Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Die Heintken bringt Mathilde eine junge Schwester

Wer kann sagen, ob eine Menschenseele die andere liebt? und wer kann die hohe Gestalt der Seele zeigen, die aufgerichtet, wie ein Baum, ganz unsichtbar und doch vernehmlich ins Licht sich hebt mit breiter Krone oder gar windgezaust und blatt- und astberaubt dasteht, ein armseliges, dürftiges und verwehtes Ding, das kaum noch in der Scholle ärmlich haftet und kummervoll mit elendem Gezweige hineingreift in die Ätherluft? Wer kann sagen, ob eine Seele mit der andern sich innig verwob, und wo die Schönheit geschrieben steht im Luftkreis, die ihr eingezeichnet wurde, der einen, die blieb, wenn die andere welkte und hinstarb? welche Wunde und welche Kraft aus der gestorbenen Gestalt in die andere kam, daß die nun reich zurückblieb, gebeugt und doch höher als ihre Schwestern, die im Glanz leben ohne Schmerzen – aber auch ohne Erfüllung – gebeugt und gesegnet zugleich von dem ewigen Leiden, das wie Spatenstiche den Grund der vollen Lebensgestalt ergraben, uns zum Staunen und dem Menschen zum Halt.

Arm war Mathilde immer geblieben. Ein Fabrikmädel war sie. Jahre gingen ins Land – sie war nichts anderes. Sie ging zu ihrer Arbeit in das lärmende Haus mit den mächtigen Fenstern und den weiten Höfen. Sie tat immer dieselbe Arbeit, die sie gewohnt war. Sie fing ihre Fäden und achtete und paßte, daß keiner riß, den sie nicht gleich mit dem feinen Häkchen anzog und eilig knüpfend ins Gewebe schlüpfen ließ ohne sichtbaren Makel. Sie tat ihre Arbeit. Es war ihr wohl dabei. Sie versank in das Klare und Sorgenlose. Sie lebte. Wer an ihrer Arbeitsstelle vorüberging, sah sie, wie sie versunken war. Sie sah kräftig aus. Ihren blonden Haarschwall trug sie hoch über dem Kopfe in einen Knäuel gebunden, und die blonden Härchen waren achtlos um Stirn und Schläfe. Ihre Augen waren sicher, und sie sah einen an wie eine Vereinsamte – so nebenher mit Ruhe und ohne alles Verlangen – kaum recht verständlich, ob noch Verächtliches, oder nur eine ferne Trauer den Blick leer und eilig machte. Und tief und unbegreiflich zugleich. Übrigens sah man Mathilde an, daß sie in ihrem Kreise geachtet war. Die jungen Mädchen, die erst eingetreten waren, staunten auf sie, weil sie streng und stolz ging, und selten mit andern, und freundlich sprach, wenn sie zu reden Grund hatte – geordnet und säuberlich aussah auch aus der Arbeit. Sie dachten, das ist eine besondere. Und weil sie kräftig aussah und gesund, und man sie sonst nicht sah, als in der sicheren Anmut ihren gewohnten Fleißes oder auf dem Heimweg, wo sie sich nicht groß umblickte. Andere waren laut und lachten frech, die älteren, und sahen liederlich und nachlässig aus. Und es war, wie ehedem für Mathilde, noch für jede neue. Auch in den Schenken blieben die Männer dieselben, die auf neue, junge, die hereinkamen wetteten, und neue Eifersuchtskämpfe umstritten die, die verlockend waren. Und manch eine sah auf Mathilde heimlich, wie sie gewohnt einherkam und ging, und wie sie auch Werkmeister und Portier mit Achtung grüßten, und wünschte ins Unbestimmte eine Seele, die so aufragte. Denn ein Verborgenes und doch so Offenbares ist das Rätsel, das jeder mit sich trägt. So offen und so verborgen ist die Grundgewalt, mit der ein Auge ins andere dringt, und ein Wort und Wesen Tausenden ein stilles Muster ist, ob es auch nur eingeht wie ein flüchtiger Sonnenstrahl.

Mathilde war gar nicht mehr jung. Dreißig mindestens. Unter den Männern, die sie umschwärmt hatten, waren manche nicht mehr im Orte. Saleck lebte mit einer kleinen, unscheinbaren Frauensperson, die auch zum Kinde nicht sonderlich Mutter war. Sie trafen sich unterwegs, und Mathilde sah ihn manchmal gemessen an, daß er dann heimkam und nicht duldete, wenn die Kleine nicht fein und zärtlich mit dem Jungen war. Der Junge war nun beinahe neun Jahre, blond und kräftig und ein gesundes Wesen und immer noch Vaters Stolz – der alt geworden war und bleich aussah, weil sein Rücken mit den Jahren gedrückter wurde. Aber Mathilde hatte ihn nur angesehen ohne Anspruch. Sie war seltsam. Sie ließ nun die Dinge in der Welt noch mehr geben, ohne zu wünschen. Sie nahm teil ohne rechtes, klares Verlangen. Nie kam ihr der Gedanke, das Kind für sich zu wollen. Es war so allerlei, das wie ein Leichenfeld um sie lag. »Es ist alles flüchtig und nichts besteht«, sagte sie oft, wenn jemand mit ihr sprach. »Und was man hat, hat man doch nicht. Und man selbst ist nichts.« Es klang aus Dominicks Munde, der längst stumm war, in ihrem.

