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XIX.

Unten im Hausflur verweilte die Josefa. Sie nahm aus ihrer Tasche ein kleines Fläschchen, das mit Vitriol gefüllt war, und betrachtete die grüne Flüssigkeit lange. Warum habe ich ihr das nicht ins Gesicht gegossen? Und sie empfand bei diesem Gedanken nicht das leiseste Grauen. Warum tat ich es eigentlich nicht? Sie spitzte auf eigentümliche Art den Mund und rieb die Zunge an den Zähnen, als wollte sie sich einen bitteren Geschmack vertreiben. Sie stellte sich das vom Vitriol zerfressene Gesicht der Ingolf vor und malte sich aus, was der Mechaniker dazu sagen würde.

»Oh ... oh ...« rief sie plötzlich, steckte die Flasche ein und eilte aus dem Torweg.

Wieder gafften ihr die Menschen auf der Straße nach.

Ihr Gang hatte etwas Anmutiges, Schwebendes, leicht Wippendes.

Ein Herr eilte ihr nach und wollte mit ihr anbandeln.

»Ah, guten Tag, Fräulein«, begann er, »wir kennen uns doch? Darf ich Sie ein Stückchen begleiten?«

Sie blickte ihn so abwesend an, daß er mit einem fatalen Lächeln sich davonmachte.

»Äh!« stieß sie hervor und spürte wieder den bitteren Geschmack im Munde.

Auf einmal sah sie Studiosus Bechert mit der Maria Werft auf sich zukommen.

Der Studiosus grinste verlegen, das dürftige Gesicht der Werft verfärbte sich.

Sie nickte kaum und eilte an ihnen vorbei. Und in ganz ungerechtfertigtem Zorn sagte sie vor sich hin: »So eine dumme Gans ... sich mit dem Duckmäuser einzulassen ... Wer weiß, was sie ihm alles ausplaudert ...«

Sie bekam einen Haß auf das Mädchen. Sie drehte sich um und nahm wahr, daß der Studiosus ihr nachsah.

»Pfui Teufel!« – sie spuckte aus. Aber gleich darauf bekamen ihre Gedanken wieder die alte Richtung.

Sie zog die Uhr hervor und beschleunigte ihre Schritte. Was hat er eigentlich an der Ingolf? Hübsch ist sie doch nicht?

Sie suchte nun sich selbst von oben bis unten anzuschauen.

»Was hat er nur an ihr? Gehirn hat sie«, murmelte sie vor sich hin. »Und er hat ja auch nur Gehirn ... nur Gehirn ... Gehirn ...« Und in das Wort legte sie ihren ganzen Kummer, ihre ganze Wut, ihren ganzen Gram.

An der Chaussee- und Linienstraßenecke machte sie Halt. Hier mußte er vorbeikommen. Jede Sekunde konnte er da sein, es war bereits Mittagszeit.

Sie bückte sich und stäubte mit dem Taschentuche ihre weißen Schuhe ein wenig ab.

Jemand beobachtete sie in dieser Stellung und sah ihren edel geformten, weißen Nacken und ihr tiefschwarzes Haar.

»Wünschen Sie was von mir?« fragte sie grob, als sie sich wieder aufgerichtet hatte.

»Sie sind ein angenehmer Schneck«, sagte der Mensch und ging weiter.

Über den Ausdruck mußte sie trotz ihrer Bedrücktheit unwillkürlich lachen.

Ah, da kam er ...

Sie stellte sich in Positur.

Er bemerkte sie nicht und wollte an ihr vorbei.

»Pst!«

Er wandte sich nicht um.

Da machte sie noch einmal und etwas stärker »Pst!«

Und diesmal mit Erfolg. Er schien doch den Laut an ihr zu kennen.

Er kehrte um, ging auf sie zu, kniff die Augen zusammen und beguckte sie spöttisch. »Du gehst wohl auf'n Maskenball?« fragte er statt jeder Begrüßung.

Was er für Freude hat, mich zu kränken, dachte sie. Laut aber sagte sie mit einem spitzen Ton: »Ja, ich gehe auf'n Maskenball!«

»Na also! Da wünsche ich viel Amüsement!«

»Gott mag's geben«, antwortete sie feierlich.

