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XVI.

Zu jenen geschmacklosen, aus roten Backsteinen ausgeführten Bauten, an denen Berlin so überreich ist, gehört die Jerusalemer Kirche.

Hier ging der Dichter Liers auf und ab.

Er erwartete die Josefa.

Die Mittagssonne warf ihr Licht auf die Schiefertürme und spiegelte sich in den Fensterscheiben der Häuser.

An der Kirche stand, auf zwei Krücken gelehnt, ein großer Mann, dessen Gesicht von einem langen, dunklen, mit grauen Silberfäden durchzogenen Vollbart umrahmt war. Seine Züge waren bleich und durchsichtig. Ihn fror in der Sonne. Keinen der Vorübergehenden sprach er an. Er sah nur stumm und klagend zu ihnen hin. Wenn jemand zu ihm herantrat und ihm eine kleine Münze reichte, so dankte er nur ganz wenig, indem er vornehm, kaum merklich den Kopf neigte.

Liers betrachtete ihn forschend. Die rote, kalte Kirche und diese Leidensgestalt stimmten nicht zueinander. Der Dichter phantasierte: Das ist ein Mensch, dachte er, aus einem großen, vornehmen Hause. Vielleicht war er einmal ein Graf, oder gar ein Fürst. Er hat so etwas an sich, etwas Überlegenes aus den guten Tagen ... und dann zerbrach ihn das Leben. Und jetzt steht er, ein Märtyrer, ein Krüppel, an der Kirche. Was mag er wohl denken? Grübelt er über das Geheimnis des Daseins – oder über versunkene Zeiten? Macht er sich über die Leute lustig, die an ihm vorüberziehen? Was ist das für ein Blödsinn, fuhr er sich selbst an. Er friert ja! ... Er hat dünne, zerlöcherte Kleider und friert; wie kann er sich da lustig machen? ... Hm ... es konnte ihm ja auch einmal so gehen, wer wußte das? Er wollte sich die Pose und die Bewegungen des Krüppels merken. Immerhin, es konnte einmal nützlich werden für die Zukunft. Es war klar, dieser Mensch bettelte mit Würde und Anmut. Er hatte aus dem Betteln eine Kunst gemacht. Den Dichter erquickte das.

In dem Augenblick kam die Gerving. Liers schritt hastig auf sie zu. Er hatte den Bettler im Nu vergessen – das Mädchen hingegen starrte den zerlumpten Menschen mit einer rätselhaften Miene an. Sie nahm aus der Tasche ihr Portemonnaie und schüttete den Inhalt in die wachsbleiche Hand des Mannes. Und ohne Liers guten Tag zu sagen, stieß sie rasch hervor: »Kommen Sie hier fort.«

»Warum haben Sie ihm Ihr ganzes Geld gegeben?«

»Warum?« Sie lächelte und zeigte ihm ihre weißen, glitzernden, großen Zähne. »Sie denken, ich habe das aus Güte getan? 0 nein« – sie schüttelte heftig den Kopf – »es hat seinen Grund. Nämlich«, flüsterte sie geheimnisvoll, »das ist ein Trick von mir! Ich habe mir das Versprechen abgenommen, das ich dem ersten Bettler, den ich treffe, alles gebe, was ich gestern verdient habe ... ich will einmal opfern, vielleicht nützt das.«

»Mir wird übel!«

»Weshalb?«

»Daß Sie an dieser Seele so hängen!« Sein hübsches Gesicht wurde fleckig vor Zorn.

Sie sah ihn wehmütig an, ernst und groß. Er begriff sie nicht.

Nach einer Weile fragte sie: »Was haben Sie ausgekundschaftet?«

»Soll ich alles sagen?«

»Alles«, erwiderte sie und biß die Zähne aufeinander.

Er machte eine Kunstpause. »Was bekomme ich denn eigentlich dafür?«

Ihre Züge verzerrten sich in Unruhe und Sorge. »Sie sollen mich jetzt nicht quälen«, antwortete sie herrisch. »Sprechen Sie!«

»Gut!« Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und las: »Donnerstag um sieben Uhr bei der Ingolf, blieb bis neuneinhalb. Am Freitag war er um siebeneinhalb Uhr bei ihr, verweilte diesmal nur zehn Minuten. Am Sonnabend keine Zusammenkunft, Sonntag ebenfalls nicht. Am Montag erschien er wiederum um sieben Uhr und verließ um zwölf Uhr das Haus. Das Dienstmädchen habe ich bestochen. Sie wußte nicht viel. Manchmal liest er, oder schreibt. Sie duzen sich, das hat sie gehört, und haben ein richtiges Verhältnis. Genügt Ihnen das?«

Sie schwieg. Es zuckte beständig unter ihren Augen. Sie drückte beide Hände, die sie geballt hatte, fest an sich.

