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X.

Es war um Mitternacht, als Thomas Bettina nach Hause brachte. Beim Einbiegen in die Lothringerstraße sahen sie schon von weitem, wie ein dunkler Schatten vor ihrem Hause sich gespenstisch hin und her bewegte. Als sie näher kamen, erkannten sie, daß es die Brose war.

»Was hat denn das zu bedeuten?« fragte Thomas. Und gleichzeitig bemerkte er Bettinas ängstlich auf sich gerichtete Augen.

Sie antwortete nicht.

Aber plötzlich hatten beide das bestimmte Gefühl, daß irgend etwas Folgenschweres sich ereignet haben müsse. Sie sprachen kein Wort. Sie schritten rascher vorwärts.

Jetzt hatte auch die Brose ihnen das Gesicht zugewendet und sie wahrgenommen. Sie kam auf sie zugeeilt.

»Brose, was ist denn?« fragte Thomas entsetzt.

Ihre Züge waren grau wie in Kalk getaucht. Sie vermochte zunächst keinen Laut hervorzubringen. Sie machte vergebliche Anstrengungen, brabbelte unverständliche Worte und sah nur mit entsetztem Gesicht zu ihm empor.

Bettina faßte ihre Hand.

»Liebe, liebe Frau Brose!« rief sie, während sie mutig alle Furcht und Angst hinunterschluckte.

Allmählich erst fand die Brose ihre Fassung wieder – ihre Starre löste sich.

»Nämlich ... nämlich ...« stotterte sie, »die Josefa« – und auf einmal fing sie bitterlich zu schluchzen an – »die Josefa hat ... hat ... hat sich und Fründel umgebracht ...«

»Wa-a-a-s!«

Er klammerte sich an die Bettina. Sie fühlte, wie er sich nur mit Mühe aufrecht hielt.

»Umgebracht? ... Umgebracht ...?«

Er stierte sie an.

Sie nickte schluchzend.

»Das ist ja nicht möglich«, flüsterte er, »das ist ja undenkbar!«

Und nun herrschte eine Todesstille. Sie hörten ihre Herzen pochen.

Gevatter Hein schritt neben ihnen. Er hatte eine Leichenbittermiene aufgesetzt und trug einen Frack mit langen Schößen. Er grinste beständig.

»Von wem wissen Sie es denn?« fragte Thomas endlich dumpf.

»Die Liers war hier«, antwortete sie weinend, »sie sind alle bei der Liers!«

Er richtete sich schwerfällig auf. Aus dem Reiche der Freude in die Gefilde des Todes, dachte er und fuhr sich über die Augen. Sein Körper erschauerte.

»So gehen wir auch dahin!«

Er sagte es kaum hörbar.

Sie schleppten sich die wenigen Straßen vorwärts. Wie Blei lag es in ihren Gliedern.

Bettina hörte, wie zu ihren Häupten die Fittiche des Todes rauschten.

Unter ihren Tritten knarrte die Treppe in unheimlichem Geräusche.

Thomas klopfte kaum hörbar.

Die Hebamme öffnete.

»Ah, da sind Sie!« machte sie heiser und reichte Thomas die Hand, und wieder sah er wie bei der Brose in vergrämte und verstörte Züge.

Sie traten ein.

Im äußersten Winkel kauerte Liers. Er sah nichts und hörte nichts. Er hielt die Hände vor sein Gesicht gedrückt und stöhnte in sich hinein.

Am Tische hockte die Ingolf und hatte den Kopf auf die Platte gedrückt. Man wußte nicht, ob sie weinte.

Die Liers legte die Hände auf ihre Schultern und sagte in einem fort: »Fräuleinchen ... Fräuleinchen ...« Aber sie bekam keine Antwort.

Eine Gruppe für sich bildeten die Lissauers und Blinsky.

Die Lissauer zog Thomas in eine Ecke. »Wirr ... wirr sein ausgewiesen ...« Dabei strich sie sich beständig mit ihren weit gespreizten Fingern über die flache Brust. »Wirr ... kennen jetzt betteln gehn ... heren Sie?« ... Sie stellte sich auf die Zehen und beugte sich an sein Ohr. »Die andern haben wenigstens ihre Ruhe ... die sehn und heren nichts mehrr. Aber wirr ... was machen wirr?« ...

Sie war wie gebrochen. Sie stieß alles im Ton der Anklage hervor. Sie dachte nur an ihr eigenes Elend.

Als Lissauer auf sie zutrat, duckte sie sich, als ob sie fürchtete, geschlagen zu werden.

Thomas machte sich von ihr los. Sie verursachte ihm grenzenlose Pein. Eine Stimme in ihm rief: Das ist das Leben! ...

