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XII.

Die Leute rissen die Mäuler auf über die häufigen Besuche des Predigers im Doktorhause. Wer hätte je gedacht, daß der Pfaff und Arzt unter den Verhältnissen solche Freundschaft schließen würden!

Als Thomas damals den Vater darum gebeten, hatte der hell aufgelacht und dem Jungen die Tür gewiesen.

Aber Thomas war nicht aus dem Zimmer gegangen. Es war das erstemal nach der Prügelszene, wo sich die beiden wieder Aug in Auge gegenüberstanden.

Als der Junge sah, daß sein Spiel verloren sein könnte, sagte er drohend: »Vielleicht stirbt sie, und dann hast du auch ihren letzten Wunsch –«

Er hielt inne, denn das veränderte Gesicht seines Vaters erschreckte ihn. Des Knaben Worte hatten ihn getroffen und eingeschüchtert. Er sah auf einmal hell in die Zukunft. Sah Tamara auf dem Totenbette; sah alles Kommende und sah, wie Thomas von ihm Rechenschaft fordern würde. Der war sein ernsthafter Gegner, er spürte es, und der würde mit seinen Augen ihn verfolgen.

So willigte er schließlich ein. Bei Lungenkrankheiten gab es keine Kurpfuscherei. Und wenn sie des geistlichen Trostes bedurfte, warum sollte er ihn ihr nehmen?

Es kam noch etwas hinzu, das ihn willensmürbe machte. Er fühlte sich der andern wegen unsicher, und der Geistliche konnte daraus unter Umständen einen Strick gegen ihn drehen. Es war in jedem Falle ratsamer, sich gut mit ihm zu stellen, und praktischer und lebensklüger war es auch. Den Leuten wurden die Mäuler gestopft, wenn der Prediger bei ihm verkehrte. Damit zeigte er deutlich, daß er den Geistlichen in seiner Eigenschaft als Kurpfuscher nicht ernst nahm. So willigte er unter innerem Widerstreben ein, ohne die Folgen vorauszusehen, die aus diesem Zusammenhange erwachsen sollten. Als Thomas dem Prediger die Botschaft brachte, erhellte sich das ernste Gesicht, und ohne zu fragen und zu forschen, versprach er zu kommen. Nie in seinem ganzen späteren Leben vergaß Thomas den Augenblick, wo er den Prediger in Tamaras Zimmer führte.

Er sah, wie das Gesicht der Mutter sich zart rötete; wie der Prediger sich tief zu ihr herabbeugte, ergriffen von der mädchenhaften Anmut und Schönheit dieser kranken Frau. Und nach der ersten Minute sprachen sie miteinander wie alte Freunde, die sich nur durch einen Zufall jahrelang nicht gesehen hatten. Und die Augen der Tamara leuchteten in einem Glück auf, das Thomas nur in spärlichen Momenten bei ihr wahrgenommen hatte. Die Rosen im Zimmer dufteten milder, die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Räume bis in den letzten Winkel. Tamaras liebliche Züge dünkten dem Jungen wie das Gesicht einer Heiligen, die für ihre Seelenreinheit mit der Gnade des Himmels gesegnet war. Und als dann zwei weiße Kerzen in silbernen Leuchtern entzündet waren, da verwandelte sich ihm das Krankenzimmer in eine Kapelle. Und bald kam der Prediger jeden Nachmittag zu der scheidenden Frau.

Die Mütter der Stadt, die für ihre Töchter auf ihn spekulierten, denn er war ein Witmann, ohne Anhang und Kind, hielten sich im stillen darüber auf. Aber sie hüteten sich ängstlich, daß die bösen Reden zu seinen Ohren kamen; denn er hatte trotz seiner Güte und Sanftmut eine überlegene Würde, die ihre Zungen zügelte.

Schon wenn die Tamara seine Nähe fühlte, wenn er schweigend an ihrem Bette saß, und sie voll Liebe ansah, war sie glücklich. Und er selbst freute sich auf die Stunde des Tages, wo er bei ihr sein durfte. Leise, unhörbar, strömten ihre Seelen ineinander.

Niemals kam Thomas um diese Zeit in das Zimmer. Er ahnte, was da vorging, und wollte auch nicht für einen Augenblick die späte Süßigkeit der Mutter verkürzen.

Einmal sagte die Tamara, und um ihre Mundwinkel zuckte es dabei wie in verhaltenem Weinen: »All mein Leben bin ich mit einer großen Sehnsucht einsam einhergegangen. Immer habe ich im stillen gebetet, es möchte jemand kommen und seine leichten Hände auf mich legen, mich mit guten Augen ansehen und mit warmer Stimme zu mir sprechen. Aber niemand kam; ich fror mit meiner Jugend. Nein«, unterbrach sie sich, »ich will nicht ungerecht sein, Thomas kam, und auch in meinem Herzen wuchsen Frühlingsblumen. Aber«, fuhr sie demütig fort, »es war doch etwas anders, wie ich mir geträumt hatte. Und nun kommt die ganze Erfüllung, nun, wo ich sterben muß.«

Sie zürnte und haderte nicht, sie war so dankbar, daß ein freundliches Schicksal ihr einsames Leben, gerade als es verglimmen wollte, noch einmal erwärmte.

