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XV.

Die Liers öffnete und streckte ihnen die derben Hände entgegen. Das große Frauenzimmer zog ein schiefes Maul, um das Weinerliche in den groben Zügen zu verbergen. Und zu Thomas sagte sie leise, indem sie ihn beiseite zog: »Herr Doktor, der macht's nicht mehr lange.«

Sie traten in das Schlafzimmer ein, in dem eine peinliche Sauberkeit herrschte.

Brose lag in schneeweißen Kissen und lächelte milde. Die Malersfrau saß an seinem Bett und hielt seine rechte Hand. Eine Elster spazierte in Freiheit auf den Dielen des Zimmers einher, und dicht über dem Bett hingen zwei Vogelbauer, in denen eine Grauamsel und eine Feldlerche leise zwitscherten; auf einen kleinen Nachttisch lief innerhalb von vier starken Drahtwänden eine weiße Maus mit roten, winzigen Äugelein hin und her. Der Maler, der ein Tierfreund war, hatte sich seine Kameraden aus dem Atelier ins Krankenzimmer bringen lassen.

Heinsius ging mit einer Art von Galgenhumor auf seinen Leidensgefährten zu. Der war auch ein fälliger Wechsel auf die Nichtswürdigkeit des Daseins. Es tat ihm wohl, gerade in einem Menschen wie Brose seinen Gram und seine innere Not bestätigt zu sehen.

»Na, lieber Bruder in Christo«, sagte er lustig, »Sie scheinen sich ja ganz munter zu befinden.«

»Ja«, antwortete Brose. »Und wenn Sie meinen, in Christo gleich in homine, so akzeptiere ich Ihren Gruß.«

»Das meine ich zwar nicht; aber es schadet nichts. Nicht in Christo, nicht in homine sondern einfach in me, zu deutsch: in mir.«

»Lieber Heinsius, das ist ja dasselbe«, erwiderte der Maler und lächelte fein. Und sich an Thomas wendend: »Sehen Sie mich nicht mit so verzweifelt medizinischen Blicken an!«

Die Malersfrau schielte ängstlich zu dem Angeredeten hinüber.

»Das tue ich auch gar nicht«, antwortete Thomas.

Die Brose machte ihm Platz.

»Es ist doch etwas sehr Feierliches«, nahm der Maler das Wort wieder auf, »euch hier zu sehen. Ihr bringt mir Blumen« – er wies auf ein paar dunkle Rosen – »ihr seht mich gut an und sprecht mit mir gut; es kommen Augenblicke, wo ich mich euch ganz nahe fühle, fast so nahe wie meiner Seele« – er zeigte auf seine Frau – »und fast so nahe«, setzte er hinzu, »wie es sein sollte. Von dieser Warte aus gesehen, hat das Kranksein etwas Feines und Schönes in sich.«

»Lieber Maler, Sie sind ein Schönfärber«, warf der Volksschullehrer dazwischen.

»Sie irren, ich sehe nur ein wenig tiefer.«

»Das ist alles ganz schön«, drohte Frau Liers, »aber Sie dürfen nicht so viel sprechen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Tut mir wohl; nur keine Rezepte, Kinder, ich bin gegen alle Rezepte.«

Frau Brose erhob sich und schritt dem Atelier zu, wohin ihr die anderen außer Thomas folgten.

Eine Weile war es still. Dann beugte sich der Maler aus seinem Bett zu Thomas hin, und sein Gesicht nahm einen ängstlichen Ausdruck an.

