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XVII.

Es gab Tage, an denen Thomas unter der Arbeitslast zusammenzubrechen meinte. Der »Festsaal« wollte nicht nur Kritik üben, er wollte auch das freiheitliche Ideal ausbauen und an die Stelle dessen, was bekämpft wurde, wirklich Positives setzen. Es wurden Diskutierabende veranstaltet, wie man sie früher bereits im Nachtlicht abgehalten hatte. Fremde Gäste kamen. Man hörte zuweilen neue Einwände, man mußte antworten auf Grund von Kenntnissen und Erfahrungen.

Es war das große Verdienst Fründels gewesen, dessen Lern- und Arbeitstrieb ebenfalls etwas Fanatisches hatte, daß er den Diskutierabenden eine bestimmte Richtung gab. Man beschäftigte sich systematisch mit den reformatorischen Denkern, die ihnen Wegweiser waren. Fründel selbst gab zusammenfassende Referate über Dühring, die dann in gekürzter Form im »Festsaal« erschienen. Mit dem Mute des Autodidakten, mit der rücksichtslosen Energie, die ihm sein einmal errungener Standpunkt verlieh, übte er Kritik. Hier aber mit einem gewissen Respekte, den man trotz der heftigen Form herausfühlte. Er wurde leidenschaftlich, weil ihn die Klarheit des Forschers unsicher machte. Andererseits fand er vieles, was seiner kämpferischen Natur Nahrung gab.

Thomas hatte das medizinische Studium ganz aufstecken wollen, aber die Brose hatte ihn davon abzubringen gewußt. Mit einer Eindringlichkeit und Ängstlichkeit, die Thomas betroffen machten, stürmte sie auf ihn ein.

»Sie haben ein Ziel vor sich, auf das Sie jahrelang hingearbeitet haben, Sie stehen dicht vor einem Abschluß, Sie dürfen die Vorteile, die Ihnen möglicherweise daraus erwachsen könnten, nicht aufs Spiel setzen. Sie wissen nicht, was die Zukunft Ihnen bringt. Hier haben Sie einen Halt, den Ihnen niemand nehmen kann.«

Sie, die sonst nach keiner Richtung hin Opportunistin war, fand tausend Gründe und Worte. Alle Arbeit, von der sie ihn befreien konnte, nahm sie gern und willig auf sich. Und ihre Augen funkelten vor Freude, als er ihr endlich nachgab.

Mehr noch als die Arbeit begann auf Thomas die Sorge zu lasten. Bei aller Einschränkung und allem Sparen schwanden die Mittel zusehends; denn neben den Kosten des »Festsaal« mußte noch sein und Heinsius' Unterhalt bestritten werden. Die Brose, die sich im Dienste des Blattes aufrieb, nahm keinen Pfennig. Und alle Versuche, sie zum Annehmen des Entgelts zu bewegen, waren vergeblich. Sie konnte dann aufbrausend und unwillig werden. Sie verdiene sich ihr Brot auf andere Weise, man solle ihr nicht das Leben sauer machen. Sie, die seit dem Tode des Malers in lautlosem Schweigen, in sich verschlossen, ihren Weg schritt, konnte bei der Erörterung dieser Frage gegen Thomas so heftig werden, daß er es schließlich aufgab.

Sie war die Vertraute seiner Geldsorgen. Sie rechnete mit ihm, führte die Bücher und teilte seine Ängste, auch wenn sie nicht darüber sprach.

Eines Tages machte Thomas kurzen Prozeß. Er schrieb in energischer Weise, so schwer es ihm ankam, an den Vater, daß er den Rest seines Vermögens notwendig brauche. Die Hypotheken müßten gekündigt, oder das Geld auf irgendeine andere Art beschafft werden. Er fügte hinzu, der Vater soll keine Ausflüchte machen, da er seinen Willen aufrechterhalten müsse. Und dieses »müsse« hatte er mit Riesenlettern auf die letzte Seite des Briefbogens gesetzt.

Nun wartete er erregt auf die Antwort. Nach Absendung des Briefes reichten auf Grund der von der Brose aufgestellten Berechnungen die Gelder gerade noch so weit, um den »Festsaal« noch dreimal erscheinen zu lassen.