Was war das für eine Nacht, die über die Menschen in diesem Zimmer hergefallen war ... Sie wisperte und raunte ihnen schreckhafte Dinge zu ... sie rumorte und raschelte, als ob sie schwarze, schwere Seide um sich gelegt hätte ... man hörte deutlich, wie die Falten ihres Gewandes knitterten ... Zu allen kam sie herangeschlichen und trug das Antlitz des Todes ... Sie beugte sich über alle, als wollte sie sie umschlingen und an sich reißen ... Sie kroch zu ihnen heran und streckte ihre dünnen Arme nach ihnen aus –

Wieder klopfte es.

Sie fuhren in die Höhe.

Es war Heinsius. Alle drängten auf ihn zu und sahen voll Spannung in seine vom Tode gezeichneten Züge. Denn wie eine Verkörperung des Todes erschien er ihnen. Aus seinem Gesicht, das nur noch Haut und Knochen war, traten die Augen in übernatürlicher Größe und krankhaftem Glänze hervor. Aus seinen dünnen, schief gezogenen Lippen war jeder Blutstropfen geschwunden. Um die Mundwinkel zuckte es. Seine Stirn war leuchtend weiß.

Auch die Ingolf hatte sich jetzt erhoben. Das große, starke Mädchen sah ihn mit leeren, erloschenen Augen an.

Er nahm ihre Hand.

»Ich bringe Ihnen einen Gruß. Sie sollen nicht weinen. Sie sollen aufrecht blicken. Er wird nicht sterben, läßt er Ihnen sagen, obwohl sein Tod für Sie eine Befreiung sein würde. Er habe kein Glück in sich und könne keins geben.«

Heinsius hielt inne.

»Was macht ihr denn solche Gesichter«, rief er und zwinkerte. Er sah aber aus, als ob er ein Lächeln unterdrücken wollte.

»Dieser Mensch hat Größe, auch wenn ihm das Messer an der Kehle sitzt. Von der Josefa meinte er, sie hätte von sich aus recht gehabt. Er hätte keinen Zorn gegen sie ... Was wollt ihr also? Diese Menschen haben sich erfüllt!«

Niemand antwortete ihm.

Aus den Augen der Ingolf drangen große, erlösende Tränen.

»Sie glauben, er wird am Leben bleiben?« flüsterte sie ihm zu.

»Ich glaube es!«

Die Ingolf wandte sich ab. Niemand sollte ihr strahlendes Gesicht sehen.

Die Liers war zu ihrem Manne gegangen und legte ihre breite Rechte in sein glänzendes Haar.

Er rührte sich nicht.

»Woher wissen Sie das alles?« fragte Blinsky schüchtern.

»Ich war gegen Abend zufällig zu ihm gegangen. Ich hatte vorher keine Ahnung. Man hatte ihn bereits ins Krankenhaus gebracht. Sie liegt auf der Morgue. Ich traf ihn bei klarem Bewußtsein. Er ist selbst im Angesicht des Todes groß, mutig und stark wie immer.« Und indem er sich wieder zur Ingolf umdrehte: »Als ich schon in der Tür stand, nannte er noch einmal Ihren Namen, Fräulein!«

Wieder erhellten sich die Züge des Mädchens.

Heinsius nahm seinen Hut. »Auch die Nacht wird vorübergehen«, sagte er in eisiger Ruhe und entfernte sich langsam.

Die anderen folgten ihm.

In diesem Augenblick erhob sich Liers. »Heinsius!« rief er heiser.

Der Volksschullehrer wandte sich um. »Was ist Ihnen denn?« fragte er und sah verwundert auf den Menschen, den der Schmerz verzerrt hatte.

»Ich will wissen, ob die Josefa noch lebend war, ob sie ...«

Liers brach ab und senkte den Kopf.

»Niemand hat sie lebend angetroffen«, erwiderte Heinsius.

»Hm«, machte der andere. »Ich danke!« Dieses »ich danke« hatte etwas Erschütterndes.

Der Volksschullehrer streifte ihn mit einem Blicke des Mitleids und lächelte jetzt wirklich. Alles in diesem Zimmer kam ihm so irdisch und zwerghaft vor. Es war seinem Empfinden nach ein so verkrüppelter, elender Schmerz, der sie herabzerrte und alle Weichseligkeiten in ihnen auslöste. Sie hatten ein Grauen vor dem Gevatter Hein, während er mit ihm auf »du und du« stand und jede Stunde auf seinen Besuch gefaßt war. Er nickte dem Dichter flüchtig zu und eilte den übrigen nach, die bereits im Hausflur warteten.

