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III.

Aus der kleinen Stadt, in der sie lebte, war Frau Tamara niemals herausgekommen. Die Mutter hatte sie früh verloren, und unter der Obhut eines verschlossenen Vaters, der, wie die Leute sagten, auf seine alten Tage immer sonderlicher wurde, war sie und die einzige Schwester aufgewachsen. Sie war die bei weitem jüngere. Die beiden Mädchen, die keinen Verkehr hatten, erwärmten sich gegenseitig. Sie hatten beide etwas Marienhaftes, Weltabgekehrtes, Innerliches. Die ältere spürte wohl etwas stärker einen Drang nach dem Gebrause einer Welt, die sie nur vom Hörensagen kannte. Aber das kam nur selten und schüchtern zum Ausdruck. Ihr Leben floß eintönig dahin. Im Hause schalteten ihre weißen Hände, und wenn das Haus besorgt war, gingen sie in ihren weißen Kleidern Arm in Arm verschlungen durch den Garten. Mochten die Syringen blühen, mochte es Rosenzeit sein, mochte die uralte Linde ihren schweren Duft ausströmen, oder weißer Schnee ein weiches Tuch über den Rasen decken. Sie flüsterten sich leise, süße Dinge zu und schmiegten sich enger aneinander. Sie sprachen vom Vater, der im weiten Umkreise trotz seines wortkargen Wesens der berühmteste Arzt war, oder sie erzählten sich von der seligen Mutter, die so frühzeitig nach der schwarzen Erde sich gesehnt hatte und ihnen beiden geglichen haben mochte, oder sie lachten vor stillem Glück in sich hinein und taten sich Blumen ins Haar. Sie lösten die dichten Zöpfe und blickten verstohlen, verträumt, versonnen in das dunkle, kleine Wasser und dünkten sich wohl Nixen, Nymphen, Najaden und Sylphiden. Dann brachen sie in ein rätselhaftes, silbernes Lachen aus, sahen sich beide großäugig verschreckt an und fürchteten sich fast selbander. Sie kamen sich ins Leben verirrt vor. Sie hatten Schmetterlingsflügel, die niemand anrühren durfte, und ohne daß die anderen es gewahr wurden, schwebten sie ihrem Sinnen nach über der Erde. Sie waren mondscheinzart und leuchteten wie geheimnisvolle Sterne, die vor dem grellen Tageslicht verblassen. Es kam auch vor, daß sich beide unversehens ganz plötzlich anblickten, und daß beider Augen von Tränen umflort waren. Dann fühlte jedes einen nagenden Schmerz, der tief in ihm war, für den es keine Erklärung gab. In solchen Augenblicken empfanden sie ihre Einsamkeit und spürten, daß sie entwurzelt dalagen, wie arme Pflänzchen, die man schonungslos aus dem Erdreich gerissen hatte und von den Sonnenstrahlen verdorren, oder von Fühllosen zertreten ließ. Sie sahen sich wohl in ihrem Jammer, der zeit- und raumlos schien, an, aber niemals sprachen sie darüber. Wenn die Nacht herniederstieg und ihre dunklen, riesenhaften Fittiche ausspannte und aus allen Ecken und Enden des stillen Hauses die Gespenster hervorlugten, wenn die Nixen und Najaden aus dem Garten herangeschlichen kamen in Begleitung von lauter seltsamen, fragwürdigen Gestalten, dann kroch die eine Schwester zur anderen ins Bett, dann hielten sie sich ihre Hände und lagen mit weit geöffneten, angstvollen Augen da und hörten auf ihr Atmen und auf das Pochen ihrer zarten Seelen. Sah der Doktor mitunter seine beiden Mädel von der Seite prüfend und furchtsam an, so fuhr er wohl zaghaft mit fast scheuer Bewegung über ihr Haar, ohne auszudrücken, was er dachte. Es kam aber eine Zeit, wo ein inneres Ängsten ihn ergriff. Er sah seinen Körper absterben und bangte für seine stillen Wesen. Damals gab es in der Stadt etwas Außergewöhnliches.

Ein junger polnischer Geiger machte die Provinz unsicher und gab auch hier sein mit großer Reklame angekündigtes Konzert. Sarasate, sagten die einen; Joachim, replizierten die anderen. Man mußte hingehen. Auch in das Doktorhaus waren Karten geschickt worden, und am Abend fand man sich wirklich in den hell erleuchteten Sälen der Ressource ein. Die Mädchen blickten auf den Geiger wie auf eine Offenbarung. Sie saßen Hand in Hand da, und viel später noch glaubten sie, daß ihre Hände in dieser Stunde zusammengewachsen seien. Sie hörten Töne, die sie nicht nur bewegten und erregten, sondern auch in ihnen auslösten, was längst in ihnen nach Licht und Sonne sich sehnte. Aber ihre Gesichter waren verstört, verirrt, verängstigt und verschüchtert. Sie schämten sich und wünschten zu verbergen, was in ihnen arbeitete. Sie schraken jedesmal zusammen, wenn der Geiger aufhörte und das Publikum in lautes Klatschen ausbrach. Sie begriffen das Lärmen der Leute nicht. Es kam ihnen auch rätselhaft vor und peinigend, daß jemand seine Seele gleichsam vor allen Neugierigen hinlegen konnte. Sie wurden verwirrt von dem, was sie erlebten, und waren wie benommen, halb vor Entzücken und halb vor Schmerz.