Tage vergingen. Und auf die Tage folgten schlaflose Nächte, ohne daß aus der Heimat ein Zeichen kam. Thomas verzehrte sich in seiner Unruhe. Er wollte niemandem zeigen, was er innerlich durchmachte. Er kam sich für das ganze Unternehmen verantwortlich vor. Es durfte unter keinen Umständen in seinen ersten Anfängen kläglich enden. Er wurde fast arbeitsunfähig.

Bei jeder Post ging er dem Briefträger ganze Straßen entgegen. Der Mann lächelte bereits mitleidig, wenn er ihn sah. Dieses Lächeln schnitt ihm in die Seele. Er kam sich ungeheuer leichtfertig vor, daß er mit so geringen Mitteln das Blatt begründet hatte. Eines Nachts stand er auf, warf sich hastig die Kleider um und packte die nötigsten Gegenstände. Alles tat er leise und vorsichtig wie ein Dieb. Er hatte die Furcht, daß Heinsius erwachen und Fragen an ihn richten könne. Hin und wieder warf er auf ihn einen mißtrauischen Blick. Der aber schlief fest und ruhig.

Er setzte mit zittrigen Buchstaben ein paar Zeilen auf. Sie waren an die Brose gerichtet. Er schrieb ihr, daß er heim müßte, da es keinen andern Ausweg mehr gäbe. Dann schlich er, in der Rechten die Reisetasche, aus dem Zimmer und verließ auf den Fußspitzen das Haus. Erst als er im Freien war, atmete er auf. Es war stockdunkel.

Warum tue ich alles das so heimlich? sann er und fand darauf keine Antwort. Die Nacht tat ihm weh. Immer wieder fragte er sich, weshalb er sich so unfrei vorkomme. Vielleicht habe ich Furcht vor der Begegnung mit dem Vater. Er schämte sich dieses Gedankens und konnte ihn nicht ganz zurückweisen. Sie hatten sich so viele Jahre nicht gesehen.

Während er durch die Finsternis schritt, zogen mit einem Male Kindheitsbilder an ihm vorbei. Alles, was so lange versunken war, tauchte in lebendigen Formen und Gestalten wieder auf: die Tamara, die einmal Tamara und einmal eine weiße Lilie war ... die Bettina mit ihrer kleinen Geige in den zarten Händen ... der Prediger ... der Garten ... Wie war das alles so wunderlich, so verschlungen, so unentwirrbar ...

Er atmete schwer und ging schneller. Sein ganzes Leben war rätselhaft. Und wieder erschien ihm alles in seinem Dasein dunkel und verschleiert. Er war ein Wanderer in Finsternis. Einem dünnen Lichtschein jagte er nach. Oder vielleicht war das nur ein Irrlicht, das närrisch hin- und herhüpfte und verschwand, sobald er ihm nahe zu sein glaubte ... Am Bahnhofsschalter erfuhr er, daß der Zug, den er brauchte, in fünf Minuten abging. Es kam ihm vor, als ob der Beamte ihn mißtrauisch angesehen hätte. Also dieser Zug hat gerade auf mich gewartet, dachte er bei sich.

Das Kupee war durch eine trübe Lampe erleuchtet. Nur wenige fuhren mit. Es war ein Bummelzug, der auf fast allen Stationen hielt. Immer war es das nämliche Bahnhofsbild. Briefe und Pakete wurden hinein- und herausgegeben. Der Stationsvorsteher empfing übernächtig, mit verschlafenen Augen den Zug, sprach ein paar brummige Worte mit dem Lokomotivführer und gab das Zeichen zur Abfahrt.

Jedesmal trat Thomas auf den Perron und sah sich ängstlich um, als erwarte er etwas Besonderes. Auf einer Station nahm er wahr, wie der Schaffner, auf ihn weisend, dem Stationsvorsteher etwas zuflüsterte, und wie die beiden ihn scharf fixierten und miteinander tuschelten. Die halten mich für einen Verbrecher, sagte er zu sich selbst, und einen Augenblick hatte er den Drang, auf sie zuzugehen und sich diesen niederträchtigen Verdacht zu verbitten. Er machte auch einen Anlauf, dann aber kam ihm sein Gebaren kindisch und überreizt vor. Schließlich wurde er matt und schlief mehrere Stunden hindurch. Er träumte krauses Zeug. Er sah unendlich viele Gesangbücher und Bibeln in schwarzen Einbänden. Und dazwischen das Gesicht der Maria Werft. Dann sah er die Hände der Maria, bloß die Hände, die nach den schwarzen Bibeln griffen. Dann tauchte auf einmal Studiosus Bechert in einem knallgelben Jackett auf. Er trat an die Maria heran und entwand ihr ein Gesangbuch. Er sprach etwas, das Thomas nicht verstand. Aber die Bilder schwanden schnell, und statt ihrer tauchte das durchfurchte, erloschene Leidensgesicht eines Mannes auf, das mit quälender Güte ihn anblickte. Er zerbrach sich im Schlafe das Hirn, wo er diese Züge gesehen. Der Mensch hatte ein Lächeln, das nicht von dieser Welt war ... Ah, er erinnerte sich. Er erinnerte sich wie mit einem Schlage ... auf der einsamen Bahnfahrt ... damals als er in die Berge fuhr ... Er erwachte gerade, als der Zug einfuhr, und sein Ziel erreicht war. Er war müde und zerschlagen. Aber seine Müdigkeit wich im Nu.

