihr Gesicht gehörte zu denen, die das Leiden und der Gram verzerrt.

Liers trat auf sie zu. Und mit seiner Gutmütigkeit und Sanftheit versuchte er es, sie um die starke Taille zu fassen. Das gab er indessen bald auf. »Sieh mal«, sagte er, »euer ganzes Frauenunglück besteht darin, daß ihr bis in die Knochen unfrei seid. Es hat noch nicht einmal in euch gedämmert, was es überhaupt mit der Freiheit auf sich hat! Ihr wollt geknechtet sein – und knechten! Ihr klammert euch in euerer Hilflosigkeit an einen wie ein Ertrinkender an einen kräftigeren Schwimmer. Daran denkt der Sinkende nicht, daß er auf die Weise auch den anderen in die Wellen zieht. Der Vergleich ist sogar«, fügte er mit auffallender Lebhaftigkeit hinzu, »ausgezeichnet! Ihr vergeßt vollkommen die Einheit der Persönlichkeit, Ihr sucht sie in eine Zweiheit, respektive Vielheit aufzulösen und denkt nicht daran, daß ihr in diesem chemischen Prozesse gerade den vollkommen zugrunde richtet, den ihr am meisten zu lieben vorgebt!«

»Aber«, unterbrach er sich lachend, »das sind ja so schwierige Dinge, die du doch nicht kapierst! Und was würde es nützen, selbst wenn du sie kapieren würdest? Komm, sei gut, und denke nur daran, daß die Dinge nicht so klar sind, wie du dir in deinem Hebammenverstand einbildest! Man kann nämlich«, schloß er in leisem Spott, »eine ausgezeichnete Hebamme sein und braucht doch von diesen höheren Dingen keinen Schimmer zu haben. Und darin liegt nicht der geringste Vorwurf, sondern im letzten Grunde eine Entschuldigung!«

»Bist du zu Ende?«

»Ja, mein Herzblatt!«

»Fürs Herzblatt bin ich etwas zu groß geraten. Für dumm hältst du mich, das weiß ich. Aber schließlich bin ich nicht so dumm, um nicht wenigstens den Sinn von dem, was du gesagt hast, zu fassen. Es stimmt ... und es stimmt nicht. Und es stimmt viel weniger als es stimmt. Und das kommt daher, weil bei euch der Hochmut und bei uns die Güte ist! Hinter allen unseren Fehlern und Kleinlichkeiten steckt wenigstens die Güte.«

Heinsius wurde nervös. Er ging mehrere Male hastig im Zimmer auf und nieder.

»Verehrteste, Sie nehmen die Dinge mit dem Herzen auf ... Sie müssen sich das abgewöhnen!« Und sich an den Dichter wendend: »Offen gestanden, ich hätte Ihnen nicht so viel Erkenntnis und Kultur zugetraut! Für einen Menschen, der sich mit einer so unnützen Geschichte wie dem Dichten abgibt, besitzen Sie einen respektablen Grad von Klarheit!«

Die Liers lachte höhnisch auf.

»Warum lachen Sie?« fragte der Volksschullehrer.

»Es fiel mir gerade ein, wie Sie sich eines Hundetieres wegen aufgeregt haben! Was ging denn die Geschichte Sie an? Wie kamen Sie denn dazu, die persönliche Freiheit des Karrenbesitzers anzutasten? Das ist ja ein Einbruch in fremde Rechte, den Sie bei einem anderen unerhört finden müßten!«

»Sie sind in einem kleinen Irrtum. Das war bei mir kein Humanitätsdusel, sondern der reine Egoismus. Mich hat die Geschichte geärgert weder in Rücksicht auf den Hund, noch auf diesen Rowdy. Und weil ich mich ärgerte, machte ich logischerweise meinem Ärger Luft, selbst auf die Gefahr hin, Schaden zu leiden.«

»Ne, da kann ich nich mit! Ihr wißt die Geschichte in einer Weise zu verdrehen, daß man sich ordentlich närrisch vorkommt! Manchmal denk ich wirklich, ich bin im Narrenhause, wenn ich mit euch zusammentreffe. Das Blaue redet ihr vom Himmel herunter. Ihr kriegt es fertig, von dieser weißen Decke unsereinen gegenüber zu behaupten, daß sie schwarz sei.«

»Ja, ist sie denn nicht schwarz?« fragte Heinsius spöttisch. »Wie können Sie denn behaupten, daß sie weiß ist?«

Die Liers atmete tief auf. »Gute Nacht, Herr Lehrer, mir fallen die Augen zu! Ich merke doch, daß es anstrengender ist, Ihnen zuzuhören, als Kindern zur Welt zu verhelfen.«

In der Tür des Schlafzimmers warf die dicke Frau dem Dichter noch einen verliebten Blick zu, den er freundlich, beinahe herablassend, erwiderte.

Der Lehrer wandte sich bei diesem Intermezzo verlegen ab.

»Zur Psychologie der Ehe«, murmelte er vor sich hin, und seine dünnen Lippen wurden von einem Zuge der Ironie belebt.

Er verabschiedete sich von dem Dichter, der sich inzwischen mit der Zeitung auf dem Sofa bereits ausgestreckt hatte, und verschwand eiligst.


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