»Sie müssen wissen«, sagte er, indem er die Stimme senkte, »daß der äußere Zusammenbruch schneller gekommen ist, als ich glaubte. Ich dachte, es würde noch ein paar Jahre gehen.«

»Das wird es auch noch.«

Brose wurde nervös. »Nein, nein, nein«, entgegnete er, »ich mache mir nichts vor, und meine Freunde dürfen es auch nicht. Es wird mit mir sehr schnell zu Ende gehen, und ich betrachte es an sich als ein Glück. Zu Ende gehen mit den paar äußerlichen Scherben, an denen nichts gelegen ist. Meine Ewigkeit bleibt. Sie machen ein verblüfftes Gesicht! Ich will auch jetzt nicht über meine Ewigkeit sprechen, darüber ein anderes Mal. Es sind andere Dinge, die mich im Augenblick beschäftigen. Ich halte es für ein wirkliches Glück«, fuhr er fort, »wenn die Geschichte rasch zum Abschluß kommt. Siech und krank sein, ist an sich schlimm; aber schlimmer noch ist es, anderen zur Last zu fallen, und am furchtbarsten für mich, ihr, deren Leben ein einziger Opferdienst gewesen ist – und über sie wollte ich mit Ihnen reden. Ich kenne Sie noch nicht lange, und dennoch komme ich mit einer Bitte. Darf ich?«

»Sie dürfen«, entgegnete Thomas bewegt.

Der Maler wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirne. »Ich bin der Ansicht, daß Sie Güte in sich haben und mit dem Menschentum es ernst nehmen, hinaus über das leere Wort. Und darum frage ich Sie: wollen Sie ihr zur Seite stehen? Sie wird sich Ihnen nicht aufdrängen. Sie ist in sich tüchtig, von edler Kraft und festem Eigenwillen. Aber dennoch, es könnten Stunden kommen, wo sie einer zuverlässigen Hand bedürfte. Vor dem Tode bekommt man, wenn ich mich so ausdrücken darf, etwas Hellseherisches – und so sehe ich den Weg voraus, den sie nehmen wird. Auf diesem Wege stehen nur Dornen, an denen sie sich blutig ritzen wird. Sie hat einen starken Körper – aber eine wunde Seele. Seien Sie ihr Arzt, wenn sie blutet; verbinden Sie ihre Wunden – ich bitte Sie flehentlich«, flüsterte er mit höchster Anstrengung. »Lassen Sie sie nicht verbluten. Lassen Sie sie nicht aus den Augen!«

Er sah Thomas durchdringend an und hing an seinen Lippen.

»Ich verspreche es Ihnen, so wahr ich Thomas Truck heiße!«

Der Maler fiel in die Kissen zurück, schloß die Augen, und auf seinem Gesicht lag für kurze Zeit Frieden und Glück.

»Sie ist mit den anderen hinausgegangen, weil sie wußte, daß ich mit Ihnen sprechen wollte. Was es ist, weiß sie nicht.« Er nahm Thomas' Rechte und streichelte sie, wie man ein Kind streichelt. »Ich habe in meinem Leben«, begann er von neuem, viel durchgemacht und viel gesehen. Gehungert habe ich vom ersten Tage an; aber durch all den Hunger bin ich gegangen, ohne den Rücken zu beugen. Und wenn es noch so dunkel war, durch ein Spältchen glimmte das Nachtlicht. Manches Mal habe ich gemeint, ich hätte mich durchgehungert und äße edles Brot. Aber immer stellte es sich heraus, daß mir der Magen schwer davon war, und daß ich schließlich Kieselsteine geschluckt hatte, die ich mit aller Gewalt und nur mühsam wieder loswerden konnte. Und dennoch bin ich weiter gegangen, ein verirrter Wanderer mit zerbrochenen Gliedern und mattem Körper, der vor dem Einbruch der Nacht doch noch eine gastliche Stätte zu finden hoffte.«

Er seufzte.

»Was war das für ein weiter, mühseliger Weg! Und trotz allem bin ich der Wanderung froh, die, Sie mögen sagen, was Sie wollen, in das gelobte Land führt. Ich stand auf dem heiligen Berge. Ich sah von dem Gipfel in das Reich der Freude, und die rote, sinkende Sonne vergoldete es mit ihren letzten Strahlen. Im Abendrot liegt das Reich der Freude! Es steht unter dem Zeichen der inneren Freiheit, und überall, allüberall sehe ich seine Bannerträger, die mit fliegenden Fahnen durch das Land eilen.«

Er hatte die edlen, schlanken Hände gefaltet auf das weiße Linnen gelegt und blickte beinahe schwärmerisch Thomas Truck an.