Er betrachtete genau das Bahnhofsgebäude. Es sah unverändert wie damals aus und kam ihm doch so fremd und neu vor.

Als er ausstieg, blickte ihn der Stationsvorsteher, der alt und grau geworden war, flüchtig an. Der Mann erkannte ihn nicht mehr ... niemand schien ihn zu erkennen. Mit seiner Tasche unter dem Arm schritt er auf die Straße. Wie benommen ging er durch den Morgen. Er sah auf die blühenden Felder, in den klaren Himmel. Er hörte das Zwitschern und Singen der Vögel. Nur wenige Menschen eilten an ihm vorüber.

»Hui!« rief der Kutscher neben einem schwerbeladenen Heuwagen und trieb seine Gäule an.

Nun erst kam er in die eigentliche Stadt.

Auf Schritt und Tritt maß man ihn mit erstaunten Blicken ... allen war er ein Fremder. Und fremd fühlte er sich selbst hier, losgerissen ... entwurzelt.

Und jetzt stand er vor dem Garten ... er fühlte auf einmal, daß die Knie ihm schlotterten. Das Tor stand auf. Er schlich sich hinein. Ihm war es, als müßten die Tamara und die Bettina in weißen Gewändern auf ihn zukommen und die weißen Hände ihm reichen ... Wie lag der Garten so anders da! Verwandelt ... ungehegt ... alles wuchs in ihm wild durcheinander. Nur die alten Bäume, die Ebereschen und die Pappeln, standen an ihrem alten Platze und dahinter die Weiden und die Zypressen. Auch sah er den Weiher, der grau und schmutzig dalag und mit Algen bedeckt war ... und dennoch war die Schönheit des Gartens nicht geschwunden, ja, in seiner Wildheit, in seiner Verwüstung schien er noch verwunschener, wunderbarer, einsamer und seltener denn je zuvor ...

Die liebelosen Hände hatten ihm nichts anzutun vermocht. Und so still, so wunderbar still war es hier ... Gewiß, es war ihm unzweifelhaft, es stand der Garten unter dem Schutze der Tamara ... und hier waren ihm die Geigentöne der Bettina erklungen ... War das wirklich alles gewesen? ... Lag das wirklich so viele Jahre hinter ihm? ... Oder träumte er nur? ...

Um ihn Stille ... Todesstille ... Stille ohne Ende ... Und wieder lag er im Grase und blickte in die Sonne, lange, unbeweglich. Ein süßes, schluchzendes Singen von Nachtigallen weckte ihn. Und vielleicht auch der Duft der Gräser und Blumen. Und vielleicht auch das Rauschen in den Baumkronen ...

Er erhob sich hastig, ging wieder auf die Straße und läutete vor dem Hause.

Ein Dienstmädchen öffnete. Sie fragte nach seinem Begehren, ohne eine Antwort zu erhalten.

Er ging an ihr vorüber.

Jetzt stand er vor dem Sprechzimmer seines Vaters und klinkte die Tür auf. Er hatte nicht angeklopft. Das Zimmer war leer.

Er wartete eine Weile. Nun hörte er schwere Schritte ...

Und nun trat der Vater ein, blieb in der Tür stehen und gab einen kurzen Schrei der Verwunderung von sich.

Dann blickte er ihn stumm und verblüfft an.