Auf einem der Treppenabsätze blieb er plötzlich stehen und dachte ein paar Sekunden darüber nach, wer eigentlich stärker unten durch sei – er oder sie? Er kam zu dem Schluß, daß seine Rechnung stimmte.

Dennoch ließ er den Mundwinkel tief herabhängen. Seine Augen wurden schmal und trübe. Aber sofort raffte er sich auf. Du bist und bleibst ein Hornvieh, raunte er sich zu. Willst etwa auch sentimental werden – he? ...

Er hustete und spie aus. Er hatte im Munde einen blutigen Geschmack, den er eine ganze Weile auskostete. Dann bekam sein Gesicht einen heiteren Glanz. Seine kranke Brust weitete sich. Er lächelte in Seligkeit. – – –

»Tom«, sagte Bettina, als er ihr vor dem Hause Gute Nacht wünschte, »denke an dich.« Und flüsternd wiederholte sie: »Denke an dich.«

Sie litt unsagbar.

»Tom, wenn diese Nacht erst vorüber wäre!«

Er wandte sich an die Brose.

»Wachen Sie bei ihr«, bat er.

Die Frau nickte schmerzhaft.

Er nahm die Hand Bettinas.

»Bettina, ich muß fort – – bevor noch der Morgen graut. Ich brauche auch eine Weile Einsamkeit ... Stille ... Nur so kann ich mich selbst finden.«

Sie sah ihn großäugig an und nickte lautlos.

Sie blickte ihm noch mit halb vorgebeugtem Körper und liebenden Augen nach, als er längst um die Ecke gebogen war. Ihre feinen Nasenflügel bebten. Sie lauschte auf seine verhallenden Schritte.

Wie ein schwerkrankes Kind zog die Brose sie behutsam mit sich fort. – – –

Als Thomas zu Hause angelangt war, trat er an das Bett seiner Frau. Er glaubte, sie schliefe. Aber sie saß aufgerichtet mit verschränkten Armen da.

Das Licht schwankte in seiner Hand. »Du schläfst nicht?«

»Nein, ich habe auf dich gewartet!«

»Weißt du es denn?«

Sie schüttelte den Kopf. Er überlegte eine flüchtige Minute, ob er ihr es sagen sollte.

»Wie siehst du denn aus?« rief sie. »Du siehst ja wie versteinert aus! Was ist denn los?«

Sie sprang aus dem Bett.

»So rede doch, Thomas!«

Da sagte er ihr alles. Seine Stimme schlug schluchzend über.

Sie hörte ihm gespannt zu. Ihre Pupillen schienen sich zu erweitern. »Sie hat sich umgebracht«, murmelte sie beständig, als könnte sie es nicht fassen, als begriffe sie es nicht völlig. Und wie ein Mensch, der eine Gehirnerschütterung davongetragen, wiederholte sie fortwährend: »Sie ... hat ... sich ... umgebracht ... umgebracht ... umgebracht ...«

Nun reute es ihn tief.

»So nimm dich doch zusammen!« bat er.

Ein rätselhafter, schwärmerischer Ausdruck beherrschte sie. Ihre Lippen bewegten sich beständig. Etwas Dunkles und Geheimnisvolles ging in ihr vor. –

Ganz vorsichtig, als fürchte sie, ihm wehe zu tun, streichelte sie seinen Arm. Und immer wieder entrang sich ihr dieses: »Sie hat sich umgebracht ...«

Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen. Jetzt kommt wieder ihr Anfall, dachte er, und ich bin daran schuld. Warum mußte ich sie mitten in der Nacht aufregen!

»Du sollst keine Furcht haben«, brachte sie weinerlich hervor und legte sich wieder in das Bett. Und ganz demütig sagte sie: »Thomas, setze dich zu mir, hörst du? ... Bleibe bei mir! ... Bleibe ein Weilchen bei mir!«

Er gehorchte und rückte einen Stuhl an ihr Bett. –

Sie nahm seine Hand, die sie festhielt, schloß die Augen und lächelte seltsam.

Aber ihm kam dieses Lächeln leidvoll und krank vor. –

In kurzen Zwischenräumen schlug sie die Augen immer wieder auf, als müßte sie sich überzeugen, ob er noch da wäre. Und jedesmal stieß sie dann wieder hervor: »Sie hat sich umgebracht ...«

Als sie endlich einschlief, drang die Wintersonne, von grauen Nebeln eingehüllt, durch die Fensterscheiben, kahl und freudlos. – Ganz sanft entzog er ihr seine Rechte.

Lange sah er sie traurig an, wie sie zusammengekauert und in Angst dalag. Dann schlich er in das nächste Zimmer und schrieb ihr in großen, geradlinigen Buchstaben, daß er fort müßte – daß es ihn nach Alleinsein hungerte ...


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