Er sah ihren stillen Schmerz, der ihre Schönheit wachsen ließ, und eine kurze Zeit vergaß er darüber sein eigenes Wünschen. Ihr Anblick erfüllte ihn mit Andacht, aber das dauerte nicht lange. Was nützt mir ihre Schönheit, fragte er sich unmutig. Ich bin für sie nichts ... nichts ... nichts. Und wütend stieß er hervor: »Wie können Sie sich an solch einen Idioten hängen?« Und da sie nichts entgegnete, setzte er hinzu: »Lassen Sie mich, ich weiß, was ich sage! Er ist ein Idiot, denn sonst –«

Sie ließ ihn nicht ausreden. Sie jagte davon.

Er wollte ihr nacheilen, machte einen Ansatz dazu, blieb dann aber stehen und starrte nur vor sich hin.

Habe ich sie nun eigentlich lieb? ... Ja, sagte eine Stimme in ihm. Ich schlafe weniger und treibe mich für sie auf der Straße herum. Ich fiebere, wenn ich an sie denke. Eine Weile dachte er darüber nach, ob er etwa zu seinem Ziele gelangen könnte, wenn man Fründel auf irgendeine Weise aus dem Wege räumte. Er haßte diesen Menschen, diesen Kretin, diesen bornierten Schlingel, der nicht wußte, was Schönheit war. Und so einem fliegen die Weiber zu! ...

Er drehte sich furchtsam um, ob etwa jemand ihn belauscht hatte, und ging weiter. Seine Frau fiel ihm ein. Was nützt mir denn die dicke Person, stöhnte er vor sich hin, wenn sie noch so gut gegen mich ist, wenn sie mich noch so sehr füttert. Sie weiß ja gar nicht, ahnt ja nicht, was in mir vorgeht.

Er drückte seinen weichen Filzhut tiefer in das Gesicht, schlenkerte mit den Armen, bis er unvermutet vor dem Weinrestaurant von Kempinsky in der Leipziger Straße stand. Ah, das ist gut! Er trat ein.

Es war kaum ein Platz zu erlangen.

Hier fand sich ganz Berlin zusammen. Offiziere, Börsenmänner, Touristen, Ärzte, Kommis voyageurs e tutti quanti. Die halben Portionen, die man für fünfundsiebzig Pfennige erhielt, taten es den Leuten an. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Diejenigen, die keinen so vollen Beutel hatten, kamen sich hier groß und wichtig vor. Sie saßen ebenfalls in einer Weinstube mit all dem noblen Volk zusammen. Erbaulich, murmelte der Dichter vor sich hin, als der Geschäftsführer ihm einen Platz anwies. Er bestellte sich eine Flasche Rheinwein, eine Portion Kaviar, eine Trüffel, eine Artischocke, einen halben Hummer. Man lebt nur einmal, man muß sich pflegen. Hat man in der Liebe Pech, muß man den Leib stärken. Das ist das Gesetz von der Erhaltung der Kraft.

Dann goß er sich den klaren, hellen Wein ein und trank in einem fort.

Die Umsitzenden blickten neugierig auf den hübschen Menschen mit den glänzenden Augen und den verträumten Gesichtszügen. Sein Menü frappierte sie. Er merkte das, und es tat ihm wohl, daß man ihn beobachtete. Er schielte zu einer fetten Frauensperson hinüber, die von Brillanten funkelte und ihm verliebte Blicke zuwarf.

Das könnte mir gerade noch fehlen. Ich habe an der meinigen genug. Es ist eigentlich gemein von mir, setzte er im stillen hinzu, daß ich »sie« so taxiere. All die Menschen rings um mich würden sagen, daß ich ihr zu Dank verpflichtet sei ... Bin ich ihr nun zu Dank verpflichtet? ... Das ist alles reiner Unsinn ... Was verderbe ich mir meinen schönen Wein mit so gräßlichen Fragen. Ich denke eben jetzt schlecht über sie, vielleicht werde ich sie eine Stunde später auf ihre dicken Backen küssen, mich von ihr tätscheln lassen und sie wirklich lieb und gut finden ... Und das wird auch eine Wahrheit sein ...

Die Josefa tauchte vor seinem Auge auf.

Er seufzte in sich hinein und stürzte hastig ein neues Glas hinunter.


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