»'n schönes Kostüm – pikfein! Von wem hast du denn das? Ist er so freigebig?«

In dieser Minute wußte sie ganz bestimmt, daß ihr Gesicht weiß und fleckig, fleckig und weiß wurde. Sie hätte am liebsten ihre langen Nägel in seinen Hals eingegraben, um ihn zu würgen. Und sie wunderte sich über sich selbst, wie kaltblütig sie blieb, und daß sie Gewalt über sich hatte. »Dies Kostüm«, entgegnete sie geziert, indem sie ihre Stimme emporschraubte, »habe ich mir eigens zum Maskenball gespart, Groschen für Groschen.« Und mit einem ihm fremden Ausdruck fügte sie hinzu: »Ich will nämlich mit dir tanzen, wir beide müssen auf den Maskenball!« Und auf einmal lachte sie hell und silbern auf: »Du gehst als der milde Gärtner mit der Gießkanne in den Händen ... Du bist ja ein so milder Gärtner!« Und herausfordernd und schwärmerisch zugleich blickte sie ihn dabei an. Alles in ihr war aufgerührt. Sie schien darauf abzuzielen, ihn zu reizen. Sie vergaß alles, vergaß die Straße, die neugierigen Menschen, den Lärm der Lastwagen und Fuhrwerke.

»Du bist nicht bei Sinnen!«

»Nein, ich bin nicht bei Sinnen«, entgegnete sie ganz weinerlich und änderte plötzlich Ton und Haltung.

»Möchtest du nicht 'n bißchen schneller gehen?«

Und sie demütig: »Ich werde schneller gehen!«

»Du bist wohl vom Teufel?«

»Ja! ... vom lieben Teufel!«

Sie ist wirklich verrückt, total verrückt, schloß der Mechaniker und beschleunigte das Tempo.

Er sprach kein Wort mehr.

Die Josefa sang leise eine kaum verständliche Melodie. Es hörte sich an wie: »Maikäfer, fliege, dein Vater ist im Kriege, deine Mutter ist im Pommerland, Pommerland ist abgebrannt.«

Jetzt war es Fründel klar: das Weibsbild spielte ihm eine kleine, niederträchtige Komödie vor. Sie zog sozusagen eine neue Nummer auf.

Sie gingen schweigend die Treppen zu seiner Kammer hinauf. Oben fuhr er sie an: »Was willst du eigentlich?«

»Was ich will?« sie lachte hell auf, »dich ... dich!«

Ihre Hartnäckigkeit reizte ihn. »Mich hat niemand«, antwortete er überlaut. »Ich allein habe mich, verstehst du?«

»Und was ist das mit der Ingolf?«

»Das geht dich gar nichts an! Du scheinst dir einzubilden, ich sei dein Hund, den du an der Leine führst!«

Sie senkte die Augen. »Der Hund bin ich ... ich ... ich!« Dann fragte sie von neuem: »Wo hast du denn die ganzen Tage gesteckt? Hast du daran gedacht, wie mir zumute war, wie es in mir aussieht?«

»Nein, daran habe ich nie gedacht!«

Obwohl sie sich unter seinen Worten wand und krümmte, sah sie ihn nur bange und traurig an. Sie suchte ihn mit ihren stummen Blicken festzuhalten, als wollte sie in sein Inneres kriechen und ganz von ihm Besitz nehmen.

Er wurde ärgerlich. »Das muß nun ein Ende haben!«

»Ja, es muß ein Ende haben!«

Er horchte verwundert auf. »Wollen wir uns also in Ruhe und Frieden trennen?«

»In Ruhe und Frieden«, wiederholte sie, und es flirrte ihr vor den Augen.

Er traute ihr nicht. »Ist das dein Ernst?«

Da funkelte es in ihren Pupillen. Sie breitete plötzlich die Arme aus, umschlang ihn und rief: »Nein, nein, niemals! Du und ich ... ich und du.«

Er machte sich mit Gewalt von ihr los. »Du bist ja geisteskrank«, sagte er zornbebend. »Das sind ja Zwangsvorstellungen.«

»Zwangsvorstellungen ...?« murmelte sie, als verstünde sie das Wort nicht. Und nach einer Weile des Besinnens: »Meine Liebe – soll – soll eine Zwangsvorstellung sein?«

»Ja, nichts weiter als eine Zwangsvorstellung! Eine krankhafte Einbildung«, fügte er erklärend hinzu. »Wenn ich heute vertrocknet wäre – vertrocknet und du nicht die geringste Möglichkeit hättest, dies verdammte Besitzrecht auf mich geltend zu machen, so würdest du dich trösten, mein Kind! Und morgen schon würdest du dich auf einen andern stürzen ... Der alte Weiberscherz!«

Darauf schwieg sie. Sie blickte ihn lange an, und zuletzt verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln.

Sie lächelte – lächelte beständig wie verloren, während ihre Pupillen hin und her glitten.

Fremd und rätselhaft lächelte sie.


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