Auch Thomas war von dem Anblick befremdet. War das der Vater? Er war fett und korpulent geworden und hatte ein aufgeschwemmtes, rotes Trinkergesicht. Auf seinen Zügen lag jener herrische und selbstbewußte Ausdruck, den man auf den Mienen der Ärzte findet, die in einer kleinen Stadt oder auf dem Lande hausen. Der Verkehr mit dem Landvolk, das Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit gibt ihnen eine Sicherheit und tyrannische Art, die mit ihren Fähigkeiten gewöhnlich im schärfsten Widerspruche stehen. Haare und Schnurrbart trug der Vater noch immer geschniegelt und gestriegelt.

»Guten Tag«, sagte Thomas, während der Doktor näher trat.

Sie reichten sich die Hände, aber in dem Händedruck des Vaters lag etwas Kaltes und Feindseliges. Thomas spürte es.

Der Doktor beobachtete ihn lauernd und gespannt. Er betrachtete ihn wie einen Eindringling, dessen er sich erwehren mußte. Dabei hatte er ein Gefühl der Unsicherheit dem großgewachsenen schlanken Menschen gegenüber, der so ernst und ruhig ihn maß.

Sie schwiegen.

»Du scheinst Überraschungen zu lieben«, brachte der Vater endlich hervor.

Thomas erwiderte: »Du weißt, warum ich gekommen bin. Ich brauche das Geld. Ich habe vergebens auf deine Antwort gewartet!«

Das rote Gesicht des Doktors wurde noch roter. Er erhob sich ganz unvermittelt. »Ich weiß, wozu du das Geld brauchst. Ich kenne den sauberen Zweck.« Und indem er sich plötzlich in einen künstlichen Zorn hineinarbeitete, schlug er mit seiner fleischigen Faust auf den Schreibtisch. »Das sind ja saubere Sachen, die du angestellt hast!« schrie er. Seine Stimme schnappte über. »Saubere Sachen«, wiederholte er noch einmal. »Du willst dich wohl um Kopf und Kragen schreiben mit diesem hirnverbrannten Gefasel.« Er machte eine kleine Pause und sah Thomas herausfordernd an.

Aber der entgegnete nichts. Er empfand es so deutlich, daß sie nichts, nichts gemein hatten, daß auch jeder Versuch einer Verständigung ausgeschlossen war. Er fühlte, daß er dem Manne nicht einmal mehr gram sein konnte. Seine Ruhe brachte den Vater noch mehr in Zorn.

»Wie kommst du dazu«, fuhr er, sich überstürzend, fort, »in solchem Ton gegen alles Bestehende zu toben?« Er lachte laut und grell auf. »Ein netter Beruf, sich zum Anwalt von arbeitslosem, lichtscheuem Gesindel aufzuspielen! Bist du denn gar von Sinnen gekommen? Weißt du, daß du mich damit kompromittierst? Wenn es dir unbekannt sein sollte: Ich bin Kreisphysikus, königlicher Beamter. Und wenn du es nicht wissen solltest«, setzte er hinzu und reckte sich ein wenig: »ich bin Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung. Ich liege nicht auf dem Bärenfell! Wer seine Pflicht tut, befindet sich wohl.« Und plötzlich ganz verwirrt durch das beständige Schweigen Thomas' sagte er in etwas leiserem Ton: »Möchtest du mir über dieses Treiben nicht wenigstens Rechenschaft geben?«

»Nein«, entgegnete Thomas, »das will ich nicht«, und eine schmerzliche Falte legte sich zwischen seine Augenbrauen.

Der Doktor verschränkte die Arme. Eine maßlose Wut bemächtigte sich seiner. Dann trat auf einmal ein eisiger Hohn und eine offene Schadenfreude auf sein Gesicht. »Ich möchte nur erfahren, auf Grund welcher genialen Anlagen du dir herausnimmst, gegen Vernunft, Ordnung und Gesetz loszuziehen. Ich kann es schließlich verstehen«, setzte er überlegen hinzu, »daß ein wirklich großer Mensch – aber du, du lieber Gott, wo liegt denn deine Größe? ... Wenn jeder überspannte Narr ...« er hielt furchtsam inne, er erinnerte sich plötzlich an jene Szene, wo er Thomas als Knaben hatte meistern wollen, und wo die Tamara zwischen sie getreten war. Es war ihm, als ob die Gestalt von Thomas etwas Drohendes bekam; er duckte sich gleichsam.