Sie wußten, daß der Geiger noch in der Nacht abreisen würde. Sie empfanden, daß er in ihr Leben Angst und Unruhe gebracht hatte, und wagten gar nicht das auszudenken, was nun kommen würde. Sie mieden ihre Blicke und hatten dunkle Scheu eines vor dem andern. Sie hielten ihre Hände, aber es war ihnen doch, als wenn plötzlich eine Nebelwand sie trennte. Und da trat etwas Unerwartetes ein.

Der Geiger hielt plötzlich im Spiel inne. Ein kreidiger Ton färbte sein Gesicht. Der Bogen glitt ihm zuerst aus der Hand, es war gerade noch Zeit, daß der Begleiter, der sich rasch erhob, ihn auffing. Es schien nur natürlich, daß der Doktor aufstand und hinter das Podium trat. Der Geiger mußte die Tournee abbrechen und wider Willen in der kleinen Stadt bleiben, die ihn am Krankenlager festhielt. Er kam dann in das Doktorhaus, ein unsteter Geselle mit hochfliegenden Plänen, weltlicher Sehnsucht und phantastischem Künstlerherzen. Eine wilde Genußsucht, ein gesteigertes Hochgefühl, dann wieder ein banges Zweifeln, zu dem sich eine sensitive Erregbarkeit gesellte, zerklüfteten ihn. Aber in seinem ganzen Wesen lag doch eine pochende, jugendliche Kraft, ein verwegenes Siegergefühl und jene schwermütige Weichheit, die seiner Rasse eigentümlich ist. Auch als er gesundet, blieb er. Aus den Augen der Mädchen leuchtete ein Feuer, von dem er sich nicht trennen konnte. Dabei zeigten ihm die Schwestern keinerlei Art von Entgegenkommen. Doch wenn ein scheuer Blick, ein gedämpfter Ton ihn traf, so glaubte er einen Steg zu ihren Herzen zu finden. Aber vielleicht war der Steg nur aus zartem Spinnengewebe. Er wußte es lange nicht. Er spielte ihnen oft stundenlang vor, und sie berührten zum Dank kaum seine Hand und mieden seine Blicke. Es war ganz anders, als er es bisher kannte, und er verstand es nicht, warum sie mit ihrem Beifall so kargten. Er begriff nicht, daß ihnen seine Kunst zu teuer war, daß sie sich scheuten, sie nackt zu entkleiden in leeren, dumpfen Worten. Denn diese Art von Ehrfurcht war ihm fremd. In dem Frauengarten, den er kannte, wuchsen so zarte Pflänzchen nicht.

Es kam ein junger, glitzernder Frühling übers Land und eine junge Sonne, die die Mutter Erde schämig küßte und liebkosend, weich und verstohlen die ersten Keime weckte. In diesem Frühling huschten die Seelen der Schwestern wie Nachtfalter, die man nicht hört, voneinander fort.

Der Geiger freite noch im Frühling um die ältere. Die wagte Tamara nicht anzusehen. In der Brautzeit, die nicht lange währte, sprachen die Schwestern wenig. In der Abschiedsstunde hörte Tamara ein paar herzzerreißende Worte; dann küßten sich mit blassen, kalten Lippen das letztemal die Schwestern.

Und nun zog die große, tiefe, letzte Einsamkeit in das Doktorhaus. Es war ein verzauberter Garten mit wunderlichen Hecken; in dem saß und träumte wunschlos ein totes Mädchen, über dessen stille Blüte ein einziger Hagel hinweggegangen war.

In dieser Zeit des Dahindämmerns ohne Traum und Begehren suchte sie wohl manchesmal der Vater im Garten auf und nahm schweigend ihre Hände, die er zärtlich streichelte. Er sprach nie über die Dinge, die sie bewegten; aber dennoch empfand sie deutlich, daß er in ihrer Seele zu lesen wußte, und sie blieb ihm Dank schuldig, weil er sie wie einen scheuen Vogel behandelte und durch kein lautes Wort ihren leisen Flügelschlag störte. Aber bald sollte sie aus ihrer Totenruhe gewaltsam in das bewegende, unruhige Leben gedrängt werden, das sie nicht begriff, da es keinen Inhalt für sie hatte und ihr unmotiviert erschien.