Er hörte ihr schweigend zu und spürte ihre Leiden. Er spürte sie doppelt, weil er wußte, daß er hier nicht helfen konnte. So schnitten ihm ihre Worte ins Herz, während er sanft ihre Hand streichelte. Immer hatte er die Liebe gepredigt, obwohl sein eigenes Leben lieblos gewesen war. Nun hatte er die Frau gefunden, wie er sie sich in stillen Träumen ersonnen hatte, edel und anmutig, hingebend und keusch, zärtlich und feinsinnig. Und er durfte sie ansehen, die einem anderen gehörte, ohne gegen das Wort sich zu versündigen. Er konnte sie mit seinen Augen begehren und nahm sie dem andern nicht, der sie ja nie besessen hatte. Sie war eine Blume, die erst im Sterben blühte. Sie wußten das beide, wenn ihre Finger sich berührten und ihre ernsten Augen sich trafen. Sie wußten, daß sie beim Todesmahl saßen und den milden, süßen Klang der letzten Glocken hörten. Aus dem Kelche dieser Blume blühte Liebe und Leiden. Sie fühlten es, daß neben ihrem Glück der Gram kauerte.

Sie gestand ihm, daß sie dahingeträumt hätte, ohne recht zu glauben und ohne zu beten. Und er antwortete ihr voller Zuversicht, daß an ihrem Glauben nicht zu mäkeln wäre, denn ihr ganzes Leben sei ein einziges Gebet voll Selbstaufopferung gewesen.

Bei solchen Worten blühten auf ihrem schönen, verfallenen Gesicht Rosen auf, und sie strahlte in demütigem Stolze.

Sie durfte nur wenig sprechen, er litt es nicht. Aber er erzählte ihr aus seiner Welt und von seinem Glauben, der anders war, als die Leute schlechthin meinten. Oder er las ihr Dante und Goethe vor, und dann klang ihr seine Stimme wie Sphärenmusik, so daß selbst jene Geigentöne, die sie als tiefes Vermächtnis der Jugend still in sich trug, daneben verblaßten. Von der Liebe des Petrarca erzählte er ihr, die ewig gewesen sei, obwohl sie ohne Erfüllung blieb. Zwei Menschen, die sich nur einmal gesehen und in diesem einen schmerz- und wonnereichen Augenblick für ihr ganzes Leben durchleuchtet worden waren. Das ergriff sie, so daß aus ihren bangen Augen glitzernde, schwere Tränen sich lösten.

Und wie er den Weg zu Tamaras Herzen gefunden hatte, so fand er ihn zu Thomas, der ihm atemlos lauschte, wenn er ihm den Sinn der Evangelien freilegte, die Gestalt des Erlösers ihm neu erschuf. Hier hörte es Thomas zum erstenmal, daß Christus' Leben und Sein als ein Bekenntnis des Glaubens an die Menschheit aufzufassen sei. Der Leidende und ans Kreuz Geschlagene, der Wissende, der die Worte gesprochen hatte: Bevor der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verraten, hatte nie an der Menschen Güte gezweifelt. Thomas erfuhr, daß in dem Worte: Ich bin des Menschen Sohn, ein Hohelied auf den Menschen enthalten sei. Denn wenn Christus des Menschen Sohn war, so mußte die Menschheit in ihrem innersten Kern milde, fruchtreich und edel sein. Und im Zusammenhang mit dieser Lehre war es eins der ernstesten und schönsten Symbole, daß Christus auferstand, wenn die dunkle, geheimnisvolle Mutter Erde durch Schnee und Eiskrusten zu neuem Leben erwachte. Und von der Mutter Erde, die alles gab, weil sie geben mußte, verschwenderisch und selbstlos, kam der Prediger auf die Mütter zu sprechen, die schmerzensreichen und beladenen. Und aus allem hörte Thomas einen Lobgesang auf die Tamara heraus. Freilich blieb er ein skeptischer Hörer, der beängstigende Fragen stellte und traurig den Kopf schüttelte, wenn die Antwort für ihn nicht befriedigend ausfiel. Die Rätsel und scheinbaren Widersprüche des Glaubens, sagte der Geistliche, müsse man hinnehmen. Man dürfe nicht auf die kleinlichen Einwände des Verstandes hochmütig pochen.

Dann senkte wohl Thomas den Kopf und schwieg. Aber eine Stimme in seinem Innern empörte sich und ließ sich nicht beruhigen. Und noch mehr reizte ihn die kleine Bettina durch ihren Widerspruch, wenn er ihr von seinen Stunden erzählte.

Sie lachte wie ein kleiner Kobold und wehrte sich verzweifelt gegen den lieben Gott. Und auf alle Einflüsterungen des Knaben, in dessen weichem Gemüt gütige Lehren feine Wurzelfäden schlugen, hatte sie immer die nämliche eintönige Antwort: »Das ist ganz gut und schön, Thomas, aber die Mama ist allezeit so elend und traurig gewesen, und ich glaube, die Tamara auch.« Im Gespräch mit Thomas pflegte sie auch nur »die Tamara« zu sagen. »Der liebe Gott hat nicht geholfen«, schloß sie, »ich kann nicht beten.«

Da gab es Thomas auf, sie zu überzeugen; denn gegen ihre letzte Weisheit, deren Stachel er ja selbst tief genug empfand, wußte er keinen Einwand. Und niemand wußte einen, nicht Tamara, nicht der Prediger. Das war die dunkle, düstere Kluft, über die auch er niemals hinwegkam.


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