Da ging über Thomas' Miene ein wunderliches Lächeln, das bitter war. Er sagte kaum hörbar, während er zu Boden sah: »Ich wollte über alles das mit dir nicht sprechen. Ich sah darin kein Heil; aber vielleicht ist es das letztemal, daß wir uns sehen. Und darum will ich dir antworten: Weder bin ich ein Wegelagerer und Aufrührer, noch ein genialer Mensch. Niemals habe ich das letztere von mir behauptet. Ich bin einfach einer, der an die Entwicklung des Menschen und an die Güte glaubt. Ich kämpfe für Erkenntnisse und Dinge, die längst vor mir ausgesprochen sind. Ich weiß das. Aber alles das hat in mir gelebt, gerungen von klein auf. So ein unaufhaltsamer Drang«, sagte er mit gedämpfter Stimme, gleichsam in die Vergangenheit zurückblickend und zurücksinnend, »nach Licht, nach Wahrheit und Freiheit ... und nun versuche ich das, was in mir klar geworden ist, in Leben, in Tat umzusetzen. Ich versuche«, murmelte er stockend, »mich selbst zu erfüllen. Mögen diese Wahrheiten von anderen gefunden sein, darauf kommt es für mich nicht an. Sie wurden zu meinen Wahrheiten, indem ich sie in mir selbst schuf. Ich tue auch nichts –« er hielt inne – begreift er mich denn, fragte er sich im stillen. Dennoch fühlte er das Bedürfnis, in dieser Stunde ihm alles zu sagen, sich nackt vor ihm zu enthüllen – »was ich tue«, fuhr er fort, »erhebt nicht den geringsten Anspruch auf Lob. Ich tue es einfach, weil ich es tun muß. In mir ist ein Rad, das mich treibt ... nämlich ... für mich gibt es eine ewige Wahrheit, die sich erfüllen muß, die man treten und stampfen und doch nicht zertreten kann. Und dafür kämpfe ich ... dafür muß ich kämpfen.«

Und mit einem unendlich traurigen Gesichtsausdruck fügte er hinzu: »Ich kann mir gar nichts Niederdrückenderes denken, als daß nur der überragende Mensch für seine Erkenntnisse eintreten darf« – seine Finger bewegten sich in einem fort – »es ist doch klar«, sagte er schwerfällig, »daß schließlich die Wahrheit in den Besitz aller gelangen muß ... Was ich will. Ich will Bewußtheit, ich will mich nicht nach anderen richten.« ... Er strich sich das Haar zurück, das ihm in die Stirn gefallen war. »Wenn einer ein Mensch, bloß ein Mensch sein will, so brüllen sie, er wolle sich zum Genie aufspielen. Oder sie halten ihn für einen kompletten Narren.« Sein Gesicht hellte sich auf; er lächelte jetzt ganz milde. – »Das muß man auf sich nehmen«, schloß er ruhig.

Der Doktor blickte ihn verständnislos an. Er begriff ihn wirklich nicht. Das war nicht Fleisch von seinem Fleische und noch weniger Geist von seinem Geiste. Es fing ihn bereits zu langweilen an, zudem war er unruhig.

»Ich habe das Geld nicht«, erklärte er brüsk und ohne Zusammenhang.

In diesem Augenblicke trat eine dicke Frauensperson in die Tür. Mißtrauisch schielte sie auf Thomas hin. Sie war liederlich gekleidet und trug das dunkle, schwarze Haar wirr und unordentlich. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

»Das ist Thomas«, stellte der Doktor verlegen und scheu vor.

Sie kam näher und reichte ihm ihre fleischige Hand mit einer schlecht gemachten Zutraulichkeit, die ihn abstieß.

Einen Augenblick herrschte Stille ...

Der Doktor gab der Frau ein Zeichen; sie entfernte sich wieder.

Es war Thomas aufgefallen, daß die Sicherheit des Vaters in Gegenwart dieser unmäßig in die Breite gegangenen Frau geschwunden war. Als die Tür sich geschlossen hatte, sagte er bestimmt und mit Anstrengung: »Ich kann dir nicht zu Willen sein, ich muß das Geld unbedingt haben!«

Das kupferrote Gesicht des Vaters bekam etwas Kreidiges.

»Für das Blatt?«

»Ja.«

»Ich habe das Geld nicht mehr«, schrie er außer sich, »ich habe es verloren!«

»Das ist ja nicht möglich«, stammelte Thomas, und es schien ihm, als ob man ihn in die Tiefe zöge, in dunkle Tiefe ...