»Wie kommt man zur Freiheit?« fragte er bebend und hörte, wie sein Herz schlug.

»Indem man treu gegen sich selbst ist. Indem man sich sucht, und nicht aufhört, sich zu suchen, indem man sein Göttliches entdeckt. Wir leben wie elende Knechte, weil wir in uns selbst herrenlos sind; denn, glauben Sie mir, es gibt eine Sünde, und die ist wider den eigenen, heiligen Geist! Wir haben den heiligen Geist in uns und kreuzigen und martern ihn. Alle äußere Freiheit ist erst von Segen, wenn wir die innere haben. Fallen und straucheln Sie über tausend Gestrüpp, über Waldwurzeln und Felsblöcke, aber – straucheln Sie nicht über sich selbst. Sie weinen?« fragte er. »Warum weinen Sie?«

Und mit reinster Güte blickte er in das weinende Gesicht des Thomas Truck.

Thomas raffte sich zusammen. »Ich sehe mich weit von Ihnen und weit von dem Ziele«, entgegnete er gedrückt. »Für Sie gibt es keinen Zorn und keine Bitterkeit. Sie sind bereits in einem Festsaal, der hell erleuchtet ist, in dem mehr als tausend Kerzen brennen.«

Brose wehrte ab. »Sie irren. Ich sehe den Festsaal und den Kerzenschein – aber ich habe meinen Zorn und meine Bitterkeit. Und mein Zorn und meine Bitterkeit sind mir heilig! Zorn und Bitterkeit sind das Eisen, aus denen man die Waffen schmiedet, um die alten Tore zu stürmen. Der Zorn und die Rache sind uralt; sie kommen von dem alten Judengott Jehova und sind das beste und edelste an ihm. Verlernen Sie nicht den heiligen Zorn! Der Zorn und die Rache, die ich im Sinne habe, sind die mächtigsten Hebel, mit denen man innere und äußere Knechtschaft aus den Fugen hebt. Ich bin von Kindesbeinen in mir still gewesen, aber meinen Zorn und mein Rachegefühl, die hörte ich wachend bei der Arbeit und im tiefsten Schlafe, im schwersten Traum. Die Edlen sind zornig«, schloß er kaum hörbar.

Vor Thomas stiegen weiße Nebelsäulen auf, undurchdringliche Nebel. Seine Schläfen hämmerten, der Kopf tat ihm weh, und es war ihm, als ob seine Augen, vor denen es beständig hin- und herflimmerte, plötzlich geschwollen wären. Zuletzt sah er nichts mehr. Das Zimmer verschwand, die Züge des Malers waren nicht mehr sichtbar – es wogte durcheinander, alles aufgelöst in Dunkelheit. Aber brausende Töne vernahm er, in wuchtigen Akkorden, wie aus einer Messe des Johann Sebastian Bach.

Da erhob er sich und schlich, unbemerkt von den anderen, davon.

Als Thomas die frische Luft entgegenschlug, begann er allmählich wieder klar zu werden und das Erlebte nachdenkerisch in sich zu verarbeiten.

