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XVII.

Herr Berg begrüßte Thomas mit ungeheuchelter Freundlichkeit und führte ihn gleich zu Tisch.

Die gnädige Frau kam herein, als die Suppe bereits aufgetragen war. Sie sah blaß und leidend aus und reichte ihm stumm die Hand.

Ihr Anblick ergriff ihn. Und wenn er in der Laune des Verliebten zuerst unmutig gewesen war, daß sie ihn nicht vor ihrem Manne begrüßt hatte, so verflog das schnell.

Auch der Junge saß bei Tisch und redete ihn zutraulich mit »Onkel Thomas« an. Sein schwächliches Körperchen trug ein altes und kluges Gesicht. Thomas war der einzige Gast. Und während der Mahlzeit zog ihn der Hausherr beständig ins Gespräch.

Sie war einsilbig, nervös und von einer zitternden Unruhe. Mehrere Male fuhr sie ihren Mann an, als er das Wort an sie richtete.

Der Junge schielte ordentlich verschreckt zu ihr hinüber, er schien die Zustände der Mutter zu kennen.

Auch Herr Berg mied es, sie anzureden.

»Meine Frau«, sagte er einmal, devot lächelnd, »hat heute ihren Tag. Weh dem, der ihr verfällt! Nehmen Sie sich in acht, ich rate es Ihnen. Das heißt«, fügte er hinzu, »Sie stehen ja bei ihr in Gunst und dürfen schon etwas wagen.«

Bei diesen Worten blickte sie ihn bitterböse an. Sie tat den Mund auf, als ob sie eine gereizte Bemerkung machen wollte, dann aber schloß sie verächtlich wieder ihre Lippen.

Als der servierende Diener einmal durch eine ungeschickte Bewegung ein Geräusch hervorrief, konnte sie sich nicht beherrschen.

»Sie sind wohl toll geworden?« schrie sie. Und als der eingeschüchterte Mensch etwas erwidern wollte, wies sie ihm mit einer herrischen Bewegung die Tür.

Vater und Sohn sahen sich gleichzeitig an und blickten starr auf ihre Teller.

Was hat sie? fragte sich Thomas im stillen und wußte sich keine Antwort. Ihr Benehmen machte ihn ratlos und quälte ihn. Er hatte die Einladung nur angenommen, um Klarheit zu schaffen, und nun schuf ihre Art alles verwirrter und unklarer denn je. Warum zeigte sie ihm offenkundig dieses Zerrbild ihres eigenen Ichs?

Und dennoch fühlte er, wie stark er sie liebte. Sie konnte sich ihm zeigen, wie sie wollte, seine Leidenschaft erfüllte ihn und ließ alles, was sie tat, in einem andern Lichte erscheinen. In jeder Sekunde hatte er tausend und eine Entschuldigung für sie bereit.

Die Tafel wurde aufgehoben.

»Sie entschuldigen, wenn ich mich ein Stündchen lege«, sagte Herr Berg, »aber in meinem Alter ...« Er nahm den Jungen mit und wollte, ohne ein Wort an sie zu richten, aus dem Zimmer gehen. Als er schon in der Tür stand, wandte er sich noch einmal um. »Darf ich der Gnädigen gesegnete Mahlzeit wünschen?«

Sie nickte ihm flüchtig zu.

Er machte noch eine Handbewegung gegen Thomas und verschwand.

Eine Minute horchten beide.

Dann drückte sie an der elektrischen Glocke.

»Ich wünsche von niemandem gestört zu werden«, sagte sie zu dem eintretenden Diener.

Ihr Ton klang herrisch.

»So, jetzt komm«, flüsterte sie.

Sie zog ihn leise an der Hand durch eine Flucht von Zimmern in ein kleines Damenboudoir.

Sie schloß die Tür, ging dann auf ihn zu und sah ihn eine flüchtige, kleine Weile in tiefer, verhaltener Erregung an. Alles Herrische war von ihr gestreift. Ihre Gestalt hatte etwas Hilfloses und Zerbrochenes. Ihre Wortlosigkeit schien zu sagen: Sieh, ich liege am Boden, hebe mich auf.

Diese ihre verwandelte Haltung bewegte Thomas bis ins Innerste ... das war die Regine, an der er hing, die von seinem ganzen Wesen Besitz genommen hatte. Er legte seine zitternde Hand auf ihr dunkles Haar.