Und jetzt begann auf einmal der heftige Mann klein zu werden, winzig, erbärmlich und furchtsam. Er bekam eine so entsetzlich geduckte und gebeugte Haltung. Er erzählte in zusammenhanglosen, wirren Worten eine lange Geschichte von Spekulationen, die Thomas nicht verstand. Er begriff nur, daß sein Vermögen so gut wie verloren sei.

»Wenn du für alle Mitleid übrig hast«, endete der Doktor mit einem hinterlistigen Ton in der Stimme, »so mußt du doch zunächst bei mir damit anfangen!«

Thomas stand schwerfällig auf. Er war bleich geworden. Eine Flucht quälender, zwiespältiger Gedanken jagte durch sein Gehirn. Es flirrte ihm vor den Augen. Ich muß ruhig und kalt bleiben, sagte er zu sich, ich muß sehen, was noch zu retten ist. Er raffte sich auf. »Ich werde so nicht fortgehen. Ich brauche das Geld.«

Der Vater verfiel in Weinerlichkeit. »Freunde stehen dir also näher?«

Darauf gab Thomas keine Antwort. »Ich will wissen«, entgegnete er, Silbe für Silbe betonend, »wieviel Geld du aufzutreiben vermagst. Alles weitere werde ich mir dann überlegen.« Sein Gesicht zeigte eine unbeugsame Entschlossenheit. Sein Ton klang rauh und fest.

Der starke, breitschultrige Mann schien eingeschüchtert. »Ich kann gerade noch fünftausend Mark schaffen«, erwiderte er unsicher.

»Das ist alles?«

Der Vater nickte nur.

Thomas trat an das Fenster und blickte auf die Straße mit den niedrigen Häusern, den roten Ziegeldächern, den grünen Fensterläden. Er litt unter dieser Szene. Wieder drehte er sich um. Er sah, wie der Vater in Furcht fieberte. »Wenn ich das Geld sofort bekommen kann, will ich auf alles weitere verzichten«, meinte er ruhig.

»Du kannst es«, antwortete der Doktor hastig, »du kannst es. Ich habe gleich deinen Brief ...« Er brach ab und ergriff Thomas bei der Hand. »Junge«, sagte er bedrückt und drehte sich vorsichtig nach allen Seiten um. »Junge«, flüsterte er, »wenn du wüßtest, wie es mir ... gegangen ist ... ich ... ich ...« Und nun entrangen sich ihm ein paar stöhnende und gurgelnde Laute ...

Das war eine große Marter für Thomas.

Der Vater mochte es fühlen. Er nahm sich zusammen und beide gingen in das Wohnzimmer.

Ein starkes, knochiges Mädchen, rot und gesund, trat ihnen entgegen. Sie hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Frau des Doktors. Der nämliche sinnliche, breite Mund, das nämliche dichte, dunkle Haar und die tiefbraunen, begehrlichen Augen. Sie starrte mit unverhohlener Neugier Thomas an. Dem schien es, als ob der Vater auch vor seiner Tochter eine gewisse Scheu habe.

Die Frau kam wieder herein. Mit einem raschen Blicke orientierte sie sich, daß alles im reinen war. Sie dirigierte den Mann mit ihren Augen.

»Das ist deine Schwester«, brachte der Doktor mit mühsamem Lächeln hervor, indem er auf das Mädchen wies.

Die Frau ließ sich währenddessen breit auf das Sofa nieder und legte ihre Hände auf die Knie. Und ohne sich im mindesten Zwang anzutun, stieß sie in einem herrischen, wegwerfenden Ton hervor: »Schöne Dummheiten hat er gemacht ... das ganze Geld ... na, reden wir nicht darüber!«

Thomas wandte sich zur Tür. Er hielt es hier nicht länger aus. Die Luft hatte etwas Erdrückendes. »Ich muß noch zu dem Prediger«, sagte er beklommen. Niemand hielt ihn.

Das also war das Wiedersehen! dachte er, als er im Freien war. Er holte tief zum Atmen aus. Es war ihm ein Bedürfnis, seine Brust zu weiten. An den Wiesen schritt er entlang, die in voller Sommerpracht vor ihm lagen, bunte, tausend- und aber tausendfach gemusterte Teppiche im Lichte gebadet. Und in der Sonne glitten Libellen an ihm vorbei, Bienen sogen süßen Honig aus den Blüten. Es surrte in den Lüften, die Grasmücken zirpten, Falter flogen an ihm vorüber. Und nun sah er, wie eine Feldlerche in die Höhe stieg mit freudigem Gesange.