Merkwürdig, daß sie jetzt manchmal richtig sich Gedanken machte. Sie war einmal darauf verfallen, weil sie oft in ihren Näharbeiten daheim mit Dominick zusammenschien. Er kam, sie sah ihn leibhaftig, und er redete zu ihr, Tiefes und Hartes. Aber oft seltsame Gedanken über das arme Leben. Sie saß und wußte dann, was er gesagt hatte – Wort für Wort, wenn sie gesessen und die Nadel in die Luft gehalten, lange seiner Rede zugehört und seinem Bilde zugesehen hatte, bis es im Dämmerscheine der Stube verrann. Keiner war ihr jemals so nahe. Sie dachte nun oft, daß sie nur ihn geliebt hatte, niemand sonst. Niemand erfüllte so ihr Wesen. Und sie wunderte sich, daß keine Sehnsucht in ihr war, trotzdem. Sie sah nicht zurück. Das war es. Sie hatte vergessen, wie sie hohläugig und vergrämt lange ihre Arbeit getan, traurig und geändert und ermattet gelebt hatte, ehe sie sich aufraffte, ohne Verlangen zu sein. Keine Wünsche hatte sie. An die Heimat dachte sie gar nicht. Und daß sie Eltern hatte, hatte sie fast ganz vergessen. Es fiel ihr nicht einmal ein, daß sie Dominick fast wunschlos angesehen, wie er lebte, und daß sie ihn geliebt hatte, ohne zu begehren, so in Verklärung sah sie ihn, und so ging er nur in ihr um, als sähe sie aus seinen Augen und spräche mit seinem Hauche. Das war es, daß die andern sie oft ansahen und auch empfanden, daß eine Gestalt aufragte, die doch gebeugt war, und nichts hoffte.

Einmal wurde Mathilde herausgerufen aus der Arbeit. Draußen am Tore stand ein junges Ding, nicht kräftig, blaß, und kaum jungfräulich, ärmlich und schüchtern. Die Heintken stand dabei, beide harrten. Beiden sah man eine Betteldemut an. Mathilde kam. Es war ein ruhiges, gleichmäßiges Sichsehen und Begrüßen. Die Mutter war zärtlich, was Mathilde hinnahm. Die Junge, eine Stiefschwester, blickte Mathilde mit einem Schein von Scheu und Ehrfurcht an.

»Ich breng d'r se hiehar«, sagte die Mutter.

»'S is grade ni viel Arbeit«, sagte Mathilde.

»Nu ebens, ebens,« sagte die Heintken, »bei ins erscht recht ni!«

»Martel«, sagte Mathilde, und war zu der Jungen freundlich, daß die ihr die Hand reichte und auch leicht zu lachen wagte. »Willst du hie bleiben?« sagte Mathilde, und sie nahm ihren Kopf und sah sie an. Es war ihr plötzlich angenehm, daß sie mit einer Schwester wohnen könnte.

»Ja, ja,« sagte die kleine, junge Fünfzehnjährige, »behalt mich ock hie.«

Mathilde dachte an alles zurück und sagte nichts, während die Mutter in sie einredete und hastig allerlei Elend auskramte. Auch, daß Heintke gestorben wäre und sie jetzt ihrer Hilfe bedürfte, wenigstens für die Junge. Mathilde sah ohne Bewegung die Mutter an. Sie erlebte etwas aus längst vergangenen Tagen, wo sie jung war und nichts kannte.

»Wartet, ich war' mich ausbitta«, sagte sie nun wieder ganz im alten Tone ihrer Heimatssprache. Dann gingen sie zu Mathilde, die längst in Dominicks Stübel in der Mühle wohnte. Und die Mutter wollte erzählen, was alles im Dorfe umgegangen, auch daß Hallmann die Guste oben geheiratet und jetzt selber schon ein Bauer wäre; daß es die Guste schlecht hätte, und die alten Hallmann noch im Hause wären. Beide – Mann und Mutter – hätte sie auf dem Halse.

»O meins, meins«, sagte Mathilde und hörte nur von ferne und sah Marta, die Junge an, die die Mutter reden ließ. »Sihste, Martel,« sagte Mathilde, »arm bin ich au', aber zu leben hot ma – und du bist au' gruß geworn. – Nee – du – ich hätt's ni gebucht! – Nu sag mir ock! – wie kamt ihr denn daruf?« fragte sie versonnen, während sie eine Mehlsuppe machte im engen Ofenrohr, einige Scheibchen Wurst dazu holte und das Brot mit dem Butternapf auf den Tisch im armen Stübel stellte.

»Se tat ni gutt«, sagte plötzlich die Mutter rücksichtslos. »Nu se aus der Schule war, konnt' ich se nee d'rwehren! Se tat ni gutt – se hot Mucka – se is a wing liederlich – das Mädel –«

Marta bekam nasse Augen und Scham stieg ihr auf. »Und parieren muß se,« sagte die Heintken hart, »au' dir!« – »Verstihst de, Mädel?« fragte sie nun scharf, zur Jungen gewandt, daß die weinte.

»Brauchst nee flennen,« sagte Mathilde ruhig, »ma werd vernünftig, ma braucht nischt dazu tun, es werd schun gihn.«

Und sie aßen und sprachen wenig, nur die Mutter, die sich lächerlich ordentlich gemacht hatte, kam sich sehr wichtig vor, weise Lehren neu hervorzukehren und nahm dann schließlich die Junge in Schutz, weil es im Grunde auch eine zu elende Welt wäre, die viel schlechter wäre als zu ihrer Zeit, und sie schalt und plapperte – während Mathilde tausend Bilder und Gedanken stille kamen und sie immer wieder nur Marta ansah.


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