Seine Berührung nahm ihr den Rest ihrer Selbstbeherrschung. Ohne einen Laut hervorzubringen, zog sie ihn wie eine Verdürstende an sich und küßte ihn leidenschaftlich.

Und nun vergaßen sie alles. Es kam eine Trunkenheit über sie, die jeden Gedanken an die Außenwelt aus ihrer Erinnerung trieb. All ihr Empfinden und Denken war nur darauf gerichtet, sich für die lange Trennung schadlos zu halten.

Thomas war, als ob ihre Blicke alle Vorstellungen und Gedanken, in denen er früher gelebt, ausbrannten. Er sah in ihren Augen keine Tränen, und dennoch waren sie feucht und schluchzten in tiefer, unsagbarer Freude, die sich ihm mitteilte. Alles, was sie sprach, klang ihm wie leise, gedämpfte Sphärenmusik, die aus weiter Ferne kam und seine Sinne betörte. Er fühlte auch, wie sein Haar zitterte, wie sie es streifte.

»Schließ die Augen!«

Thomas gehorchte.

Sie küßte ihn im Kranze – den Hals, das Ohr, die Stirn, die Augen und zuletzt den Mund.

»Du darfst dich nicht rühren«, flüsterte sie, und immer wieder küßte sie ihn. »So, jetzt sieh mich an«, sagte sie plötzlich. Und fiebernd raunte sie ihm zu: »Wenn du wüßtest, wie ich mich nach dir sehne!«

Sie riß ihn mit sich fort und entzündete seine junge Manneskraft.

»Du zerdrückst mich ja«, stöhnte sie einmal, aber als er nachlassen wollte, setzte sie unter Tränen lächelnd schnell hinzu: »Nein, zerdrücke mich; ich will, daß du mich zerdrückst!«

Das brachte ihn zur Besinnung. »Ich will dich nicht zerdrücken, ich will mit dir leben«, antwortete er ernst.

Sie duckte sich wie ein Kätzchen und blinzelte mißtrauisch zu ihm hinüber, als verstünde sie nicht den ganzen Sinn seiner Worte.

Er wollte sprechen, aber von neuem verschloß sie ihm mit tausend Zärtlichkeiten den Mund. Nur ganz dunkel fühlte er eine Auflösung seiner Kräfte. Er fühlte, wie sein Wille weich wurde, wie aller Widerstand in der Glut dieses Liebesfeuers zerfloß. Er wollte sich dagegen wehren. Er wollte das, was er sagen mußte, sagen; aber er empfand nur eines, daß es ihm in dieser Stunde unmöglich war.

Sie fuhr auf einmal empor und trat horchend an die Tür.

Und diese Bewegung rüttelte ihn und brachte ihn von neuem zur Besinnung.

Sie strich sich die Haare zurück, und voll schmerzlicher Hingebung sagte sie: »Komm hinein, er wartet gewiß schon.«

Aber als sie in sein Gesicht blickte, sah sie darauf einen todesscheuen Ausdruck und eine furchtbare Leblosigkeit. Auch war es ihr, als ob es in seinen Augen zu bluten anfing.

»Was hast du?« schrie sie entsetzt auf und schmiegte sich sofort wieder an ihn.

In der Stunde erkannte sie deutlich, daß er jedes Wort gleichsam wie mit einer Zange aus sich herausholen mußte; sie fühlte instinktiv die Anstrengung, die ihn das Sprechen kostete.

»Ich muß noch mit dir reden. Versprich, daß ich heute noch mit dir reden kann«, brachte er mühsam hervor.

»Ich verspreche es dir, du wirst mich begleiten, zu Bekannten begleiten, die ich aufsuchen muß. Und jetzt komm.«

Im Herrenzimmer war zum Kaffee gedeckt.

Die gnädige Frau verließ Thomas auf einen Moment. Er stand allein und lehnte sich an die Wand.

Wenn ich nur nicht umfalle ... Ich darf nicht umfallen ...

Es verstrich eine Zeit, die ihm ohne Ende vorkam.

Als sie wieder eintrat, bemerkte er sofort auf ihrem Gesicht einen Ausdruck nervöser Unruhe.

»Was ist denn?«

»Nichts, nichts«, entgegnete sie zerstreut und suchte ihm zu verbergen, was in ihr vorging.

Da blickte er sie tieftraurig an.