Er trat in das Pfarrhaus.

Vor der Stube des Freundes blieb er stehen. Er erinnerte sich an die Stunde, wo er zum erstenmal mit pochendem, laut schlagendem Herzen diesen Weg gegangen war. Und mit jäher Geschwindigkeit tauchten all die Dinge auf, sich förmlich drängend und überstürzend, die sich zwischen ihm und dem Prediger begeben hatten.

Er klopfte zaghaft ... Und jetzt standen sie sich gegenüber. Sie hielten sich die Hände; sie sprachen kein Wort ... alles in ihnen war Freude und Weh.

Auch an dem Prediger waren die zehn Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Die Schläfen waren grau geworden, aber das gütige Gesicht war das gleiche geblieben, milde, feierabendlich, ernst.

Er betrachtete Thomas mit einem forschenden Blick. »Du bist es«, rief er dann bewegt, und auf seinem edlen Antlitz leuchtete ein reines Glück. Er rang seine Empfindung nieder. Und in herzlichem Tone fuhr er fort: »Wenn du wüßtest, mein Junge, mein großer Junge, wie ich mich all die Zeit auf dies Wiedersehen gefreut habe! Warte einen Augenblick!« Er ging hinaus, und bald folgte ihm wieder die Haushälterin mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern. »Das muß gefeiert werden.«

Er schenkte den Wein ein, und Thomas war es, als ob die feingeschnittene Hand zitterte. Sie sprachen von mancherlei. Aber in alles klang leise der Name Tamara hinein. »Ich will dir etwas zeigen«, sagte der Freund, öffnete den Sekretär und nahm ein feines Medaillonbild heraus, das die Tamara in ihrer blühenden Jugend darstellte.

Thomas hielt es lange in der Hand.

»Wenn ich nicht mehr bin, so kommt es wieder in deinen Besitz. Bis dahin mußt du es mir lassen!« Er schritt mehrere Male durch das niedrige Gemach, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Dann blieb er vor Thomas stehen und legte die Hände auf seine Schultern, blickte ihm tief und fest in die Augen. »Ich freue mich an dir von ganzem Herzen, dein Weg ist ein richtiger Weg!« Und indem sein Gesicht sich in viele Falten zog, fügte er hinzu: »Jedes Wort, das du schreibst, kommt aus deinem Innersten. Mit den anderen, die an deiner Seite kämpfen, kann ich nicht ganz mitgehen. Ich höre da einen Ton, der mir in den Ohren gellt, einen so schmerzhaften Ton. Ich fühle auch hier einen großen Willen – und dennoch habe ich Schmerzen dabei. –«

Er machte eine kleine Pause. »Gib mir die Hand darauf, oder nein«, unterbrach er sich, »du brauchst mir deine Hand nicht zu geben. Ich wünschte, daß du dich niemals drängen ließest ... von niemandem. Daß du jetzt und immer stark in dir bliebest! Es könnte«, sagte er langsam, »eine Zeit kommen, da du dich auch von diesen trennst. Laß es dich nicht bekümmern, werde in deiner Einsamkeit nicht irre! Die einsamen Wege eröffnen nicht selten weite Blicke.«

Er hielt inne, und mit einem rührenden, kindlichen Ausdruck, gleichsam um Entschuldigung bittend, schloß er dann: »Sei mir ob meiner langen Rede nicht gram ... man hat sich so eine Ewigkeit nicht gesehen ... man möchte alles sagen, was man auf dem Herzen hat.« –

Das war eine der heiligsten Stunden im Leben des Thomas Truck. Ein großes, weites Glücksgefühl kam über ihn. Es engte ihm die Kehle und trug ihn zugleich hoch empor. Eine Stimme in ihm tönte: Dieses ist mehr, als dein Tun verdient.

Er wandte sich ab und blickte aus dem niedrigen Fenster. Was für ein Tag war auf die letzte Nacht gefolgt! Alles lag so gut, so klar, so hell und schön vor ihm.

Sie setzten sich nieder, und der Prediger nahm zuweilen seine Hand wie die eines Kindes und streichelte sie.