Was für eine Freiheit hatte Heinsius im Sinn und welcher Freiheit war der Maler nachgestrebt? Es war klar, daß sie beide blutig gerungen hatten, um schließlich mit zerlöcherten Lungen zu ihrem Ziele, das ihm so verschieden dünkte und doch den gleichen Namen trug, zu gelangen. Und vielleicht hatte er in beschränktem Hochmut den Volksschullehrer abgefertigt, der mutig und folgerichtig ohne Erbarmen gegen sich selbst seine Bahn zurückgelegt hatte. War das wirklich Unsinn, was er von den Gefühlen sagte? Litt er, Thomas Truck, am Ende nicht selber an einem Überschwang von Empfindsamkeit, der sein klares Denken einlullte? Vielleicht waren die Gefühle nur Krankheitsträger, die wie Irrlichter von klarer Erkenntnis und strenger Aufrichtigkeit ablenkten? Und vielleicht war seine Auffassung über Kunst ihm nur platt erschienen, weil sie ihm neu war? War sie deshalb weniger logisch im Gedankengange dieses armen Burschen, und war es schließlich nicht geistiger Hochmut, die Lebensresultate eines anderen Menschen mit einer billigen Redensart einfach von der Hand zu weisen? Wo blieb da die gewissenhafte Nachprüfung, des Sichhineinversenken in das Denken anderer? Er fröstelte. Das Denken anderer! – Was ging es ihn an? Man hatte genug zu tun, wenn man sich selber befühlte, betastete, beklopfte, wenn man das Hörrohr an seine eigene Seele legte und auf die innersten Herzenstöne lauschte! –

Er empfand über sich Ärger. Sein eigenes Bewegtsein und unruhiges Schwanken verdroß ihn. Er begann sich zu schämen. Wie hatte der Maler auf seine Rührung einen Dämpfer gesetzt, und wie gründlich hatte er ihn mißverstanden!

Er blieb stehen, zog das Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß ab; er hatte plötzlich einen üblen Geschmack auf der Zunge, und wieder begann ein dumpfes Gefühl seinen Kopf zu beschweren. Gewisse Wendungen Broses fielen ihm ein, die seine kindlichen Tränen hervorgelockt hatten. Nichts hatte auf ihn empfindlicher und schmerzhafter gewirkt, als des Malers Idee von der Treue gegen sich selbst. Er fühlte es jetzt ganz deutlich und sah klar, daß Brose mit diesem Worte die wundeste Stelle in ihm getroffen hatte. Er war aus seinem Geleise gleichsam mit Gewalt geschleudert worden, weil er sich gegen sein Innerstes vergangen hatte.

Daß er für Regine überstark und übermächtig empfand, war ein Heiliges, und hier sprach er sich von allem Makel frei – es war vielleicht ein Verhängnis, aber niemals eine Schuld. Die Schuld begann erst von dem Augenblick an, wo er kriechend und duckmäuserisch geworden war.

Es hatte nur eine Möglichkeit gegeben, schlicht, offen und bündig dem Manne die Wahrheit zu bekennen, diese Bündigkeit hatte er außer acht gelassen, aus Bequemlichkeit und niederträchtiger Feigheit!

Er blickte sich verlegen um, als ob ihn jemand in seinen innersten Gesprächen belauschen könnte. Aber die Menschen schritten gleichgültig an ihm vorüber, niemand bekümmerte sich um ihn.

Wie konnte ich so handeln? fragte er sich scheu. Wie war das möglich? Es verhielt sich genau so, wie der Maler gesagt hatte: er war über sich selbst gestrauchelt! Das stand fest. Unwiderleglich fest.

Er konnte sich nicht rein waschen.

Ich bin jetzt auf dem besten Wege, dachte er weiter, die Psychologie des Verbrechens zu begreifen. Ich fange an, zu verstehen, wie man dazu kommt, sein Innerstes zu verleugnen und das Gemeine in sich zu entdecken. Wenn mir jemand das vorausgesagt hätte! Ah, dachte er, das ist das Erbteil vom Vater her;, aber in dem Augenblicke, wo dieser Gedanke entstand, empfand er ihn wiederum als einen Selbstbetrug und eine jämmerliche Selbstverteidigung. Es war sehr bequem, sich auf solche Weise den Rücken zu decken. Und doch unterlag es für ihn keinem Zweifel, daß die Tamara nie und nimmer auf einen derartigen Irrweg hätte geraten können! Die Urreinheit ihres Wesens hatte sie davor behütet.

Er kam wieder zu seiner Verbrechertheorie zurück.