»Ich suche meinen Mann«, sagte sie erklärend und sich gleichsam entschuldigend. Dabei mied sie es, ihn anzusehen. »War er vielleicht hier?« fügte sie rasch hinzu, um in Thomas jeden anderen Gedanken zu verscheuchen.

»Nein«, antwortete er schmerzhaft.

»Ja, wo steckt er denn?« Sie drückte an einem elektrischen Knopf.

Unmittelbar darauf erschien ein Diener.

»Ist der Herr ausgegangen?«

Der Diener zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht, gnädige Frau, ich bin eben erst gekommen, ich hatte ...«

»Das ist mir ganz gleichgültig!« Sie fixierte ihn scharf. »Fragen Sie den Portier, ob der Herr bereits fort ist!«

Der Diener verschwand.

Wieder verstrich eine Spanne Zeit, die in beiden eine Art von banger Stimmung aufwachsen ließ.

»Er ist doch um die Zeit immer noch da«, brachte sie geärgert hervor. »Ich muß ihm doch sagen, daß ich fortgehe, daß ich –« sie brach ab, denn plötzlich schien sie zu merken, wie sie mit jedem Worte Thomas peinigte. Sie hatte die Vorstellung, daß sie sich an ihm versündigt hätte. Er litt durch sie. Sie wollte wieder gutmachen, was sie an ihm verschuldet. Mit einem glücklichen Lächeln, das ihre Miene verklärte, zog sie ihr seidenes Taschentüchlein hervor und drückte es ihm in die Hand.

In diesem Augenblick erschien Herr Berg auf der Schwelle. Sein Gesicht war verzerrt, es hatte etwas Verweintes und Vergrämtes. Er blickte Thomas eine flüchtige Weile verständnislos und beinahe blöde an und suchte über ihn hinweg Regine zu begegnen.

»Was hast du denn?« fragte sie unwirsch; aber aus dem Ton ihrer Stimme klang doch etwas wie Angst.

Er gab keine Antwort, sondern stierte sie nur fassungslos an, und seine Züge schienen noch weinerlicher zu werden.

Um Gottes willen, dachte Thomas, was ist das? Ihm war es, als ob er jeden Halt verlöre, als ob unter ihm die Erde sich auftäte und er langsam herabgezogen würde. Nimm dich zusammen, schrie er sich innerlich an. Nimm dich zusammen, wiederholte er noch einmal und ballte fest die Hände.

Regine warf den Kopf zurück und ging ganz dicht auf Berg zu. »Willst du mir jetzt sagen, was mit dir ist?«

Ihr Blick und ihre Stimme schienen ihn einzuschüchtern. Er wollte sprechen, aber nur ein paar lallende Laute entrangen sich ihm.

Sie lachte kurz und haßerfüllt auf.

Ihr Lachen schreckte ihn und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er sah einfältig empor. »Man hat ... man hat mich ...« stammelte er langsam – wieder machte er eine kleine Pause – »man hat mich soeben benachrichtigt«, fuhr er dann, gleichsam sich überstürzend, fort, um unmittelbar darauf wieder in eine Art von Stottern zu verfallen – »daß ... daß ... daß meine ... Mutter vom ... vom Schlage getroffen ist ... Sie ... Sie ... entschuldigen«, wandte er sich mit Anstrengung an Thomas.

Der murmelte ein paar nichtssagende Worte und taumelte aus dem Zimmer.

Auf der Straße war er ein paar Minuten wie benommen. Das Erlebnis der letzten Stunde hatte ihn vor sich selbst gedemütigt. Was spielte er für eine Rolle? Bin ich das? ... Bin ich das wirklich? ... Er kam sich so getreten vor. Er empfand einen nagenden Schmerz, den er nicht loswerden konnte. Sein Gesicht verzog sich in einem fort. Es arbeitete in ihm. Immer sah er diesen mißhandelten und gedrückten Ehemenschen vor sich. Die Erinnerung an die verstörten Züge verfolgte ihn. Ah ... er atmete erleichtert auf und zog ihr seidenes Tüchlein hervor. Er sog den Duft des Parfüms ein – und fühlte, wie alle seine Martern leise sich davon stahlen. Einen Augenblick dachte er noch daran, daß das auch eine Art von Betäubung sei, daß er aus Schwäche und Furcht zu vergessen suchte ... er lächelte befremdet. Dann aber sah er nur noch sie. Ihr Haar berührte ihn. Er fühlte voller Süße ihren Atem. Ihre Lippen beugten sich sehnsüchtig zu ihm hin.


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