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XIV.

Alles das erzählte der Volksschullehrer Heinsius mit verkniffenen, bleichen Lippen Thomas. Und aus seinen Blicken funkelten Unversöhnlichkeit und wilder Haß. –

»Er geht an der Proletarierkrankheit zugrunde wie ich«, sagte er. »Wir sind das Kanonenfutter in Friedenszeiten. Das ist die Gerechtigkeit des Staates, daß wir nicht einmal in unserem Elend uns nähren können! Dieser Mensch muß auf Porzellan malen, und ich?« – er blinzelte Thomas mißtrauisch an. »Erfüllt Sie denn das gar nicht mit Zorn?« fragte er heftig. »Man soll nach einem Hungerdasein in seinen besten Jahren zugrunde gehen, so elend krepieren! Ist man dazu geboren? Und dann kommt diese Gesellschaft und will einen mit Jenseitswahn und ausgleichender Gerechtigkeit da drüben trösten! Aufhängen an allen Laternenpfählen sollte man diese Schwindler und Hochstapler! Das sind die Demagogen«, schrie er heiser, »Demagogen im schlimmsten Sinne! ... Sie reden ja gar nicht. Machen Sie sich über mich lustig? Ich sage Ihnen, es ist mir damit heiliger Ernst, und bevor sie mich einscharren, will ich mich noch um Kopf und Kragen reden. Einmal es hinausbrüllen, einmal wenigstens dem Gesindel den richtigen Spiegel vorhalten, daß es seine Fratzen sieht.«

Thomas sah den erregten Menschen mitleidig an.

»Ich bin«, brachte er langsam und zögernd hervor, »nicht ganz Ihrer Ansicht. Ich empfinde wie Sie das furchtbare Mißverhältnis zwischen den Besitzenden und den Ausgeschlossenen; aber«, fuhr er nachdenklich fort, »mir kommt es so vor, als ob der leibliche Mangel nicht so schlimm ist wie der geistige Hunger. Ein Mensch wie Sie hat wenigstens ...«

Heinsius fiel ihm ins Wort. »Ich weiß schon, was Sie vorbringen wollen; aber kommen Sie mir nicht damit«, sagte er gereizt. »Kommen Sie mir um Gottes willen nicht mit der Kunst als Surrogat. Ich pfeife auf die ganze Kunst!«

»Ich habe das zwar nicht sagen wollen. Aber was heißt das, Sie pfeifen auf die Kunst? Shakespeare und Goethe lassen Sie doch gelten, Homer und Dante? Und die großen Musikanten Bach, Beethoven?«

Heinsius sah ihn höhnisch an.

»Niemanden lasse ich gelten«, erwiderte er grinsend. »Mit Autoritäten bin ich fertig – Gott sei Dank. Die Dichter« – er lachte – »die sind auch nur für den satten Magen. Nun, ich gönne sie dem Pack. Ich gönne Ihnen ihren Wust von unklaren Vorstellungen und Gefühlsduseleien.«

Thomas Truck war ganz verblüfft.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?« fragte er zaghaft, »Sie können doch nicht solche Werte leugnen?« setzte er beinahe schüchtern hinzu.

»Ich leugne sie.«

Heinsius riß die kleinen, trüben Augen weit auf und fuhr nervös mit Daumen und Zeigefinger durch seinen dürftigen rötlichen Flaum.

»Ich leugne sie. Ich leugne diese Gemütsathleten, die mit ihren unsauberen Empfindungen die Köpfe verwirren und mit ihren erhitzten Phrasen die Hirne benebeln. Ja, mein verehrter Herr, ich leugne sie. Ich leugne alles, was sich von der Vernunft entfernt und dem einsichtigen Denken. Ich danke für Gefühle. Sie mögen kommen, woher sie wollen. Ich habe mir als kleiner Bengel den Magen damit verdorben – Gott sei Dank, ich habe dieses Zeug ausgebrochen! Die Kunst ist nur für die Schmarotzer da, für Tagediebe und Lumpen, für die Denkträgen. Wir brauchen überhaupt keine Kunst. Würdige Zustände brauchen wir! Freiheit ... Freiheit im tiefsten Sinne. Alle Hirne und alle Gedanken haben sich darauf zu richten, wie man die Hungernden sättigt, wie man uns aus der Kerkerluft in die Freiheit bringt ... alles andere, mein verehrter Herr, ist Kräftevergeudung, ist Verbrechen. Wer statt dessen Dichter liest, stiehlt meinem Herrgott« – dieses »meinem« betonte er seltsam – »die Zeit, und die Zeit ist kostbar.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie können doch unmöglich alle Kultur leugnen?«

»Sie haben recht, ich kann etwas nicht leugnen, was überhaupt nicht vorhanden ist ... nämlich, es gibt keine Kultur; die Menschheit hat die Jahrtausende nur dazu verwandt, um mit allen Mitteln und Kräften eine Unkultur zu schaffen.«