Es gibt also dunkle Mächte, die einen treiben, Einbruch zu verüben oder, wie Brose es ausdrückte, den heiligen Geist in sich zu kreuzigen. Es war nur ein Zufall, wenn die Sündigen diesen dunklen Mächten entgingen. Es konnte eine Stunde kommen, die die Auslösung des Verbrecherischen im Menschen besorgte. Das Verbrecherische stand tief im Dunkel; es hielt mit weit aufgerissenen Augen Wacht, hatte seine Netze weit ausgespannt und wartete auf den Fang – und er war in diese Netze gegangen. Er zappelte darin wie ein verängstigter Fisch, der mit seinem Schwanze um sich schlägt und seine Äuglein komisch aufreißt.

Er blieb mechanisch vor einer Litfaßsäule stehen und starrte auf die bunten, angeschlagenen Zettel: Ball in Joachims Festsälen, las er ... Letztes Philharmonisches Konzert unter Nikisch. Extravorstellung im Zirkus Busch, Götterdämmerung, Die Dame vom Maxim. Er las die Titel, und sie kamen ihm komisch und verrenkt vor – tolle Aushängeschilder von Narren für Narren. Er drehte sich erschreckt um. Jemand hatte ihn gezupft. Der Student der Theologie Bechert stand dicht vor ihm und grinste ihn an, wie es ihm dünkte.

»Ah, guten Tag«, sagte er zerstreut.

»Sie wollen wohl heute ins Theater gehen?«

»Hm, ja«, machte er und wußte eigentlich nicht, was er geantwortet hatte.

»Sind Sie schon einmal in Joachims Ballsälen gewesen?«

Thomas starrte ihn verständnislos an.

»Wissen Sie«, sagte plötzlich der andere unvermittelt, »ich würde nicht ungern Ihrem Nachtlichtverein beitreten, aber, offen gesagt, es stört mich, daß Sie Juden aufnehmen. Sie sollten unbedingt auf eine rein arische Zusammensetzung halten. Hören Sie zu?«

»Nein«, entgegnete Thomas und verschwand mit einem kurzen Gruß.

Studiosus Bechert blickte ihm betroffen nach und fuhr mit Zeigefinger und Daumen von der Stirn bis zum Kinn über sein glattrasiertes Gesicht.

Als Thomas nach Hause kam, fand er zu seiner Verwunderung in seiner Wohnung Blinsky vor, der ihn noch nie besucht hatte.

»Verzeihen Sie«, sagte er schüchtern, »wenn ich Sie aufstöre.«

Dann reichte er ihm zur Erklärung einen ärmlichen Briefbogen, auf dem in unsicherer, tastender Hand zitterige Buchstaben mit blasser Tinte geschrieben standen. Er war von Maria Werft, die Blinsky in rührendem Ton um Hilfe bat. Sie lag seit vierzehn Tagen krank und konnte ihre Miete nicht bezahlen. Zwischen den Zeilen war außerdem zu lesen, daß sie halb verhungert sei. Am Schlusse stand: »Wenn Sie mir nicht helfen können, so zeigen Sie diesen Brief dem gnädigen Herrn Thomas Truck. Aber wenn Sie mir helfen können, so zeigen Sie ihm den Brief nicht.«

Blinsky erzählte stockend, daß er sein Letztes für den Maler Brose hergegeben habe. Er schämte sich bei diesem Bekenntnis und vermied es, Thomas anzusehen. Er wurde erst ein wenig freier und lustiger, als er weiter berichtete, wie man der Lissauerin ebenfalls eine bestimmte Summe Geldes abgenötigt habe. Das sei der Grund, weshalb er sich an ihn wenden müsse, da seine Hilfsquellen erschöpft seien. Thomas dankte, und ohne seinen Mantel abzulegen, begleitete er Blinsky. Den Brief der Maria Werft, der ihre Adresse enthielt, steckte er in seine Seitentasche.

