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XIV.

Am Martinitage fiel in schweren, weißen Flocken überreich der erste Schnee. Über die Rasenflächen und verloschenen Blumenbeete legte er sich wie ein weites Grabestuch, wie eine Hülle über alles Leben. Die Bäume mit ihren kahlen, in Schnee eingeschichteten Zweigen starrten in die nebelige Landschaft; und die Wolken schienen so undurchdringlich und massig in ihrer blassen, nächternen Farblosigkeit, als ob sie ihr Leichentuch bis ins Unbegrenzte ausspannen wollten.

Der Garten sah unheimlich aus.

Die Zypressen und Pappeln ragten in ihrem neuen Gewande gleichsam noch höher in die Luft – Todesbäume in bleicher Majestät.

Der Weiher lag in all dem Weiß so schmutzig und jämmerlich da, daß er einen traurigen Anblick bot.

Die Laute der Vögel waren verstummt; nur ob der unerwarteten Kälte kümmerlich zwitschernde Sperlinge ließen sich vernehmen.

Der Doktor hatte einen Kollegen aus der nächsten Stadt zugezogen und mit ernster Amtsmiene ein feierliches Konsilium abgehalten. Der fremde Arzt hielt er für dringend nötig, daß Tamara den Winter im Süden zubrächte.

Der Doktor nickte bekräftigend. Aber die Kranke wurde so verwirrt, wehrte so bestimmt und entschieden ab, und erklärte so bestimmt, sie müßte kläglich zugrunde gehen, wenn man sie aus ihren vier Pfählen reißen wollte, daß man den Entschluß aufgab.

Der Doktor machte ein betrübtes Gesicht und zog resigniert die Achseln in die Höhe. Der Kollege drückte dem gebeugten Manne tröstend die Hand und fuhr wieder davon.

Tamara atmete erst auf, als das Rollen seines Wagens längst verklungen war.

Es ging ihr in der Folge immer schlechter. Sie magerte zusehends und rapide ab; ihre Hände wurden immer zarter und leichter und ihre Züge bleich und durchsichtig. Dennoch behielt ihr Gesicht seine Lieblichkeit und bekam durch die unergründlichen, immer größer werdenden Augen einen übersinnlichen Ausdruck. Sie kämpfte vergebens gegen ihre Müdigkeit, und wenn sie die Augen schloß und der Spitzeneinsatz den edlen schlanken Hals freiließ, so glich sie bereits einer entschlummerten Heiligen. Nur wenn der Prediger kam, raffte sie sich gewaltsam auf, und das Lächeln, das sie dann verklärte, hatte etwas Rührendes. Es war, als wollte sie jeden Blick, jedes Wort von ihm einschlürfen und den letzten Brosamen, den letzten Tropfen ihres kargen Liebesmahles behutsam auffangen.

Er saß an ihrem Bette immer mit der nämlichen Heiterkeit und Herzensgüte. Und jeden Tag brachte er ihr etwas, das ihm selbst lieb und teuer war. Einmal zog er einen dünnen, goldenen Reifen aus der Tasche und steckte ihn an ihren abgezehrten Finger; der Reifen umschlang ihn, ohne herunterzugleiten.

»Dies ist der Trauring meiner Mutter, deren Hand der Ihrigen geglichen hat –«

Bei diesen Worten strich er sich flüchtig das Haar aus der Stirn und wagte es nicht, sie anzusehen.

Sie aber nahm seine Rechte, küßte sie und ließ sie nicht mehr los.

Seitdem trug sie den Ring; er war ihr ein Talisman, auch wenn der Geber nicht bei ihr war. Sie liebkoste ihn und drückte ihn an ihre blutlosen, dünnen Lippen.

Durch diesen Ring fühlte sie sich ihm vereint über das irdische Leben hinaus.

In einer Dämmerstunde sagte sie zu ihm auf den Ring weisend, glücksscheu: »Damit haben Sie sich mir gelobt für alle Ewigkeit, für unsere Ewigkeit!«

Bei dem tief bewegten Klange ihrer Stimme verlor er die mühsam beherrschte Fassung. Er wandte sich zur Seite, und etwas wie ein Schluchzen drang zu ihr.

Da rief sie ihn leise bei seinem Namen – »Ulrich« – und schlang die dünnen Arme, auf denen die bläulichen Adern wie auf einem edlen Gestein durchbrachen, um ihn und küßte ihn keusch.

»Weine nicht, weil ich verglimmen will. Mir gab das Leben –« sie stockte einen Augenblick, dann wiederholte sie, vor innerer Wärme erstrahlend: »mir gab das Leben die Erfüllung. Alles, was von Sehnsucht in mir gewachsen ist, blüht sich aus, nun, wo ich deine Hand fasse, wo ich dich bei mir weiß.«

Sie sank vor Erschöpfung zurück, und eine lange Weile war es in dem Zimmer totenstill.

Es saß da, aufgerüttelt in den Tiefen seiner Seele, er rang mit sich, und sein Glaube wurde ihm in dieser Stunde schmerzensreich. Er hörte plötzlich das Schärfen einer Sense, er hörte, wie sie über das schwere, wogende Korn fuhr, um es vom Erdreich zu trennen. Er blutete bei diesem innerlichen Geräusch, dessen er lange nicht Herr werden konnte. Und dann auf einmal glaubte er weiche Tritte zu vernehmen, und Gesichter stiegen im Dunkel des Gemachs vor ihm auf. Ihm war, als ob in langem Zuge die Mütter dem Lager seiner Dulderin sich näherten, um sie mit wehen, sanften Lauten zu rufen. Sie trugen leichte Gewänder, und ihre traurigen Augen blickten rein und edel.

Da trat er an das Fenster und sah in den weißen Garten.

Ihre Stimme rief ihn von neuem. »Ich lege an dein Herz das Liebste, was ich lassen muß – den Jungen, dessen Sehnsucht so wund ist wie die meine. Leg deine Hände wie auf mich – so auf Thomas. Und auch für die kleine Bettina mußt du etwas tun«, setzte sie zaghaft hinzu, »du mußt ihm schreiben, daß er für –«

Sie brach kraftlos ab. »Geh jetzt«, bat sie demütig. Als er schon an der Tür war, rief sie ihn zurück.

»Du, küsse mich!«

Das war der Abend, an dem seine Lippen das erste- und letztemal die ihrigen berührt hatten – noch in der nämlichen Nacht verlöschte sie still wie ein karges, blaues Flämmchen, das mit seinem unruhigen Flackern um ein Kleines mit dem Tode ringt.


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