Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Wie aus Mathilde Leid hervorsah, wie aus einer Seherin

Es war im März. Schnee war gefallen in losen, breiten Flocken, die Pferde und Wagen und Menschen so reich beschütteten, daß alles eingehüllt lief und kein Ton hörbar war. Und die Straßen waren patschig und schwarz, und alles konnte nur langsam vorwärts. Im Pferdebahnwagen saß eine Frau mit hellen, großen Augen, aus denen das Leid hervorsah, wie aus einer Seherin. Sie hatte ein graues Tuch um Kopf und Schultern, das sie unterm Kinn zugekniffen, und trug eingehüllt ein blondes Mädchenkind eng und ängstlich im Arm, ein Leidenskind, das sie fest und sicher hielt, und auf das sie kaum niedersah, so grub das Leid in ihren Gedanken und machte sie groß und einsam und versunken. Daß sie die neugierigen Städter nicht sah, feine Damen, die ihr gegenüber saßen, feine, junge Referendare mit Juchtenhandschuhen, die gerade hereintraten und lachend sich von einem Kneipabend unterhielten, einige Schüler in bunten Mützen, die heimlich sich einen Witz erzählten, niemand sah – und doch dann ein jedes dieser feinen Leute unwillkürlich einen Augenblick stumm wurde, um sie anzusehen, die Leidensgröße heimlich ahnend – zu ihr hinblickend, wie zu einer stummen, starren, schauenden Madonne – so seltsam umhüllte das ärmliche graue Tuch den hohen Mutterkopf und das bleiche Kind in ihrem Arm, so groß und seherisch staunte ihr Auge – gefangen in ihrem ewigen Leidensgrunde, ohne zu wissen, wo sie sonst war. Wie Mathilde ausstieg, nahm sie schnelle Schritte. Sie war eine echte Arbeiterfrau. Sie lief in die Klinik und saß auch so stumm im Vorzimmer, wo man ihr das Kind abgenommen. Die freundliche Schwester hatte ihr dazu ein Trostwort gesagt. Mathilde wartete in Bangen. Man war bemüht, dem Kinde zu helfen. Der Professor tat es gern. Es war ein kleiner, jüdischer Herr, der einen weiten Ruf hatte, und liebevoll und sorglich das Augenlicht geben wollte, weil das Kind blind war, und es standen Gehilfen um ihn in weißen Schürzen. Wie die Mutter dann mit dem verbundenen Kinde heimkam, war sie zärtlich auch zu den andern. Sie empfand die Hoffnung wie ein Geschenk. Einmal im Zorn, wie sie an ihr Leben gedacht im Streit mit Simoneit, als er roh war, und sie zufällig das Mädchen angesehen, das auch Mathilde hieß, wie sie, und das auch blond und ihr ähnlich war, da hatte sie streng gesagt: »Besser, se sieht nee, als se erlebt und sieht, was ich seh.« Aber nun der eilfertige Professor ihr freundlich und leutselig zugesprochen: »Es wird sehen«, dankte sie ihm fast unterwürfig, und war nach Hause gelaufen, fast wie eine Junge und war zärtlich. Es war eine Hoffnung als für ihr Leben, so schien's. Und sie war auch einmal ganz gütig mit Simoneit, der es empfand und an den Tag dachte, lange wie an eine lichte Aussicht. Aber die Hoffnung war kurz, und schließlich hatte Mathilde wieder in Streit und Zorn gesagt: »Besser, se lebt nee, als daß se erlebt, was ich erlebe.« Denn Simoneit hielt es längst auch mit mancher andern. –

Mathilde – das Kind – lag totkrank. Wie es ausröchelte, es war in den Winternebeltagen von einer Lungenentzündung plötzlich befallen worden und von Krämpfen, saß Mathilde einsam am Bette und weinte nicht. Es war spät nachts. Simoneit trappte laut ins Haus. Er war angeheitert. Er fand Mathilde über das Bett gebeugt.

»Was is denn?« sagte er zur Besinnung gebracht.

»'s stirbt«, sagte sie starr.

»O Jeses – Jeses!« er sank plötzlich zusammen – er hatte ihre Hand ergriffen und starrte auf das röchelnde Kindergesicht, das mit geschlossenen Augen dalag.

In den andern Betten atmeten die beiden Jungen rosig verschlungen.

»Ach grußer Gott und Vater«, sagte er dumpf.

Mathilde ließ ihm ihre Hand – sie rührte sich nicht. Sie weinte nicht.

Er begann wie ein Kind zu schluchzen.

»Ach nee, Mathilde, daß ich nee eher kam«, stöhnte er und sank in sich hinein und begann sich anzuklagen:

»Was ich bin! Was für ein Elender ich bin!« schluchzte er und empfand plötzlich alle Schmach, die er Mathilde längst angetan.

»Sei stille – weck de Jungen nee«, sagte sie ratlos.

Und er ließ ihre Hand nicht los und starrte wieder mit ihr nieder auf das Sterbende.

»Ach, du großer himmlischer Vater«, sagte auch sie nun. »'s is ni leichte, zu leben.«

»Ach, liebe, gude Mathilde«, begann er in sich zusammengesunken. »Wenn mir a Arzt hulten! Wenn mir a Arzt hulten«, und er war nun zu laufen bereit und war eilig und schon an der Tür.

Mathilde stand im Stübel am Bette, auf das eine kleine Lampe dämmerigen Schein warf.

»'s wär ni viel zu helfen,« sagte sie, »der Dukter sagt' es.«

Und er starrte an der Tür nieder und kam leise in die Stube und sah vor sich und setzte sich an den Tisch und weinte bitterlich, indessen Mathilde über das Kind gebeugt, gespannt wachte, mit aufgeweiteten Augen, die letzten Atemzüge der Kindesseele fast sinnlos belauschend.


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