Blinsky verabschiedete sich rasch, und Thomas stand plötzlich vor dem Delikatessengeschäft, wo Regine an jenem denkwürdigen Abend die Leckerbissen für ihr Liebesmahl eingekauft hatte. An diesem Abend hungerte vielleicht bereits die Maria Werft und marterte ihr leeres Hirn mit den entsetzlichen Fragen, die die Not stellt. An diesem Abend dachte sie vielleicht in ihrem armseligen Bettgestell an ihn, den sie so hartnäckig »gnädiger Herr« titulierte. »Gnädig« – wieviel Knechtseligkeit und wieviel niedrige Komik lag in diesen Worten!

Er fragte sich, wie er dazu kam, auch nur einen Groschen überflüssiges Geld für sich in Anspruch zu nehmen. Im Grunde genommen lebte er wie ein Schmarotzer; während die Leute vom Nachtlicht sich krank und elend darbten, saß er in seinen vier Wänden und naschte Kaviar und Lachs.

Ich bewege mich doch auf einer ganz falschen Linie, fuhr er sich grimmig an. Ich verwechsele die Begriffe. Nicht daß ich Kaviar und Lachs esse, ist ein Verbrechen; erbärmlich ist nur, daß die Dinge liegen, wie sie liegen. Daß an der Freudentafel nur eine Handvoll Menschen sitzt, während die anderen mit gierigen Blicken und ausgehungerten Magen feindselig daneben stehen.

Er trat in den Laden, und jede Einzelheit des Abends fiel ihm ein. Und wieder drangen warme Glückswellen zu seinem Herzen, wieder sah er sie, die sich zu ihm bekannt hatte.

Ein Kommis fragte ihn, was er befehle.

»Ich befehle nichts!« Und beinahe grob fügte er hinzu: »Wie können Sie sich selbst so erniedrigen!«

Der Kommis lächelte bescheiden, im stillen dachte er: Was ist das für eine überspannte Kruke.

Thomas kaufte zwei Mandeln Trinkeier, Schinken, Würste, eine Brust Spickgans, mehrere Flaschen Ungarwein, und zuletzt ließ er noch eine Dose mit Kaviar füllen. Sie sollte es gerade so gut haben wie er an jenem Abend.

»Dieses alles packen Sie in einen Korb«, sagte er langsam, »und schicken ihn nach der Bärwaldstraße 14, Hof, vier Treppen, abzugeben an Fräulein Maria Werft, beim Flickschneider Kessel wohnhaft.«

Wieder lächelte der Kommis. Er hatte seine eigenen Gedanken.

Thomas sah es nicht, er war ganz mit sich beschäftigt, während der Kommis von einem Block einen weißen Zettel riß, auf dem er die einzelnen Posten des Einkaufs notiert hatte. Diesen Zettel gab Thomas an der Kasse ab.

Die Kassiererin wartete eine Weile vergebens, daß er sich dazu bequemen würde, den Beutel hervorzuziehen.

Andere Kunden drängten sich heran.

»Ja, das macht dreiundzwanzig Mark fünfzig«, sagte sie und sah ihn von oben bis unten an. Sie erinnerte sich, daß dieser Mensch vor wenigen Tagen erst, ebenfalls zur Abendzeit, mit einer pikfeinen Dame hier gestanden hatte.

Thomas zuckte ordentlich zusammen und legte einen Hundertmarkschein hin. Die Kassiererin gab ihm heraus, und er verließ eiligst das Geschäft.

Als der Laden sich geleert hatte, sagte der Kommis zur Kassiererin: »Das scheint ein toller Hecht zu sein!«

Sie nickte verständnisvoll.

Thomas ging zum nächsten Postamt, wo er den größeren Rest der Summe an die Maria Werft sandte; er beschloß in der Stunde, keinen Pfennig mehr für sich zu behalten, als er zu seinem dringendsten Lebensunterhalte bedurfte.

Einen Augenblick tat ihm das wohl, aber gleich darauf raunte ihm eine Stimme zu: Täusche dich doch nicht, das tust du alles aus purem Egoismus, einzig aus dem Grunde, um an gewissen, brüchigen Stellen eine Schutzmauer gegen dich selbst aufzurichten.

In dieser Sekunde tiefster Seelenpein trat das blutende Lächeln der Tamara auf seine Züge.


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