»In diesen Jahren«, sagte Thomas mit unterdrückter Stimme, »ist soviel Leid und Kampf in mir gewesen ... und heute liegt das weit hinter mir, wo du so zu mir sprichst. Nein, nein, ich werde nicht hochmütig, glaube es ...!«

»Ich glaube es!«

Und nun erzählte ihm Thomas von den Freunden, den Mitstreitern, von allem und jedem. Er verstummte plötzlich, und seine Züge verdüsterten sich. »Es gibt manches, was ich dir heute nicht sagen möchte, was an mir gefressen hat ... und Schuld in mir trug ... ich möchte mir den Tag nicht trüben.«

»Du sollst es nicht!«

Damit nahm der Prediger sein Glas in die Höhe und stieß mit Thomas an. Die Gläser klangen gut und rein zusammen.

Der Freund mußte ihm nun berichten. Und immer wieder und wieder vernahm er von der großen Gedächtnisfeier, die der stille Mensch neben ihm für die Tamara gehalten. Wie er Jahre hindurch an dem großen und kargen Glück gezehrt hatte, das ein gütiges Schicksal in sein Leben getragen hatte.

Sie saßen zusammen, und die Stunden rauschten an ihnen vorüber. Sie fuhren auf einem weiten Wasser, er und der Freund, in Frieden und Schönheit. Der Kahn glitt leise dahin, sie sahen die unendliche, unendliche, unergründliche Tiefe, und sie blickten in den Himmel, der sich über ihnen wölbte mit silbernen schweren, gebirgigen Wolken ...

Es dunkelte, als sie sich wortlos trennten ...

Wohin jetzt ...? Er sann nicht nach.

Und auf einmal war er wieder in dem Garten an dem Grabhügel der Tamara.

Aus der Erde stiegen Dämpfe empor ... auf den Gräsern lag Abendtau ...

Du ... du ... du ... flüsterte er vor sich hin – und erschauerte.

Dann richtete er sich kerzengerade auf und begab sich in das Innere des Hauses. Die Frauen sahen ihn kalt und feindlich an, er merkte es nicht. Um die elfte Stunde verließ er wieder das Haus. Er wollte noch mit dem Nachtzug heim.

Die Trennung von dem Vater war kurz, aber in dem Händedruck fanden sie sich diesmal.

Er leidet, er leidet, sagte Thomas zu sich, und es war ihm, als ob er ihn nun ganz begriffe.

Durch die schwarze Nacht, die schwere Reisetasche wieder in der Rechten, eilte er zum Bahnhof. Er ging einen anderen Weg als den, welchen er gekommen war. Es funkelte in der Finsternis. Glühwürmchen glitten langsam durch die Luft auf ihn zu, erloschen im Augenblick, erstrahlten in ihrer smaragdenen Pracht von neuem, flogen in die Höhe und senkten sich wie ein Sternenregen auf das dunkle Blattgewühl der Bäume nieder, wo sie nun glitzerten und leuchteten. Und dann sah er sie plötzlich zahllos in einer Niederung. Hier führten sie ein verliebtes Schwärmen, einen süßen Reigen auf. Ihre Liebe erhellte die Nacht. Dann wieder rückten sie ganz nah und dicht in Pärchen aufeinander und betupften die Gräser wie mit schillerndem Edelgestein. Und von neuem begannen sie ihren Reigen und ihr Schwärmen. Und nun tauchten sie unter und verschwanden ... Und alles duftete um ihn ...

Überall ist Liebe und Schönheit, dachte er und konnte sich von diesem Schauspiel nicht losreißen.

Endlich schritt er weiter.

Weißlich stieg jetzt der Nebel empor. Lange Pappeln ragten gespenstisch groß in die Höhe. Durch den Nebel blickten wunderlich die Weiden, wie mit Schleiern verhangen. An unendlichen Obstbaumreihen schritt er vorbei. Eine heilige Stille um ihn ... Und plötzlich war er ganz von Erddämpfen eingehüllt ... Musik klang zu ihm; dünn und fein ... aber er hörte sie deutlich ... jeden Ton hörte er.

Die Landstraße hatte ein Ende. Die Lichter des Bahnhofs blinkten ihm entgegen, menschliches Gewimmel und menschliche Stimmen drangen zu ihm. Er stand wieder auf dem Perron, saß wieder in dem Kupee, beugte sich aus dem Fenster, betrachtete alles um sich aufmerksam und ernst, als wollte er es sich fest in das Gedächtnis prägen, bis der kurze Pfiff der Lokomotive erschallte und der Zug sich in Bewegung setzte.

Und nun ging es wieder dahin, wo der Kampf und die geheimnisvolle Zukunft vor ihm lagen.


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