Thomas zuckte ärgerlich mit den Achseln. »Das sind Schlagworte und Paradoxe, mit denen ein ernsthafter Mensch jemanden, den er auch ernst nimmt, nicht drangsalieren sollte. Ich kann nur annehmen, Sie erlauben sich mit mir einen schlechten Spaß.«

Heinsius kniff die Augen zusammen. »Sie irren. Wer, wie ich am Scheidewege steht, sozusagen bereits jenseits ist, hat keine Zeit zum Spaßen mehr. Das ist mir alles blutiger Ernst. Das sind die einzigen Erkenntnisse meines lumpigen Daseins. Es ist ein Beweis meiner Achtung, daß ich sie Ihnen gegenüber ausspreche; mir scheint«, fuhr er bissig fort, »ich habe Sie etwas überschätzt. Sie halten sich noch mit Gefühlen auf.«

Das Gesicht dieses verhungerten Menschen tat Thomas weh. Dennoch bemerkte er: »Sie sprechen etwas viel vom Sterben; Sie kokettieren ein wenig damit. Ich finde das nicht gerade geschmackvoll.«

»Sie machen einen kleinen Denkfehler, mein Verehrtester! Es kommt mir nicht darauf an, was Sie finden, sondern einzig und allein darauf, was ich finde. Das ist für mich überhaupt der Punkt, um den sich alles dreht. Nur vor den Leuten, die mir mein Brot geben, von denen ich abhängig bin, buckle ich mich noch; ich warte nur den Augenblick ab, wo ich sie nicht mehr nötig habe und mir Luft machen kann ... ich brauche nämlich Luft, ich ersticke fast. Warum lächeln Sie denn so spöttisch?«

»Ich habe gelächelt, aber nicht spöttisch. Und ich lächelte, weil ich die Quelle Ihrer Weisheit und Weltanschauung entdeckte.«

»Es fällt mir nicht ein, die zu leugnen; ich mache daraus kein Hehl. Ich verdanke diese Weisheit, die einzige fundamentale, die ich gefunden habe, Max Stirner. Der war auch ein armer, verhungerter Lehrersmann. Übrigens hat das mit meiner Anschauung von Kunst nichts zu tun, und außerdem – Sie mögen mir das glauben oder nicht – bin ich ganz selbständig zu meinen Ideen gekommen. Nur ihre klassische Aufzeichnung fand ich bei ihm; ich habe keinen besseren Wunsch für Sie, daß das Sie auch einmal zu so innerlicher Freiheit kommen. Sie tragen auf der Stirn so ein Leidensmal ... Sie haben auch etwas von den Gezeichneten. Ich wünsche Ihnen guten Appetit für die lange Wanderung. So lange Sie auf Ihrem Wege als Zehrbrot Gefühle mit sich schleppen und davon sich sättigen, wird es mit dem Vorwärtskommen ein bißchen hapern. Leichtes Gepäck, junger Mann, leichtes Gepäck ... darauf kommt alles an. Und man wird erst leicht, wenn man den ganzen Plunder verbrannt hat« – und während seine Stimme überschlug, sagte er noch einmal: »Es gibt nur eins: die Freiheit! Man hat sie, wenn man jedes Dogma, es sei, wie es sei, zerrissen hat.«

Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander.

»Ich möchte wissen«, unterbrach Thomas plötzlich das Schweigen, »welches Ihre letzten Gedanken und Empfindungen sein werden, wenn es wirklich ernst wird. Ich wünsche allerdings, daß dieser mein Wissensdurst noch lange unbefriedigt bleiben möchte. Vielleicht gibt es doch noch in Ihrem Leben Entwicklungsstadien, in denen Sie über Ihre jetzigen Anschauungen hinauskommen.«

Da lächelte Heinsius eigentümlich. Es war ein Lächeln, das Thomas nicht zu entziffern vermochte. Es lag darin etwas von höherer Schelmerei und von tragischer Wehmut.

»Ich werde Ihnen Ihren Wunsch erfüllen; Sie sollen meine letzten Aufzeichnungen erhalten, ich verspreche es Ihnen!«

Sie waren vor dem Hause angelangt, in dem das Atelier Broses sich befand, und stiegen gemeinsam die Treppe hinauf. Thomas hörte den schweren Atem des Volksschullehrers, er glaubte das Pfeifen seiner Lungen zu vernehmen – es war eine schauerliche Musik, zu der der Meister Hein den Takt schlug.

Er als Mediziner wußte, daß es hier keine Hilfe gab. Er spürte es, daß der Tod neben ihm schritt – er hörte sein Rascheln und Wehen, und in seine Erregung, in seinen Lebensdrang und seine Lebensfreude fiel ein eisiger Reif.

Leise und behutsam klopfte er an die Tür, die zum Atelier führte. – – –


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