Ein junger Arzt hatte sich in der kleinen Stadt niedergelassen. Es hatte sich die Kunde verbreitet, daß der alte Herr, der eigentlich noch gar nicht alt war, sich seiner Praxis nicht mehr gewachsen fühlte. Der Ankömmling machte seine Aufwartung und brachte so etwas wie eine frische Brise mit seiner robusten Lebenskraft in das gleichsam von tiefem Schlaf befallene Haus. Er war ein Mensch, der aus kleinen Verhältnissen hervorgegangen war und das Leben nüchtern und praktisch ansah. Seine Kultur war derb und ohne Schliff; sein Hunger nach Geistigem nur mäßig. Er hatte sich schlecht und recht als Student durchgehungert und lechzte nach sorgenfreien und materiellen Genüssen. Er hatte das bonierte Selbstbewußtsein jener Menschen, die aus einer niederen Sphäre emporgestiegen sind und sich nun für die geistige Arbeit, die sie verrichtet zu haben glauben, schadlos halten wollen. Er pochte auf sich und seine Korrektheit. Er hatte etwas Gewalttätiges und Selbstherrliches. Aber er war ein Staatsbürger comme il faut, der an den Überlieferungen starr festhielt und alles Bestehende als das Unumstößliche und Wahre, als das Gegebene und Reale auffaßte, das man zu achten hatte und nicht antasten durfte. Er gehörte wie sein Vater, der ein kleiner Beamter gewesen war, zu den Korrekten im Lande, die sich reinlich zu scheiden hatten von den Schwarm- und Truggeistern, von den Fanatikern und Umstürzlern, mit einem Wort von jener Gruppe von Menschen, die er schlechtweg als Katilinarier bezeichnete. Dabei steuerte er in allen Dingen mit klarem Blick auf das für ihn erreichbare Ziel hin. Er hatte sich gesagt, daß er in der Großstadt mit seinen geringen gesellschaftlichen Beziehungen und seiner mittelmäßigen Begabung ein Hungerdasein führen würde, und deshalb hatte er ihr den Rücken gekehrt.

Bevor er noch das Doktorhaus betreten, hatte er kühl und sachlich mit der Möglichkeit gerechnet, in die Praxis seines älteren Kollegen, der noch dazu als ein wohlhabender Mann galt, hineinzuheiraten. Als er dann Tamara sah, wurde aus dem Vorsatz ein fester Entschluß. Das feine, überschlanke Wesen mit den schimmernden Augen rührte und bezwang ihn. Er liebte sie wirklich in seiner Art, die gewiß nicht die ihrige war. Er liebte sie mit dem geheimen Hintergedanken, daß seine knochige Struktur mit diesem gebrechlichen Geschöpf leicht fertig werden würde. Ihre geistige Überlegenheit, die er wohl dunkel empfand, würde ihm zum mindesten durch seine grobe Kraft nicht drückend werden. Denn allem Belastenden, allem, was ihn unsicher machen und aus dem Gleichgewicht bringen konnte, ging er vorsichtig aus dem Wege. Er brauchte seine Gottähnlichkeit und Festigkeit. Er trat fest und stark auf. Unter seinen Füßen sollte es klirren und von seinen Tritten sollte es widerhallen. Mehr der Instinkt als der Verstand leitete ihn in seinen Erwägungen bezüglich Tamaras.

Je öfter er in das Haus kam, desto begehrenswerter und holdseliger erschien sie ihm in ihrer Verschlossenheit, in ihrer milden Güte, in ihrer jungen Schönheit. Allen Ernstes verliebte er sich in sie. Er wurde so demütig, wie es ein Freier nur sein kann: er wurde so zart, wie es ihm innerhalb seiner Natur nur möglich war. In dieser Zeit kam das Beste, was in ihm war, zum Vorschein. Er empfand ihre Reinheit als etwas Hohes, vor dem er sich beugte. Er fühlte das Marienhafte, vor dem er den Blick senkte in Ehrfurcht und Aufwallung. Eine Ahnung von seelischen Werten, die außerhalb seiner Kultur lagen, durchdrang ihn und erfüllte ihn zum erstenmal mit Bewunderung und ernstem Respekt. Und eines Tages ging er entschlossen ins Doktorhaus, um es ihr zu sagen. Er fand sie in dem verzauberten Garten, wo sie den Duft von süßen Syringen einsog und verloren um sich blickte, in den weißen Händen ein paar Lilien. Als er so plötzlich und unvermutet vor ihr stand, fuhr sie wie aus einem schweren Traum empor; dann aber faßte sie sich und hörte ihn mit einer Ruhe an, die ihn verwirrte und beinahe erniedrigte. Sie ließ ihn sprechen und unterbrach ihn mit keinem Blick und keinem Wort, und als er sie endlich hilfesuchend ansah, entgegnete sie ihm, daß sie ihm so gut wie nichts zu geben habe; denn fügte sie wehmütig hinzu, sie sei wunschlos. Da versprach er ihr, daß er sie niemals quälen und zufrieden sein würde, wenn er sie nur sehen dürfte und sie bei sich wüßte. Sie nickte ihm still und ernsthaft zu, und so holte er sich auch das Jawort von ihrem Vater, der erleichtert aufatmete, weil er nun auch sein zweites Kind versorgt glaubte.

Von der älteren kamen nur spärliche Nachrichten. Sie sehnte sich nach dem Garten. Sie klagte rührend, daß sie die Welt da draußen nicht verstünde. Es klang aber aus ihren kargen Briefen, die sie an die Schwester schrieb, wie unterdrücktes Schluchzen, wie das unterwürfige Gebet einer wunden Seele, die sich still gebeugt hat.


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